Unter der Herrschaft des Soja
Landbesitz und politische Macht in Paraguay von Maurice Lemoine
Ein eisiger Wind schneidet in die Gesichter. Es ist der 24. August – mitten im Winter also. Die 108 Familien, die schon viermal durch die Polizei von diesem Land vertrieben wurden, nehmen das Gut Naranji To einmal mehr in Besitz. Unter dem Schutz von ein paar Bäumen, inmitten von Kleiderbündeln und anderen Habseligkeiten spannen sie löchrige Zeltbahnen auf. „Von morgen an bauen wir hier wieder unsere Nahrung an“, verkündet ihr Anführer Jorge Mercado mit fester Stimme, obgleich auch ihn die Erinnerung an die letzte, besonders brutale Vertreibung immer wieder einholt: „Die Polizisten haben 184 Hütten niedergebrannt! Sie haben unser Vieh und die Hühner gestohlen und die Schweine getötet.“
Im Jahr 1967 hatte Diktator Alfredo Stroessner dieses Stück Land einem Deutschen namens Erich Vendri geschenkt, dessen Kinder Reiner und Margarita es geerbt haben. Doch tatsächlich gehörte es dem Staat. „Wir schauen auf den Ämtern nach, was legal und was unrechtmäßig erworben oder übertragen wurde“, erklärt Mercado. „Wir haben inzwischen jahrelange Erfahrung, wie man Stück um Stück den Grundbesitz des paraguayischen Staates zurückgewinnt.“ Während er sich über die Habgier der „terratenientes“ (Großgrundbesitzer) und „sojeros“ (Sojaproduzenten) auslässt, wird das provisorische Lager langsam von Dunkelheit eingehüllt. Rund um rot glühende Kohlebecken hocken die Bauern und nippen an ihrem Mate-Tee.
Zwei Tage später wird die Polizei sie mit der üblichen Brutalität erneut vertreiben. In Paraguay, einem Land mit 6,7 Millionen Einwohnern, besitzen etwa 300 000 Bauernfamilien kein eigenes Land. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich hier das Modell des „latifundismo“, des privaten Großgrundbesitzes, endgültig durchgesetzt. Unter der Herrschaft des Diktators Stroessner (1954–1989) wurden beträchtliche Stücke „freien Landes“ (wie Naranji To), die eigentlich dem Staat gehörten und nach dem Gesetz für die Agrarreform vorgesehen waren, an Komplizen, Offiziere und Gefolgsleute des Regimes verteilt. Darüber hinaus gelangte Ende der 1970er Jahre eine neue Errungenschaft aus dem Süden des Nachbarlandes Brasilien über die Grenze: die industrielle Landwirtschaft mit ihrem Vorzeigeprodukt Soja, die die ländlichen Gebiete völlig veränderte.
Die kleinen und mittleren Bauern, die bis dahin das Land ernährt hatte, wollten die Verbreitung dieser Exportkultur verhindern. Doch es gab viele Wege, die Störenfriede zu vertreiben. „Am einfachsten ist es, ihnen ihre Felder abzukaufen“, meint der Ökonom Luis Rojas. „Man bietet dem Bauern so viel Geld, wie er noch nie im Leben gesehen hat. Er glaubt, es sei ein Vermögen, zieht in die Stadt, gibt dort alles in drei bis vier Monaten aus und landet dann in den wachsenden Elendsvierteln, weil er keine Arbeit mehr hat.“ Derweil werden die Sojapflanzungen mit Stacheldraht eingezäunt.
Ganze Gemeinden sind wegen der Verwüstungen durch die großflächige Entwaldung zur Umsiedlung gezwungen. Die aus der Luft versprühten Pestizide gelangen auch auf angrenzende Felder und verschmutzen das Wasser. Das Vieh muss kilometerweit laufen, um noch Weidegründe zu finden, es frisst die letzten Grasbüschel oder brüllt verzweifelt nach Futter. Die Menschen leiden unter Vergiftungssymptomen. Schließlich verscherbeln sie aus Verzweiflung ihre kleinen Äcker an die großen Nachbarn. Auf diese Weise schlucken die Sojaplantagen die Dörfer und Weiler.
Im Jahr 1996 wurde erstmals die genetisch veränderte Sojabohne „Roundup Ready“ von Monsanto in Argentinien angepflanzt. Von hier begann sie auch ohne amtliche Genehmigung – begleitet vom Einsatz starker umweltschädigender Pestizide – ihren Siegeszug durch Brasilien, Bolivien und Paraguay.1
Nur ein paar Unbeugsame versuchen dennoch, ihre Rechte geltend zu machen. „Die Regierung tut dann immer so, als würde sie ihre Forderungen erfüllen, und siedelt sie um“, schimpft Perla Álvarez vom Verband ländlicher und indigener Arbeiterinnen (Coordinadora Nacional de Organizaciónes de Mujeres Trabajadoras Rurales e Indígenas, Conamuri). „Sie werden mitten in einen Wald verfrachtet, den sie roden sollen, 80 Kilometer von der nächsten Straße entfernt, ohne Gesundheitsstation, ohne alles.“
Wenn dann einige immer noch Widerstand leisten oder die fruchtbaren Äcker, die man ihnen abgenommen hat, wieder besetzen, lässt das Agrobusiness seine Hunde los. „Seit dem Beginn der Demokratisierung im Jahr 1989 bis heute sind 116 Fälle aktenkundig, in denen Anführer oder Aktivisten von Bauernorganisationen ermordet wurden oder verschwunden sind“, sagt Rechtsanwalt Hugo Valiente von der paraguayischen Menschenrechtskoordination (Codehupy). Nicht nur Polizisten, auch die „matones“ (auf Deutsch etwa: Totschläger) der Großgrundbesitzer agieren ohne Angst vor Strafverfolgung. Und die Sojafelder kriechen endlos weiter, überall hin.
Die Großgrundbesitzer sind äußerst einflussreich und gut organisiert. Sie haben eine Hausmacht in beiden großen Volksparteien: der konservativen Colorado-Partei (Asociación Nacional Republicana, ANR), die von 1946 bis 2008 ohne Unterbrechung herrschte und seit 2013 wieder die Regierung stellt, und der liberalen Blanco-Partei (Partido Liberal Radical Auténtico, PLRA).
Die Terratenientes leben auf großem Fuß. So besitzt der brasilianische „Sojakönig“ Tranquilo Favero 140 000 Hektar Land in acht Verwaltungsbezirken Paraguays. Zu seinem Konzern gehören neun Unternehmen, unter anderem für Saatgut, Dünger und Pestizide, Landmaschinen und Kredite sowie ein privater Hafen am Fluss Paraná. Dann gibt es noch die acht Mitgliedsunternehmen des Nationalen Genossenschaftsverbands (Unicoop), die zusammen mehr als 305 000 Hektar kontrollieren. Und die Espiritu-Santo-Gruppe aus Brasilien verfügt über 115 000 Hektar. Nach der Landwirtschaftszählung von 2008 besitzen nur 2 Prozent der Grundbesitzer 85 Prozent des gesamten Ackerlandes in Paraguay.
Zahlreiche multinationale Konzerne picken sich die Rosinen aus diesem Kuchen. Die US-Multis Cargill (20 Silos, eine Fabrik, 3 Privathäfen),2 Archer Daniels Midland (30 Silos, 6 Privathäfen) und Bunge (5 Silos) sowie Louis Dreyfus aus Frankreich und Noble aus Hongkong sind für fast 40 Prozent der paraguayischen Exporte verantwortlich. Die deutschen Firmen BASF und Bayer, Dow (USA) und Nestlé (Schweiz), Parmalat (Italien) und der niederländisch-britische Konzern Unilever, um nur die wichtigsten zu nennen, vervollständigen die Abschöpfungskette.3 Nebenbei bemerkt: Obwohl Großgrundbesitzer und multinationale Konzerne 28 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, beträgt ihr Steueraufkommen lediglich 2 Prozent des paraguayischen Staatshaushalts.4
Unter ständigem Gehupe ziehen endlose Konvois von Landmaschinen und Lastwagen über die Straßen. Die Sojaplantagen breiten sich auch auf das Weidegebiet der „ganaderos“ aus, der Rinderzüchter mit ihren 14 Millionen Tieren, die mittlerweile in den abgelegenen Chaco im Westen des Landes abgedrängt wurden. Die Anbauflächen für das „grüne Gold“ sind von 1,5 Millionen Hektar im Jahre 1993 auf 3,1 Millionen gewachsen. Paraguay ist zum viertgrößten Sojaexporteur der Welt aufgestiegen. Fast 60 Prozent der Ernte gehen als Tierfutter oder zur Herstellung von Agrokraftstoffen nach Europa.
Bei alledem sind die Bauern keineswegs immer nur fügsam. „Wir haben schon viel Land zurückbekommen“, berichtet Esther Leiva, Landeskoordinatorin der Kleinbauernorganisation Lucha por la tierra (OLT). „Mehr als 300 unserer Mitglieder sind heute an Landbesetzungen in Itapúa und Caazapá beteiligt.“ Zwischen 1990 und 2006 kam es im Rahmen von 980 Auseinandersetzungen zu 414 Besetzungen. Sie sind das beliebteste Druckmittel, um die Behörden zu „sensibilisieren“. Die Landbesitzer sprechen gern von „Invasionen“ und veranlassten 366 Vertreibungen und 7 346 Verhaftungen.5 Dennoch, schätzt Dominga Noguera, Koordinatorin der Sozialorganisationen im Bezirk Canindeyú, „wurden allein in unserem Bezirk 130 000 Hektar zurückerobert“.
In entlegeneren Gegenden kann oft man nur mit geländegängigen Motorrädern zu den landwirtschaftlichen Ansiedlungen, den Asentamientos, gelangen. Im Herzen des Bezirks Itapúa etwa, im Asentamiento 12 de Julio, erinnert man sich noch genau daran, wie 1996 die 70 Besetzer einer großen Finca, die angeblich dem deutschen Mennoniten6 Nikolai Neufeld gehörte, für sechs Monate ins Gefängnis kamen. In Paraguay, das kein funktionierendes Liegenschaftskataster hat, hat die Justiz bündelweise falsche Eigentumstitel ausgestellt – das Justizsystem wird immer noch von Richtern beherrscht, die der Stroessner-Diktatur nahestanden und der Colorado-Partei anhängen. Das Verwaltungschaos ist so groß, dass ein und dasselbe Stück Land auf drei oder vier verschiedenen Urkunden auftauchen kann. Wenn man all diese Dokumente zusammenrechnet, wäre Paraguay das einzige Land der Welt, das zwei Stockwerke hätte.
Im Jahr 2005 nahmen die Leute im Asentamiento 12 de Julio den Kampf um das Land erneut auf, diesmal mit Unterstützung der OLT und des Landesverbands der Bauernorganisationen (Mesa Coordinadora Nacional de Organizaciónes Campesinas, MCNOC). Viermal besetzten sie das Landgut, viermal wurden sie gewaltsam von Polizei, Armee und den Matones vertrieben. Die Reporter von Zeitungen wie ABC Color,7 La Nación und Última Hora, die allesamt Mitgliedern der Oligarchie gehören, berichteten mit Vergnügen, wie die kleinen Höfe dieser „barfüßigen Kriminellen“ in Brand gesteckt wurden.
Der Kampf hat dennoch Früchte getragen. 230 Familien leben inzwischen legal auf dem umstrittenen Land, wo sie Maniok, Mais, Bohnen, Süßkartoffeln, Erdnüsse und Sesam anbauen. 2009 hat das für die Agrarreform zuständige Nationale Institut für Landbesitz und ländliche Entwicklung (Indert) Nikolai Neufeld die Finca abgekauft. Später wurde Neufeld zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in den Jahren von 2007 bis 2011 Grundstücke, die ihm gar nicht gehörten, für umgerechnet 14 Millionen Euro an deutsche Einwanderer verkauft hatte. Doch vor allem, so erklärt der Sprecher der Gemeinde, Magno Álvarez, den glücklichen Ausgang der Geschichte, „war die Lage 2009 entspannter, denn das war in der Amtszeit von Präsident Lugo“.
Präsident Lugos moderate Reformen gingen den Landbesitzern zu weit
Bei den Wahlen im April 2008 setzten 40,8 Prozent der Wähler ihre Hoffnung auf den sozial engagierten ehemaligen „Bischof der Armen“, Fernando Lugo. Nach mehr als 60 Jahren unter dem autoritären Regime der Colorado-Partei (davon allein 35 Jahre unter Diktator Stroessner) wollten sie endlich eine Veränderung. Da Lugo über keine parteipolitische Machtbasis verfügte, unterstützte ihn die Patriotische Allianz für den Wechsel (APC), eine Koalition von sozialen Bewegungen und acht Parteien. Zu ihnen gehörte auch die etablierte konservativ-liberale Oppositionspartei der Blancos, die über Jahrzehnte nicht in der Lage gewesen war, die Vormachtstellung der Colorados zu durchbrechen.8 Die Verbindung war jedoch nur von kurzer Dauer.
Obgleich er den anderen linken Regierungen Lateinamerikas nahestand, die sich in der sogenannten Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (Alba) zusammengeschlossen haben,9 verfolgte Lugo eine ziemlich moderate Politik. Doch auch das war für paraguayische Verhältnisse noch zu viel. Er lehnte zum Beispiel die Einrichtung einer US-Militärbasis in Mariscal Estigarribia im Chaco ab; er weigerte sich, den kanadischen Bergbaumulti Rio Tinto, dessen Tochter Alcan an den Ufern des Rio Paraná eine Aluminiumfabrik errichten wollte, mit Subventionen für Energie in Höhe von 200 Millionen Dollar pro Jahr zu unterstützen; er erhöhte die öffentlichen Ausgaben; Arme wurden in den Krankenhäusern umsonst behandelt; er versprach eine Agrarreform und zeigte Sympathie für die Bauernbewegungen, die daraufhin noch aktiver wurden, immer mehr Land besetzten und für ihre Ziele demonstrierten. Schließlich wandte sich die Blanco-Partei, die Lugo zunächst aus wahltaktischen Gründen unterstützt hatte, unter Führung von Vizepräsident Federico Franco gegen den Staatschef. Gemeinsam mit ihren traditionellen Gegnern von der Colorado-Partei setzten sie offen auf eine Strategie der Destabilisierung.
Der Verband der landwirtschaftlichen Großbetriebe (Unión de gremios de la producción, UGP) blies schließlich zum Angriff, sekundiert von einer Presse, die sich auf die Seite dieser mächtigen Agrarlobby stellte. Der Konflikt verschärfte sich, als es um die Genehmigung neuer, genetisch veränderter Mais-, Baumwoll- und Sojasorten ging. „Der liberale Landwirtschaftsminister Enzo Cardozo (PLRA) hat ganz im Sinne von Monsanto, Cargill und Syngenta gehandelt“, erinnert sich Miguel Lovera, damals Leiter des Landesamts für Gesundheit und Qualität von Pflanzen und Saatgut (Senave). „Er hat sich verhalten, als sei er ihr Angestellter, und außerdem war er noch Sprecher der UGP.“
Dennoch wurde die Genehmigung verweigert. Nicht nur Lovera, als Chef der Senave, auch die Gesundheitsministerin Esperanza Martínez und der Umweltminister Oscar Rivas hatten sich quergestellt. Die Zeitung ABC Color daraufhin führte eine wütende Verleumdungskampagne gegen die drei. Zum tausendsten Mal sprach Vizepräsident Franco von einer Absetzung Lugos im Zuge eines Amtsenthebungsverfahrens. Dafür brauchte er lediglich noch einen geeigneten Vorwand.
Nahe dem Ort Curuguaty – 240 Kilometer nordöstlich von Asunción gelegen, drei schmale Hauptstraßen, ein paar Querstraßen und an jeder Ecke eine Bank – besetzten landlose Bauern eine Landfläche in Marina Cué. Blas Riquelme, früherer Senator (1989 bis 2008), zeitweiliger Vorsitzender der Colorado-Partei und Besitzer des Agrarunternehmens Campos Morombí mit insgesamt 70 000 Hektar Land, hatte es sich unter den Nagel gerissen. Jeder wusste, dass die etwas über 2 000 Hektar, um die es in Marina Cué ging, bis Ende 1999 der paraguayischen Armee gehört hatten; im Oktober 2004 waren sie durch ein Dekret dem Institut für ländliche Entwicklung (Indert) übertragen worden. Am 15. Juni 2012 tauchten dennoch 324 schwer bewaffnete Polizisten auf, um die etwa 60 Bauern, die sich zu dieser Zeit in einem selbst errichteten Lager aufhielten, zu vertreiben – zum siebten Mal innerhalb von zehn Jahren.
„Wir wollten Land und bekamen einen Krieg“, seufzt Martina Paredes, deren Bruder bei der Auseinandersetzung umkam. Sie gehört der Opfervereinigung der Familien von Marina Cué an. Am diesem 15. Juni war es zu einer wilden Schießerei gekommen, bei der elf Bauern und sechs Polizisten getötet wurden. Bis heute weiß man nicht, wer zuerst geschossen hat. „Ich habe mit einigen Polizisten gesprochen“, berichtet Paredes, „sie wissen auch nicht mehr als wir.“ Vidal Vega, einer der Bauernführer von Marina Cué, hatte angekündigt, er werde aussagen, was er über eingeschleuste Agenten und über die Matones von Campos Morombí wisse, die am Ort des Massakers waren. Im Dezember 2012 wurde er ermordet. Ein Videofilm, der damals von einem ständig über der Szene kreisenden Polizeihubschrauber aufgenommen wurde, verschwand auf mysteriöse Weise.
Die Anwesenheit von Frauen und Kindern in diesem Lager lässt die Annahme, die Bauern hätten die Ordnungskräfte in einen Hinterhalt gelockt, völlig unglaubwürdig erscheinen. Dennoch: Präsident Fernando Lugo, den man beschuldigte, die Gewalt gegen die Großgrundbesitzer geschürt zu haben, wurde am 22. Juni 2012 im Zuge eines Amtsenthebungsverfahrens innerhalb von nur 24 Stunden abgesetzt; gemäß Artikel 225 der Verfassung hätten ihm fünf Tage zugestanden, um seine Verteidigung vorzubereiten. Das kann man durchaus als institutionellen Staatsstreich bezeichnen.
Nachdem Federico Franco es endlich geschafft hatte, an die Macht zu gelangen, löste seine Regierung die unabhängige Untersuchungskommission auf, die die Ereignisse von Marina Cué mit Unterstützung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) untersuchen sollte. Eine Woche später wurde die Einführung genetisch veränderter Baumwollpflanzen genehmigt. Im Verlauf der folgenden Monate kamen sieben weitere Sorten von Genmais und Gensoja hinzu.
Die Wahlen vom 22. April 2013 markierten, wie es so schön hieß, die „Rückkehr zur Normalität“ in Paraguay, das nach dem institutionellen Putsch aus mehreren regionalen Organisationen ausgeschlossen worden war, etwa dem südamerikanischen Binnenmarkt Mercosur, der Union südamerikanischer Nationen (Unasur) und der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (Celac). Der jetzige Staatschef, Horacio Cartes von der Colorado-Partei, ist einer der reichsten Männer des Landes. Sein engster Berater ist der Chilene Francisco Cuadra, ehemaliger Minister und Sprecher von Augusto Pinochet. Als Cartes am 15. August die Amtsgeschäfte übernahm, fuhr er in Stroessners offenem Chevrolet vom Regierungspalast zur Kathedrale. Welche Politik er anstrebte, erfuhr man bei einem Arbeitsfrühstück, an dem 120 (in La Nación), 300 (in ABC Color auf Seite 2) oder gar 400 (in ABC Color auf Seite 3) „einheimische Firmenchefs und begeisterte Ausländer“ teilnahmen. Dort versprach er, er werde nicht zulassen, „dass Investoren von Staatsbediensteten schlecht behandelt werden“.
Zwei Tage später wurden fünf Wachleute des Rinderzuchtbetriebs Lagunita von der geheimnisvollen „Armee des paraguayischen Volkes“ (EPP) ermordet, was in den Medien enorme Aufregung hervorrief. Diesem Grüppchen, das man noch nicht mal als Guerilla bezeichnen kann, werden 31 Entführungen und Morde seit 2006 in den schwer zugänglichen Landesteilen der ärmsten Verwaltungsbezirke Concepción und San Pedro zugeschrieben.
Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass eines der Opfer, der Polizeiunteroffizier Feliciano Coronel Aguilar, in seiner „Freizeit“ unter der Hand den Sicherheitsdienst San Jorge leitete, der mit der Bewachung der Rinderfarm betraut war. Auf Facebook erklärte die EPP, ihre Opfer „gehörten zu einer parapolizeilichen Gruppe, die 20 Bauern getötet hat“. Das bestätigte implizit auch der ehemalige Colorado-Abgeordnete Magdaleno Silva, der sagte, man müsse „die wahre Tätigkeit des Sicherheitsdienstes San Jorge untersuchen“.10 Pater Pablo Caceres von der Diözese Concepción meinte dazu: „Die Typen, die getötet wurden, von denen behauptet wird, sie seien arme Arbeiter gewesen, das waren Matones.“11
Im April 2010 hatte Präsident Lugo, der wiederholt bezichtigt wurde, mit der EPP in Verbindung zu stehen, einen Monat lang den Ausnahmezustand verhängt, um der Gruppe in vier Verwaltungsbezirken den Garaus zu machen – ohne überzeugendes Ergebnis. Am 22. August 2013 verabschiedete der Kongress in kometenhafter Geschwindigkeit ein Gesetz, das es Präsident Cartes gestattete, Militäroperationen im Land durchzuführen, ohne vorher den Ausnahmezustand zu verhängen. Die Landespolizei wurde der Armee unterstellt, die in den Verwaltungsregionen San Pedro, Concepción und Amambay mit Hubschraubern und Panzern aufmarschierte – und das alles, um eine Opposition zu vernichten, die zwar bewaffnet war, aber nicht mal genug Leute hatte, um zwei Fußballmannschaften zusammenzubekommen.
In dem Asentamiento Tacuatí Poty, um nur ein Beispiel zu nennen, herrscht nun eine nahezu apokalyptische Stimmung. Hier haben 700 vom Sojaanbau umzingelte Familien hart gekämpft, erst um das Land, dann für das Gesundheitszentrum, die Schule, das Gymnasium, das Trinkwasser und die Zufahrtsstraße. Acht Kilometer von hier wurde der reiche Landbesitzer Luis Lindstrom im Juli 2008 von der EPP entführt, gegen ein Lösegeld von 130 000 Dollar freigelassen und schließlich am 31. Mai 2013 von zwei Freischärlern erschossen, die angeblich zu EPP gehörten. Tacuatí Poty geriet in den Verdacht, ein Guerilla-Stützpunkt zu sein. Es folgten nächtliche Hausdurchsuchungen vermummter Soldaten ohne richterlichen Beschluss und Einschüchterungsversuche; es kam zu Verhaftungen und Anklagen aufgrund von angeblich sichergestellten Beweisstücken und widersprüchlichen Aussagen.
„Die Leute haben Angst“, erzählt Victoria Sanabria. „Wir haben kein Vertrauen in die Justiz oder in die Institutionen, die unsere Rechte schützen sollten. Die Angeklagten sind Familienväter, die morgens um fünf Uhr aufstehen, um arbeiten zu gehen. Sie sind auch die Wortführer. Wir glauben, dass unser Land das eigentliche Problem ist. Das haben wir in all unserer Unwissenheit kapiert. Sie denken, indem sie unsere Anführer ausschalten, können sie uns alle erledigen.“
Es handelt sich also alles in allem um einen lateinamerikanischen Klassiker. Eine nicht versorgte Wunde infiziert sich. Kleine oder größere Gruppen, die man verurteilen mag oder auch nicht, radikalisieren sich. Die angeblich demokratische Regierung protestiert lauthals und gibt Befehl, die mutmaßlichen Täter zu fassen – kriminalisiert aber in Wahrheit vor allem die sozialen Bewegungen. Davon profitieren in Paraguay nun die Sojaproduzenten.