Gao, Nordmali
Eine Topografie von Schuld und Zorn – ein Jahr nach dem Beginn der französischen Intervention von Charlotte Wiedemann
Zwischen den verstaubten Eukalyptusbäumen zwitscherte ein Vogel. Sonst war es still; die Geräusche vom Markt drangen nur gedämpft bis zum Hof der verlassenen Polizeistation. Auf die Gittertür der Frauenzelle hatte jemand in krakeligem Arabisch „Gott ist groß“ geschrieben. Die Frauen, die hier einsaßen, waren ungenügend verschleiert gewesen oder hatten beim Spazierengehen Musik aus dem Mobiltelefon gehört. Sie bekamen zehn Peitschenhiebe, gleich hier im Hof; Passanten gafften.
Über dem Eingang, nun von Grün umwuchert, hatte „islamische Polizei“ gestanden. Jugendliche haben die schwarze Schrift mit weißer Farbe übertüncht, ein Akt ritueller Reinigung; überall in der Stadt Gao waren Parolen und Namen so übermalt. Auch am Platz der Unabhängigkeit, der sieben Monate lang „Platz der Scharia“ hieß.
Die verwaiste Polizeistation wirkte wie die Improvisation eines Museums, ein offen gelassener Ort von Geschichte. An der Außenmauer klebten Wahlplakate: Sie bedeckten die weiße Farbe, die wiederum das schwarze Emblem der Dschihadisten bedeckte. Drei Schichten Ereignisse. Auf den Plakaten stand „Gott, Mali, mein Gewissen“. Mit diesem rauchigen Pathos war Ibrahim Boubacar Keïta Malis neuer Präsident geworden. Nun war sein Bild bereits verblichen, verblichen von der Sonne und von enttäuschten Erwartungen.
Die Geschäfte gegenüber der Polizeistation hatten arabischen Händlern gehört; der Komplizenschaft mit den Dschihadisten verdächtig, wurden sie vertrieben, die Geschäfte geplündert. Nicht ausgeschlossen, dass die Plünderer jene waren, die zuvor beim Auspeitschen gafften. Nun sind neue Nutzer in den Geschäften; so vergeht die Zeit, das eine wie das andere Unrecht ungesühnt.
Fast ein Jahr nach Beginn der französischen Intervention in Mali ist noch wenig geschehen, um grundlegende Fragen zu beantworten: Wer waren die Haupttäter? Wer gilt als Opfer? Wo ist Versöhnung nötig und wo eine formelle Anklage? Und wie können die Malier über diese Fragen selbst so entscheiden, dass sie mit sich und ihrer jüngsten Geschichte ins Reine kommen?
Gao, 1 200 Kilometer von der Hauptstadt Bamako entfernt, schien mir der richtige Ort, diesen Fragen nachzugehen. Gao ist mit etwa 90 000 Einwohnern die größte Stadt im dünn besiedelten Norden. Hier, und nicht im viel kleineren Timbuktu, war die eigentliche Bühne des Dramas. In Gao riefen die bewaffneten Tuareg der MNLA (Nationale Bewegung für die Befreiung von Azawad) am 6. April 2012 ihren Staat Azawad aus; zuvor hatten sie die Stadt systematisch geplündert und öffentliche Gebäude, Banken und Schulen zerstört.1 Nach knapp drei Monaten Herrschaft wurde die MNLA in offener Schlacht aus der Stadt getrieben: durch ihre vorherigen dschihadistischen Waffenbrüder. Es folgten sieben Monate unter deren Herrschaft, ausgeübt vor allem von der Gruppe Mujao (Bewegung für Monotheismus und Dschihad in Westafrika)2 .
Gao, am Niger gelegen, hat eine mehr als tausendjährige Geschichte. Seine Adelsklasse nahm den Islam schon Ende des 10. Jahrhunderts an. Timbuktu, später gegründet, war die Stadt der Gelehrten, Gao die Stadt der Macht. Hier war das Zentrum des Songhaireichs, benannt nach jener Ethnie, der auch heute in Gao die Mehrheit angehört. Dieses Reich, von enormer Ausdehnung, folgte auf das mittelalterliche Malireich – beide multiethnisch und mehrheitlich schwarz.
Am 26. Januar 2013 nahmen die französischen Streitkräfte, unterstützt von der malischen Armee, Gao ein. Doch um die Stadt liegt bis heute ein Gürtel der Unsicherheit. Bewaffnete verschiedener Provenienz greifen immer wieder an. Gerade wurde, nach einem Jahr, der berüchtigte Chef der „islamischen Polizei“ verhaftet, ein Malier. Er fuhr auf einem Moped herum.
Nichts erklärt sich in Gao von selbst, durch bloßen Augenschein. Wenn man ein zerstörtes Haus sieht, eine eingeschlagene Tür, ein zerschossenes Vorhängeschloss, muss man fragen: Wer, wann, warum? Die möglichen Antworten sind: Das war die MNLA. Das waren die Dschihadisten. Das waren die französischen Streitkräfte, als sie die Djschhadisten bekämpften. Das war die Bevölkerung, beim Plündern.
Der Justizpalast ist zerbombt; das geht auf die Franzosen zurück. Davor steht am Straßenrand ein Stoppschild, das Blech ist rot beschmiert. Es könnte ein verwischtes Graffiti sein, aber Einheimische sagen, es sei Blut, das Blut eines Dschihadisten, nahebei gelyncht durch die örtliche Bevölkerung. Nur die Einheimischen wissen, was die Wahrheit ist – oder welche Wahrheiten sie nebeneinander bestehen lassen wollen. So diffus zu Beginn der französischen Intervention das Bild vom Feind war (fälschlich reduziert auf „ausländische Kämpfer“),3 so unübersichtlich ist bis heute die Topografie von Taten und Tätern. Aus Sicht westlicher Medien und Regierungen waren die Dschihadisten stets die schlimmsten Verbrecher; dieses Bild teilen viele Malier nicht.
Wer tat was? Amnesty International gibt die Opfer von Amputationen in Nordmali mit „mindestens acht“ an, nach anderen Quellen waren es zwölf. Es ist ein Fall von Steinigung bekannt; die Zahl von Auspeitschungen liegt, soweit bekannt, im unteren zweistelligen Bereich. Daneben gab es unzählbare Demütigungen, etwa durch das Musikverbot. Die brutalsten Menschenrechtsverletzungen waren indes keine täglichen Erscheinungen, obwohl Medien diesen Eindruck erweckten.
Aus Sicht vieler Malier trifft die Hauptschuld am Drama des Landes die MNLA: Sie hätten mehr zerstört, mehr vergewaltigt, und ihr zeitweiliges taktisches Bündnis mit den Dschihadisten hätte deren Machtergreifung überhaupt erst möglich gemacht. Diese Haltung nahm auch die Mehrzahl meiner Gesprächspartner in Gao ein – gerade jene, die unter beiden Regimen versuchten hatten, standzuhalten.
Bei Greffa,3 einer örtlichen Frauenorganisation, sagte mir die Betreuerin Salama Dicko: „80 Prozent der uns bekannten Vergewaltigungen wurden von MNLA-Kämpfern begangen.“ Greffa arbeitet mit der UN-Frauenorganisation zusammen und wird von der norwegischen Kirche unterstützt. Dort, wo die Gruppe präsent ist, in Gao und in der Stadt Menaka, waren 123 Vergewaltigte bereit, sich zu offenbaren. Die tatsächliche Opferzahl dürfte um ein Vielfaches höher sein. „Das Thema ist sehr tabuisiert. Einer Vergewaltigten droht, was für eine Frau in unserer Kultur das Schlimmste ist: sich nie mehr verheiraten zu können“, sagte Salama Dicko. Deshalb waren von den 123 Opfern nur 11 bereit, Anzeige zu erstatten. Frauen, die bei Greffa Hilfe suchen, werden medizinisch untersucht, erhalten psychologische Betreuung und später ein Startgeld, etwa für einen Kleinhandel. Ein Plakat, dessen Bildersprache Analphabetinnen verständlich ist, zeigt diese Stationen. Beim Stichwort Versöhnung/Reintegration sieht man einen religiösen Vermittler mit Gebetskette und Koran zwischen Eheleuten sitzen. Tatsächlich helfen Imame dabei, dass Ehemänner ihre vergewaltigten Frauen wieder akzeptieren.
Manche Opfer wurden schwanger. Die Betreuerin erzählte mir von einer Mutter, die gegenüber ihrem Baby aggressiv sei. „Das Kind hat das Gesicht des Täters; es ist sehr hell.“ Sie zeigte mir ein Foto von Mutter und Kind. In der Regel waren die Opfer schwarz; in Gao gehörten sie zur Volksgruppe der Songhai. In Menaka, einer Tuareg-Region, waren es vor allem Bellah, so werden die einstigen Sklaven der weißen Tuareg genannt. Hellhäutige Täter, dunkelhäutige Opfer, das war nach den Befunden von Greffa das häufigste Muster. Weibliche Flüchtlinge aus dem Norden, die ich im Jahr 2012 traf, hatten mir Ähnliches berichtet. Diese Anschuldigungen haben das Image der Tuareg-Rebellen aus westlicher Sicht wenig befleckt; sie gelten als diskriminiert durch schwarzen Rassismus – Punkt.
Im Krieg lernten sie Selbstverwaltung, jetzt kommen die Beamten zurück
Auf dem Gelände des Krankenhauses von Gao, in einer Ecke, die Frauen schnell und unbemerkt erreichen können, unterhält Greffa ein kleines Zentrum für Notaufnahmen. Nun, im Nachkrieg, stehen hier häufig neue Opfer. „Die Vergewaltigungen gehen weiter“, sagte die Betreuerin. „Junge Männer imitieren jetzt ein Verhalten, das sie während der Besatzungen gesehen haben.“
Kata Data Alhousseini Maïga war Sprecher des Krisenkomitees von Gao. Solche Komitees gab es in nahezu allen besetzten Ortschaften Nordmalis, sie ersetzten notdürftig die geflohene staatliche Verwaltung. In Gao hatte das Komitee 30 Mitglieder, und deren Herkunft aus örtlichen Honoratioren sowie der Zivilgesellschaft schlug sich in seinem umständlichen Namen nieder: „Cadre de concertations des Notables/Société civile“. Das Komitee kam jeden Tag zusammen, nahm die Klagen der Bevölkerung auf und verhandelte mit den Besatzern.
Ich traf Maïga in seinem Haus, ein eloquenter Songhai, Leiter der örtlichen Tourismusbehörde, die seit Langem keine Touristen mehr gesehen hat. Er begann seine Erzählung mit dem Satz: „Unter der MNLA haben wir sehr gelitten. Mit Mujao war es möglich, zu reden.“ Damit meinte er die Organisierung des Alltags. „Ich war in der Kommission Wasser und Elektrizität.“ Ich fragte ihn, wer aus der örtlichen Bevölkerung Mujao unterstützt hatte. Maïga nannte drei Gruppen: „Kriminelle, die sich so selbst vor Bestrafung schützen wollten. Junge Männer, die von den Waffen fasziniert waren. Marabuts, die früher in Saudi-Arabien waren und bereits dem Salafismus nahestanden.“
Maïga hatte keinerlei radikalreligiöse Neigungen, trotzdem stand er im Verdacht der Kollaboration mit den Dschihadisten, ebenso wie andere, die versucht hatten, die Krise zu managen. Das hatte mir Kader Touré gesagt, Direktor eines Radiosenders. Er war eine stadtbekannte Größe, seine Stimme hatte Gewicht. „Damals sind alle Beamten abgehauen, die nicht von hier sind, und auch ein Teil der Einheimischen. Die gegangen sind, haben heute ein schlechtes Gewissen. Deshalb beschuldigen sie jene, die geblieben sind, der Komplizenschaft mit Mujao.“ Ich fragte ihn, wie er im Radio mit diesen Spannungen umgehe. „Ich versuche, zur Beruhigung beizutragen“, antwortete Touré, „deshalb sage ich: Jeder hat seine Entscheidung aus guten Gründen getroffen.“
Maïga erwähnte diese Vorwürfe nicht. Aber er formulierte eindeutige Lehren, die es aus der Besatzungszeit zu ziehen gelte. „Wir haben gelernt, Entscheidungen zu treffen. Wir waren von der Welt abgeschnitten und haben unser Leben organisiert, unter äußerst prekären Bedingungen. Die Erfahrung, dass wir uns selbst regiert haben, in Abwesenheit des Staates, hat mich sehr geprägt. Wir haben auch gelernt, dass wir den Staat brauchen, aber einen Staat mit einem anderen Verhalten. Ich bin sehr froh, dass diese Erfahrung, so schlimm sie auch war, viele jetzt dazu bringt, Veränderungen zu verlangen.“
Zorn auf den arroganten, korrupten Zentralstaat: Während meines Besuchs Ende November 2013 überschattete er alles andere, er hatte sich gleichsam über die schon vorhandenen Schichten von Schuld, Verletzungen und Ungesühntem gelegt. Der Staat bezahlte Beamten, die in den Süden geflohen waren, Prämien für die Rückkehr. Wer im Norden ausgeharrt hatte, ging leer aus – oder musste, wie die Lehrer, streiken, um etwas zu bekommen. In Gao gab es nur nachts Strom, so lebten die Bewohner schon seit einem halben Jahr, doch Beamte des Zentralstaats sagten: „So kann man nicht arbeiten“ und drehten wieder ab.
Unter dem neuen Präsidenten fuhr der Staat fort, sich die Zustimmung einzelner Gruppen zu erkaufen – statt sich um Gerechtigkeit für alle zu bemühen. Und genau diese Politik war im Norden unter den früheren Regierungen der Beginn allen Übels gewesen: Ethnien wurden gegeneinander ausgespielt, mafiöse Strukturen gefördert. Zugleich waren die staatlichen Repräsentanten die Ersten, die aus dem Norden flüchteten, während traditionelle und religiöse Autoritäten ausharrten. Nun war gegen diesen Staat offenkundig ein neues nördliches Selbstbewusstsein entstanden.
Dessen Vorhut waren die „Jeunes patrouilleurs“: Während der Besatzungszeit waren sie in den Wohnvierteln jede Nacht auf Patrouille gegangen, um in einer Stadt ohne Staat und Polizei ein Minimum an Sicherheit zu gewährleisten. Eine Art Bürgerwehr junger Männer, bewaffnet mit Messern und Stöcken. Junge Frauen kochten zur Unterstützung Reis mit Bohnen, obwohl es den Islamisten nicht gefiel, dass sie mit den Männern zusammenkamen. Von diesen Frauen kam zuerst der Slogan „Nous pas bouger“ (Wir weichen nicht), später wurde daraus eine Bewegung.
An einem frühen Sonntagmorgen im August 2012 sorgten die Patrouilleurs dafür, dass die jungen Leute von Gao den Unabhängigkeitsplatz besetzten: Mujao hatte am Vortag im Radio die erste Amputation angekündigt. Die Dschihadisten konnte den Gefangenen, einen angeblichen Waffendieb aus den eigenen Reihen, gar nicht erst auf den gedrängt vollen Platz bringen. Die Menge feierte ihren Sieg mit der Nationalhymne. Amputationen fanden später anderswo statt, aber Gao hatte ein Symbol der Ablehnung gesetzt.
Ich traf Moussa Boureima Yoro, den Chef der Patrouilleurs, im Vereinslokal, eine Art Hangar mit Sandboden und Sitzpolstern. Yoro, 33, war Philosophielehrer, er sprach wütend und pathetisch, und dass seine Stimme dabei leise war, machte seine Worte eher noch schneidender. „Wir haben hier zusammen gelitten. Wir wissen voneinander, welche Opfer wir gebracht haben. Jeder hier war bereit, zu sterben. Wir haben die Fahne Malis verteidigt, als andere nicht einmal daran dachten, dass das möglich ist. Wir haben unser Blut gegeben, als die Funktionäre geflohen sind.“
Yoro ließ sich von einem Kollegen eine Zigarette zuwerfen, die über den sandigen Boden rollte, und erzählte mir dann die Geschichte von den zwei Flugzeugen. Die Regierung hatte kürzlich zur großen Beratung über den Norden eingeladen – ins 1 200 Kilometer entfernte Bamako. In Gao stellte der Gouverneur eine Liste von Teilnehmern zusammen, die das Vertrauen der örtlichen Bevölkerung genossen; Yoro war dabei. Als sie ein Flugzeug der Minusma4 besteigen wollten, um in die Hauptstadt zu fliegen, hörten sie von den UN-Offizieren: „Tut uns leid, aber wir haben eine andere Liste aus Bamako bekommen.“ Darauf standen Teilnehmer, die der Regierung genehmer waren.
In Gao explodierte der Protest, Jugendliche zündeten Gebäude an. Daraufhin wurde ein zweites Flugzeug bereitgestellt; Yoro und die anderen durften nun verspätet zur Konferenz. „Sind wir Untermenschen?“, zischte er. „Die in Bamako wollen schön in ihrer Klimatisierung bleiben. Sie sollten sehen, wie wir hier leben. Wir sind unter der Sonne.“ Er stockte einen Moment, dann fuhr er fort: „Die Leute hier wollen reden, sich mitteilen, sie wollen gehört werden, sich Erleichterung verschaffen. Sonst kann es keine Versöhnung geben.“
Ähnlich wie Maïga, der Sprecher des Krisenkomitees, sah Yoro große Umwälzungen heraufziehen. „Mali wird sich von Gao aus verändern! Hier gibt es bereits eine andere Mentalität. Die Leute kennen jetzt ihre Rechte, wir akzeptieren nicht mehr, dass sich die Beamten bereichern. Wer nicht zum Wohle der Bevölkerung arbeitet, soll unser Territorium verlassen.“
Das Krankenhaus von Gao war vom Zerwürfnis mit Bamako besonders heftig gezeichnet. Ende November handelte es sich noch immer um ein staatliches Krankenhaus – aber ohne Staat, betrieben von einer Freiwilligengemeinschaft, die sich während der Besatzung als „Humanitäre Aktion“ gegründet hatte. Ihr Vorsitzender Moulaye Djiteye, ein überlasteter Gynäkologe, fand erst am Abend Zeit, mir von den Geschehnissen zu erzählen.
Die Leitung des Krankenhauses und ein Teil der Belegschaft waren bei Beginn der Kämpfe in den Süden geflohen. Die Besatzer gaben der Klinik den Rest, plünderten die Medikamente, zerschlugen Betten, zerschossen Türen. „Es herrschte Notstand; dies ist das einzige Krankenhaus für den ganzen Norden. Als eine Gebärende auf der Straße starb, war das für uns der Auslöser, die Wiederbelebung des Krankenhauses in eigener Regie zu versuchen.“ Wer in Gao eine medizinische Ausbildung hatte, kam zu heimlichen Treffen: Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Hebammen. Imame verhandelten mit den Bewaffneten, Radiostationen und Moscheen riefen zu Sachspenden auf, die „Jeunes patrouilleurs“ mobilisierten Unterstützung; auf einer großen Versammlung im Freien wurde die „Humanitäre Aktion“ gegründet.
„Wir hatten nichts in der Kasse“, sagte Djiteye. „Vier Tage lang haben wir auf dem Gelände aufgeräumt, Türen und Fenster repariert. Am Anfang waren wir 110 Freiwillige.“ Zwei Wochen nachdem Gao in die Hände der Bewaffneten gefallen war, nahm das Krankenhaus seinen Betrieb wieder auf. Noch im selben Monat kamen hier 55 Kinder zur Welt. „Wir wollten der Bevölkerung nicht nur medizinische Versorgung bieten. Wir wollten auch Hoffnung geben.“ Als in der Umgebung von Gao Cholera ausbrach, konnte sie durch schnelles Handeln eingedämmt werden. Ein staatliches Krankenhaus funktionierte tatsächlich ohne Staat. Im Laufe der Zeit kam Hilfe: eine humanitäre Karawane mit Medikamenten aus Bamako, dann die belgischen Ärzte ohne Grenzen, schließlich wurde mit dem Roten Kreuz ein Kooperationsvertrag geschlossen.
Jetzt, viele Monate nach Vertreibung der Besatzer, war das Krankenhaus immer noch selbst verwaltet: durch 174 sogenannte Freiwillige. Sie weigerten sich, einfach ihre Posten zu verlassen, verlangten, durch den Staat übernommen oder wenigstens entschädigt zu werden. Das Gesundheitsministerium antwortete lange Zeit nicht einmal. „Wir haben ausgeharrt unter den Kalaschnikows. Und jetzt behandelt man uns, als seien wir Okkupanten! Als seien wir die Dschihadisten!“ Im Zimmer von Djiteye war es dunkel geworden, es gab wieder keinen Strom, und der Arzt schrie nun regelrecht, er schrie in die Dunkelheit hinein: „Es gibt keine Anerkennung! Aber wir geben nicht auf!“ Ich dachte in diesem Moment daran, dass die Ärzte des Krankenhauses auch mit den grauenhaften Amputationen befasst waren. Sie hatten sich geweigert, bei den Verstümmelungen durch Verabreichen einer Narkose zu assistieren. Aber sie versorgten die Opfer danach; manchmal hieß das: neu schneiden. Was hatten diese Ärzte durchgemacht; wie viel Trauma saß an diesem Ort, in dieser Stadt.
Eine Zufallsbegegnung auf dem Gelände des Krankenhauses: Ein Angehöriger der örtlichen Tuareg-Minderheit, ganz in Schwarz gekleidet, in Eile, nervös um sich blickend. Er war ein wohlhabender Autohändler, hatte die Seite der MNLA ergriffen; als die MNLA die Macht in Gao verlor, floh er mit seiner Familie in die Umgebung, wo er sich jetzt immer noch versteckt hielt. Nun hastete er zu einem Arzt, um ein Rezept für seine Frau zu holen. Es wurde ihm nicht verweigert. Aber sein Haus war schon lange vorher geplündert worden, der Hof voll mit Abfall.
Wenn in Europa von Tuareg die Rede ist, dann sind unausgesprochen stets die Hellhäutigen gemeint. Wesentlich zahlreicher sind in Nordmali jedoch die schwarzen Tuareg, die Nachkommen von Sklaven. Beide Gruppen sprechen dieselbe Sprache, Tamashek, und beide Gruppen benutzen diese Sprache auch zur ethnischen Selbstbezeichnung, Kel Tamashek, das Volk der Tamashek-Sprechenden. (Tuareg ist Arabisch und Bellah ein Songhai-Wort.) Die hellhäutige Oberklasse kam in früheren Jahrhunderten nicht durch Krieg oder Handel an ihre Sklaven, sondern raubte bei Razzien die Kinder schwarzer Nachbarvölker. Die wuchsen so in eine Kultur und Sprache hinein, die sie heute längst als ihre eigene ansehen.
In Gao sprach ich darüber mit Aisha Wallet Ahmed, einer schwarzen Tamashek, die mit ihrer Familie in einem Lehmgehöft am Stadtrand lebte. Sie war in Kidal geboren und gehörte zum Klan der Ifoghas, jener Adelsklasse, die bisher im Zentrum aller Tuareg-Rebellionen stand. Bloß rebellierten eben nur die Weißen. Aishas Herkunft bestätigte mir, was ich bisher nur vom Hörensagen wusste: dass es auf allen Hierarchieebenen der Tuareg auch Schwarze gibt.
Sie zeigte mir ihren Mitgliedsausweis von Temedt,5 einer Organisation von schwarzen Tamashek, die gegen jene Abhängigkeitsverhältnisse kämpft, die heute noch aus der Sklaverei resultieren. Es ist ein großer Verband: Aisha war 2009 eingetreten, mit einer Mitgliedsnummer über 17 000. Das Symbol von Temedt zeigt eine schwarze und eine weiße Gestalt, gleich groß und einander zugewandt: die Vision einer gemeinsamen Tamashek-Kultur, ohne Hierarchie. Ich fragte Aisha, ob sie das für möglich hielt. „Gegenwärtig glaube ich nicht mehr daran“, antwortete sie. Früher sei die Hautfarbe innerhalb der Tamashek weniger wichtig gewesen. Jetzt kenne sie Fälle, wo ein hellhäutiger Mann seine dunkelhäutige Frau zur Scheidung gezwungen habe.
Kinderstimmen wehten herüber; vor dem Gehöft war eine Schule, wo gerade zum Morgenappell die malische Flagge gehisst wurde. Die Kinder, ethnisch gemischt, sangen die Nationalhymne. Ich dachte an einen Fernsehspot der malischen Telefongesellschaften, der jeden Abend vor den Abendnachrichten lief: Ein kleines Tuareg-Mädchen, hellhäutig, kommt mit fliegenden Haaren von weit her angelaufen, sie läuft erst ganz allein, dann kommen zwei ältere Kinder, dunkel, sie nehmen das kleine Mädchen in die Mitte, dann laufen sie gemeinsam Hand in Hand und kommen gerade noch rechtzeitig zum Appell, das kleine Mädchen darf die zusammengelegte Fahne halten, und dann schauen alle auf, wie die Fahne hochgezogen wird, und die Gesichter zeigten die ganze Vielfalt Malis.
Es war ein bewegender, schöner Film, aber ich fragte mich, ob er gerade jene ansprechen würde, die heute einen dumpfen Groll gegen alle Tuareg hegen. Das hellhäutige Mädchen stand sehr im Mittelpunkt.
Es hat nach der sogenannten Befreiung Nordmalis Verbrechen der malischen Armee an Arabern und Tuareg gegeben. In welchem Ausmaß? Auch das ist schwer zu sagen. Die Führung der Streitkräfte verschleiert, während die MNLA, bekannt für ihre Übertreibungen, stets von Genozid spricht. So auch jüngst, als dank hartnäckiger Recherchen von AP-Journalisten nahe Timbuktu in der Wüste verscharrte Leichen gefunden wurden. Zeitgleich kehrte der hochbetagte traditionelle Tuareg-Chef von Timbuktu aus dem Exil in seine Heimatstadt zurück und wurde zuvor vom Staatspräsidenten empfangen. Zwei Nachrichten, zwei völlig unterschiedliche Signale.
Es gibt in Nordmali viele ethnisch gemischte Ehen und Familien. Von Außenstehenden wird das häufig übersehen, wenn sie wachsende ethnische Spannungen feststellen. In Gao trifft das besonders für das Viertel im Zentrum zu, das älteste Quartier der Stadt mit Markt und Hafen. Der gewählte Chef des Quartiers, ein Schneider, stammt von schwarzen Tamashek und Peulh ab, seine Frau von schwarzen Tamashek und Arabern. Durch die Eheschließungen seiner Kinder gehören noch weitere Ethnien zur Familie, auch solche, die ihre Wurzeln im Süden Malis haben.
Mein Hotel in Gao war noch halb zerstört. Ich schlief auf einem Bett aus Beton, Zeichen eines Wiederaufbaus am Rande des Irrsinns. Im Le Bel Air, einem bescheidenen Hotelkomplex aus drei Häusern, hatten zeitweilig die bewaffneten Gruppen Station bezogen. Die MNLA hatte im Haupthaus gesessen, Ansar Din auf der anderen Straßenseite, wo jetzt mein Zimmer war, und Mujao hinten, wo früher Kindergruppen untergebracht wurden.
Der Inhaber Abouta Joachim stammt aus Benin, ein drahtiger 71-Jähriger, der vor 45 Jahren als Lehrer nach Gao gekommen war, „weil damals keine Beamten in den Norden wollten“. Die Bewaffneten hatten ihm bei der Ankunft die Türen zerschossen und beim Abzug die Technik gestohlen, die Bevölkerung kam danach und plünderte den Rest. Joachim sagte, er habe 100 Betten verloren; darum goss er jetzt Betten aus Beton. Mit dem Geld, das ich ihm gab, kaufte er gleich neuen Zement. Wo ich meinen Pulverkaffee zum Frühstück bekam, standen seltsame Cocktailsessel aus weißem Draht, die an Satellitenschüsseln erinnerten. Früher einmal hatten sie einen Stoffbezug, jetzt standen sie da nackt, unverrückbar auf dünnen weißen Beinen. Sie waren im Boden einbetoniert. „Ich will, dass alles am nächsten Tag immer genauso dasteht wie am Tag davor“, sagte Joachim.
Drei Mädchen aus Bamako zogen bei ihm als Dauergäste ein; sie hatten hell gebeizte Haut, rot lackierte Lippen und trugen Plateaupumps. Das war Joachims Geschäftszweig der Zukunft. Die UN-Soldaten hatten Geld, besonders die Nigerianer. Die Aids-Warnschilder am Ortseingang von Gao sind ähnlich groß wie die Schilder, die vor Minen warnen.