Drei Felsen, fünf Inseln
China und Japan auf Kollisionskurs von Olivier Zajec
The Glorious Mission“ heißt das Computerspiel, das die chinesische Jugend seit seinem Erscheinen im August 2013 in den Bann schlägt. Es ist die erste Online-Kriegssimulation, die offiziell in Zusammenarbeit mit der Volksbefreiungsarmee entwickelt wurde.1 Besonders beliebt in diesem Spiel ist eine militärische Mission, bei der es darum geht, dem Nachbarland Japan eine Inselgruppe abzunehmen, die in China Diaoyu heißt und in Japan Senkaku.
Das Spiel lässt es an nichts fehlen, um realistisch zu wirken: Landungsoperationen mit Amphibienfahrzeugen, Straßenkämpfe zwischen Spezialeinheiten und große Seegefechte. Auch den neuen chinesischen Flugzeugträger „Liaoning“, der erst seit September 2012 in Dienst steht, können die Spieler schon einsetzen.
Der Werbetext für das Spiel ahnen, worum es hier geht: „Die Spieler kämpfen an der Seite der chinesischen Streitkräfte und verwenden deren Waffen, um den Japanern klar zu sagen, dass Japan das uns gestohlene Land zurückgeben muss!“2 Diese Rhetorik ist bekannt. Wenn es um die Senkaku/Diaoyu-Inseln geht, die von beiden großen ostasiatischen Mächten beansprucht werden, zeigt sich, dass nur ein schmaler Grat die virtuellen Fantasiewelten von der realen Geopolitik trennt.
Lange waren sich beide Seiten einig, den Status der Inseln nicht anzutasten. Wer trägt nun die Schuld daran, dass diese stillschweigende Übereinkunft nicht länger gilt? Der japanische Staat, der am 11. September 2012 drei Inseln des Archipels von ihren privaten Besitzern gekauft hat? Die Regierung in Tokio behauptet, sie habe damit lediglich dem bekannten Nationalisten und ehemaligen Gouverneur der Hauptstadt, Ishihara Shintaro, zuvorkommen wollen. Der habe die Ausgabe einer nationalen Anleihe geplant, um den Kauf zu finanzieren, was Peking unnötig provoziert hätte.
Die chinesische Antwort fiel nicht gerade zurückhaltend aus. Chinesische Schiffe sind seither regelmäßig in die Zwölfmeilenzone der Inselgruppe eingedrungen. Es wurden drohende Reden geschwungen, und Ausschreitungen bei Kundgebungen gegen die japanische Regierung wurden von der chinesischen Regierung, die fürchtete, ihr Gesicht zu verlieren, im Nachhinein gebilligt.3
Liegt die Schuld an der Zuspitzung der Krise also vielleicht bei China? Am 22. November hat die Regierung in Peking unilateral die Einrichtung einer „Luftverteidigungszone“ verkündet. Da-mit weitete China seine Kontrolle über das Südchinesische Meer zumindest symbolisch auf das Gebiet der umstrittenen Inseln aus und hob die Eskalation auf eine neue Stufe.
Dieser Schritt ist in Zusammenhang mit weiteren Ansprüchen zu sehen, die China im Südchinesischen Meer erhebt. So übernahm die chinesische Marine im April 2012 de facto die Kontrolle über das zu den Philippinen gehörende Scarborough-Riff. Die eingeschüchterte philippinische Regierung begnügte sich mit der Anrufung eines Schiedsgerichts im Rahmen des Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen.
Im Fall der Senkaku/Diaoyu-Inseln fiel die Antwort sowohl aus Washington als auch aus Tokio sehr viel entschiedener aus. Ende November entsandten die USA zwei B52-Bomber, alsbald gefolgt von japanischen und südkoreanischen Flugzeugen. Sie durchflogen ostentativ Chinas neue Luftverteidigungszone und unterstrichen damit deren Nichtigkeit. Die chinesische Regierung hatte zwar gedroht, jedes Flugzeug, das ohne sich zu identifizieren in die Zone eindringe, müsse mit „Notwehrmaßnahmen“ rechnen. Doch sie unternahm nichts. Zu entschlossen erscheinen die anderen Pazifikmächte, dem strategischen Aufstieg Chinas Grenzen zu setzen.
Nie zuvor hatten die Spannungen in der Inselfrage eine solche Stufe erreicht. Anfang Oktober 2013 erneuerten die USA und Japan ihr Verteidigungsabkommen, durch das beide Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbündet sind. Dabei schlug die Ankündigung der Vereinigten Staaten, neue Hightechwaffen nach Japan zu liefern, weniger hohe Wellen als die Äußerungen von US-Außenminister John Kerry, der persönlich zur Unterzeichnung des Abkommens nach Japan gereist war: „Wir erkennen die japanische Verwaltung [über die Senkaku-Inseln] an“, sagte Kerry – ohne freilich von einer „Souveränität“ zu sprechen, wie es sich die japanischen Verbündeten gewünscht hätten.4
Schlechte Nachricht für alle Kurzschwanz-Albatrosse
Mitte Dezember kündete dann die Regierung des japanischen Ministerpräsident Shinzo Abe an, den Verteidigungshaushalt für den Zeitraum 2014 bis 2019 um 5 Prozent aufzustocken. Japan richtet seine militärischen Prioritäten klar in Richtung der Seestreitkräfte neu aus. Im August 2013 nahm die japanische Marine den neuen Zerstörer „Izumo“ in Betrieb, mit 248 Metern Länge das größte Kriegsschiff, das Japan seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gebaut hat. Japan betrachtet den Ryukyu-Archipel (dessen Verlängerung nach Westen die Senkaku-Inseln darstellen) als neue Front zur Verteidigung seiner geostrategischen Interessen.
Was steckt hinter dieser neuen Stufe der Eskalation? Geografisch gesehen sind diese Inseln nicht von großem Interesse: sieben Quadratkilometer großes, einsam im Ostchinesischen Meer gelegenes Land, 330 Kilometer von der chinesischen Küste entfernt, 170 Kilometer von Taiwan und 410 Kilometer von den japanischen Ryukyu-Inseln. Der Senkaku-Archipel besteht aus drei Felsen und fünf Inseln. Der Name der größten Insel, Uotsuri-jima (deutsch: Fischfanginsel), lässt erahnen, worin lange Zeit das einzige Interesse an diesem Haufen aus Sandstein und Korallen bestand. Angesteuert wurden sie weniger von Zerstörern und Bombern als vielmehr von der bedrohten Kurzschwanz-Albatrossen, die hier brüten.
Erst in den 1970er Jahren begannen sich Chinesen und Japaner heftig um diese Inselgruppe zu streiten. Sie war den Chinesen zwar bereits in der Zeit der Ming-Dynastie im 14. Jahrhundert gut bekannt. Über Jahrhunderte blieb sie jedoch unbewohnt, bis im Jahr 1884 ein umtriebiger Japaner begann, hier Guano abzubauen. Keines der beiden Länder hatte die Inseln je offiziell besetzt. Gemäß internationalem Recht war der Archipel immer noch terra nullius, Niemandsland.
Im Krieg von 1894/1895 kämpfte das imperiale Japan gegen ein sklerotisches, im Niedergang begriffenes China und besetzte die Senkaku-Inseln. Einige Monate später waren die Chinesen gezwungen, den Vertrag von Shimonoseki zu unterzeichnen, in dem sie unter anderem den nordchinesischen Hafen Port Arthur und die Insel Taiwan an Japan abtraten. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel Taiwan zurück an China. Doch von den Senkaku/Diaoyu-Inseln war damals ebenso wenig die Rede wie später im Friedensvertrag von San Francisco (1951), der die US-amerikanische Besatzung Japans beendete und dem Land seine Souveränität zurückgab. Dabei listete Artikel 2 dieses Vertrags sämtliche Territorien auf, auf die Japan für seine diplomatische Wiederanerkennung verzichtete. Der 1952 unterzeichnete Vertrag zwischen Japan und Taiwan, das zu dieser Zeit China an Stelle der Volksrepublik bei den Vereinten Nationen vertrat, bestätigte die in San Francisco festgelegten Gebietsaufgaben – wiederum ohne die Senkaku/Diaoyu-Inseln zu erwähnen.
Nominell stand die Inselgruppe damals unter US-amerikanischer Verwaltung. Erst 1971 wurde sie zusammen mit den Ryukyu-Inseln an Japan zurückgegeben. Ein wichtiges Detail zeigt jedoch, dass Washington damals über umsichtige Juristen und Kartografen verfügte: Die Senkaku-Inseln wurden bei dieser Rückgabe nicht explizit genannt. Die Vereinigten Staaten wollten nicht in einen Territorialkonflikt hineingezogen werden, bei dem es gute Gründe für die Annahme gab, dass er gerade erst begonnen hatte.
Ein vertraulicher CIA-Bericht aus dem Jahr 1971, der seit 2007 zugänglich ist, liefert eine gute Übersicht der damaligen Situation.5 Er kommt zwar zu dem historisch abgeleiteten Ergebnis, dass Tokios Souveränitätsanspruch rechtmäßig sei. Für die CIA-Analysten spielte ein anderer Aspekt jedoch ein viel wichtigere Rolle: die Entdeckung von Ölvorkommen rund um die Senkaku/Diaoyu-Inseln durch die UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Asien und den Pazifik (Escap) im Jahr 1968, die ein Jahr später von Japan bestätigt wurde. Durch diese Entdeckung sei der Archipel dazu verdammt, zum Gegenstand eines Konflikts zwischen Taiwan, Japan und China zu werden, so die Einschätzung der CIA. Sie sollte recht behalten. 2014 sind alle drei Staaten genauso sehr auf Öl aus wie in den 1970er Jahren.6
Aber auch der energiepolitische Faktor kann das Ausmaß der politischen Spannungen nicht erklären, die jetzt zu beobachten sind. Im Jahr 2008 haben die Regierungen Chinas und Japans Verträge über die gemeinsame Ausbeutung eines Teils der fossilen Energiereserven im Ostchinesischen Meer abgeschlossen, deren Umfang auf mehr als 200 Milliarden Kubikmeter geschätzt wird. Auch wenn diese Verträge bislang nicht umgesetzt wurden, bilden sie doch die Grundlage für einen mögliche Modus Vivendi. Schließlich ist das wirtschaftliche Wohlergehen beider Vertragspartner eng miteinander verknüpft.
China versucht nicht, mit militärischen Mitteln die Welt zu erobern. Aber es will seine Vormachtstellung im Westpazifik durchsetzen – ohne dass irgendjemand in dieser Region, die von China mit seinen mehr als eine Milliarde Einwohnern und seiner expandierenden Wirtschaft dominiert wird, dies infrage stellen könnte.7
Für Peking stehen dabei vor allem vier strategische Fragen im Mittelpunkt: die Rückkehr Taiwans in den Schoß der Nation, die Mitsprache bei einer zukünftigen Wiedervereinigung Koreas, die Territorialansprüche im Südchinesischen Meer (die Paracel-Inseln, das Spratley-Archipel, das Scarborough-Riff und die Pratas-Inseln) und schließlich die Frage der Senkaku/Diaoyu-Inseln. Diese sind nämlich auch ein Glied in der Inselkette, die Pekings aufgerüstete Flotte am freien Zugang zum offenen Pazifik hindert.8 Die Anerkennung seiner Souveränität über die Inseln, selbst wenn sie nur vorübergehend sein sollte, wäre ein wichtiger Schritt in Richtung der angestrebten Machtposition.
Diese neu entfachten geopolitischen Ambitionen stoßen in der chinesischen Gesellschaft auf durchaus positive Resonanz. Der Geschichtsunterricht in der Volksrepublik neigt ohnehin dazu, die Vorbehalte gegenüber dem alten japanischen Imperium zu verstärken – wobei Japan in Sachen Geschichtsklitterung China in nichts nachsteht. Die chinesische Regierung spielt die nationalistische Karte bewusst: In einer Gesellschaft, die von den durch das autoritäre Kapitalismusmodell hervorgerufenen Ungleichheiten zerrissen wird, will sie die innenpolitische Debatte auf Bedrohungen von außen lenken. Das Computerspiel „The Glorious Mission“ ist ein Paradebeispiel für diese Art von Ablenkung durch nationalistische Polemik.
In der japanisch-chinesischen Auseinandersetzung nimmt die Debatte um die historischen Rechte teilweise pittoreske Formen an. Um die Ansprüche ihrer Staaten zu untermauern, zücken seriöse Botschafter mittelalterliche Seekarten von hauptsächlich kunsthistorischem Wert und zitieren antike Gedichte, in denen von den vergessen Fahrten der Fischer des Königreichs Okinawa berichtet wird. Doch jenseits dieser Symbolpolitik: Um die ganze Tragweite des Konflikts zu verstehen, darf man dessen geopolitische Dimension und die innenpolitische Bedeutung für China nicht vergessen.
Aus Anlass der Verhandlungen über den Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen der Volksrepublik und Japan 1978 verkündete Deng Xiaoping, der damals kurz davor stand, die Macht in China zu übernehmen, die Frage der Diaoyu-Inseln könne „für einige Zeit, vielleicht sogar für ein Jahrzehnt“, offengelassen werden. „Wenn unsere Generation nicht die nötige Weisheit besitzt, um diese Frage zu lösen, wird sie die nächste Generation sicher besitzen. Und dann wird eine Lösung gefunden werden können, die alle zufrieden stellen wird.“9
Zur damaligen Zeit war Chinas militärische Aufmerksamkeit vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet. Die Marine wurde vernachlässigt, und wirtschaftlich war die Volksrepublik schwächer als Argentinien. Heute holt sich China den – nach seinem Selbstverständnis –„wahren“ Platz zurück, was bei seinen Nachbarn Sorge auslöst. Die Senkaku/Diaoyu-Inseln liegen dabei genau auf der strategischen Bruchlinie der aktuellen geopolitischen Plattentektonik – eine schlechte Nachricht für alle Kurzschwanz-Albatrosse.