Ist es Völkermord?
Ein vergessener Völkermord mit 5 Millionen Toten? Der Streit zwischen einigen kongolesischen und internationalen Organisationen über die Zahl der Todesopfer in den Konflikten um die Demokratische Republik Kongo spitzt sich zu.1 Angestoßen wurde die Debatte durch eine hochangesehene Hilfsorganisation, das 1933 von Albert Einstein gegründete International Rescue Committee (IRC), das seit 2006 von 4 Millionen Toten und einem „Völkermord“ spricht.2
Seither hat sich eine Art Überbietungswettbewerb in Sachen Opferzahlen entwickelt, wobei sich die Zahl von 5 Millionen als die wahrscheinlichste behauptet hat. Mit makabren, nur dem Anschein nach neutralen Erhebungen kursieren Schätzungen von 3,5 bis 6 Millionen Toten; auf einigen Websites wird sogar die Zahl von 12 Millionen Opfern genannt, die aber nach Auffassung der meisten Experten völlig aus der Luft gegriffen ist.
In Anbetracht der starken politischen, juristischen und emotionalen Vorbelastung ist der Begriff „Völkermord“ hier alles andere als neutral. Er ist vielmehr ein Instrument in dem regionalen Machtkampf, insbesondere zwischen Kongo und Ruanda, um die immensen Rohstoffvorkommen im Osten der DR Kongo. So diente die Verfolgung der Schuldigen an dem tatsächlich unstrittigen Völkermord in Ruanda der Regierung in Kigali als Vorwand, um Truppen in den Kongo zu entsenden, sich dort über Jahre hinweg festzusetzen und die kongolesischen Rohstoffe auszubeuten.3 Bei der Auseinandersetzung um den „Genozid“ im Osten der DR Kongo wiederum geht es nicht zuletzt darum, den Völkermord an den ruandischen Tutsi zu relativieren und Präsident Paul Kagame zu schwächen.
Bislang haben die internationalen Organisationen wie gesagt nur einen Genozid in der Region der Großen Seen anerkannt: den an den Tutsi 1994 in Ruanda, bei dem zwischen 800 000 und 1 Million Menschen ermordet wurden. Kagames Gegner sprechen trotzdem lieber vom „doppelten Völkermord“ und meinen damit die Massaker, die Kagames Truppen im Zuge der Eroberung des Landes ab Frühjahr 1994 an den Hutu verübten. Diese zweifelhafte These wird in der DR Kongo von militanten Hutu und kongolesischen Ultranationalisten dankbar aufgegriffen – zur Verärgerung von Aldo Ajello, dem früheren EU-Sonderbeauftragten für die Region der Großen Seen: „Den Völkermord an den Tutsi und die in dessen Gefolge verübten Massaker an demokratischen Hutu in einen Topf zu werfen, verhindert, zu begreifen, was damals geschehen ist, vorher, währenddessen und danach.“4
Auch in diesem Fall ist die genaue zeitliche und räumliche Eingrenzung des mutmaßlichen Völkermords von der jeweiligen Interpretation abhängig. Im Wesentlichen betrifft es die DR Kongo während des „Afrikanischen Weltkriegs“5 zwischen 1993 bis 2003. Schauplatz des Tötens war vor allem die Region Kivu, und die Opfer waren vor allem aus Ruanda geflohene Hutu (die Kigali pauschal als „Völkermörder“ bezeichnete), aber auch ganz normale Kongolesen.
Die meisten Opfer kamen den Verfechtern der Völkermordtheorie zufolge nicht bei militärischen Zusammenstößen ums Leben. Vielmehr wurden sie in die Wälder im Westen des heutigen Kongo abgedrängt, wo sie an Hunger und Krankheiten starben. Wobei darauf verwiesen wird, dass die Sterblichkeitsrate in der DR Kongo mit monatlich 2,1 Todesfällen pro 1 000 Einwohnern um 40 Prozent über dem Durchschnitt des subsaharischen Afrikas liege.6
Wurden diese Opfer gezählt oder womöglich gar obduziert? Tatsächlich haben humanitäre Organisationen oder internationale Beobachter nur in wenigen Fällen Massengräber oder andere Gräber gefunden. Die beiden belgischen Bevölkerungsstatistiker André Lambert und Louis Lohlé-Tart relativieren daher auch die von manchen ihrer Kollegen und vom IRC genannten Zahlen, die sie selbst deutlich niedriger ansetzen: Unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserwartung und der dokumentierten Kämpfe gehen die beiden von einer Schätzung von 183 000 Todesopfern „infolge von Kampfhandlungen“ in der DR Kongo aus.7
So zynisch es auch klingt: Der Tatbestand des Völkermords hängt nicht von der bloßen Zahl der Opfer ab. Entscheidend ist die Absicht der Täter. Laut der Genfer Konvention von 1948 handelt es sich dann um einen Völkermord, wenn die Täter beabsichtigten, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Die Hutu-Flüchtlinge und die kongolesischen Zivilisten sind unschuldige Opfer eines Konflikts, der keineswegs auf sie als Gruppe abzielte. Es war einer von jenen Massenmorden, über die man nicht viel weiß und die sich gerade deshalb für ideologisch motivierte Manipulationsversuche anbieten.
Michel Galy