10.01.2014

Die drei Töne des Teufels

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Die drei Töne des Teufels

Karriere einer Dissonanz vom Mittelalter bis zur Jazz-Ära von Renaud Lambert

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Jeder hat wohl schon mal auf einem Klavier oder einer Gitarre geklimpert. Aber wer ahnte, dass er damit seine Seele gefährdet hat? Denn hinter den Noten lauert der Teufel. So stellte man es sich zumindest im christlichen Mittelalter vor. Schon seit Pythagoras zeigte sich die Perfektion des Kosmos in den Zahlen und der Harmonie: Das Quadrivium, die Krönung des Universitätsstudiums, bestand aus Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik. Niemand kam auf die Idee, diese Wissenschaften voneinander zu trennen.

Die mittelalterliche Kirche zog eine strenge Grenze zwischen „frommen“ und anderen Noten. Als Gipfel des Unerträglichen, ja Verbotenen, galt ein bestimmtes Intervall: die verminderte Quinte oder übermäßige Quarte,1 damals unter dem Namen Diabolus in musica oder Teufelsintervall bekannt. Die drei teuflischen Ganztonschritte („Tritonus“) die zum Beispiel die Noten C und Fis trennen, zerrissen, so glaubte man, den Wohlklang der Himmelsmusik und beschworen das Böse. Nicht zufällig ist er am Anfang des Songs „Black Sabbath“ der gleichnamigen Band zu hören, die gern mit schwarzer Magie kokettierte.

Die Abwehr der Gläubigen gegen diesen Klang lässt sich nicht (ausschließlich) mit der Angst vor dem Teufel erklären. 1863 zeigte der Physiker Hermann von Helmholtz, dass Harmonie nicht in den Sphären, sondern im Körper entsteht. Er stellte fest, dass jeder Ton in einer bestimmten Frequenz schwingt, und zeigte in seinem Aufsatz über „Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“,2 dass die gleichzeitigen Schwingungen von zwei verschiedenen Noten für das Ohr mehr oder weniger angenehm sind.

Die Mönche hatten das Gefühl, dass sie mit ihrem Gesang zur Vollendung gelangten, wenn ihr ganzer Körper unter der Resonanz von Oktaven, Quinten und Terzen vibrierte. Dissonante Intervalle dagegen, vor allem eben die verminderte Quinte, erzeugen sogenannte Schwebungen im Ohr. Die Mönche fürchteten sie, Helmholtz verglich sie mit dem Kratzen des Nagels auf der Haut.

Jahrhunderte später erlebte die verminderte Quinte, auf die man in anderen Weltregionen nie verzichtet hatte, im Abendland ein bemerkenswertes Comeback. Sie wurde durch den Jazz zur Blue Note geadelt und verlieh dem Bebop, der in den 1940er Jahren in den USA aufkam, seine ganz spezielle Färbung. Der Schriftsteller und Musiker James Lincoln Collier behauptet sogar, der diabolische Tritonus sei das „Symbol“3 des Bebop, zu dessen bekanntesten Vertretern Dizzy Gillespie und Charlie Parker gehören.

Der Musikologe Jacques Chailley4 ist der Ansicht, die westliche Musik habe sich durch die „Assimilierung“ neuer Noten weiterentwickelt, die in einer ganz bestimmten Reihenfolge erfolgte. Nimmt man einen hohlen, am besten einen gerillten Plastikschlauch und lässt ihn kreisen, hört man einen bestimmten Ton.5 Angenommen, es ist ein C. Beschleunigt man die Bewegung, ertönt derselbe Ton, aber eine Oktave höher. Noch etwas schneller, und man hört die Terz (E) und die Quinte (also ein G), dann die Septime (H), die None (D) und, wenn man den Schlauch schnell genug dreht, die Undezime (Fis), den berüchtigten Tritonus. Ähnlich sieht Chailley die Fortschritte der sogenannten Kunstmusik, die den Bereich des Hörbaren allmählich erweitert hat, indem sie die Intervalle in einer natürlichen Reihenfolge integrierte: im Mittelalter die Terz; etwa in der Renaissance die Septime; seit dem 18. Jahrhundert die None; im 19. Jahrhundert, mit Richard Wagner oder Claude Debussy, den Tritonus und so weiter.

Tatsächlich zeigte der Diabolus seine Hörner lange vor Debussys sinfonischer Dichtung über den Nachmittag eines Fauns („Prélude à l’après-midi d’un faune“, 1894). Je weiter sich die Musik von den himmlischen Sphären entfernte und den irdischen Seelen näherte, sich von der göttlichen Perfektion abwandte und für den Menschen interessierte, desto vertrauter wurde sie auch mit dem Tritonus. „Allerdings nur, wenn die vorübergehende Spannung (die er erzeugt) sofort in einer Konsonanz aufgelöst wurde“, schreibt der Komponist Dominique Bertrand.6 Bereits im 17. Jahrhundert führte diese Entwicklung vor allem unter dem Einfluss Claudio Monteverdis zur Aufnahme des Dominantseptakkords (für C-Dur: G-H-D-F), in dem der Tritonus auftritt, in die, wie Bertrand es nennt, „Palette des Komponisten“.

Mit dieser Veränderung beendete die Musik ihre langsame Wandlung von der Modalität (in der alle Noten von einer Tonleiter kommen) zu Dur-Moll-Tonalität mit ihren verschiedenen Tonarten: Der Dominantseptakkord und sein Tritonus ermöglichen den Wechsel von einer Tonart zur anderen außerhalb des festen Systems der als gottgegebenen betrachteten Harmonik.

Die Mönche vibrierten, Charlie Parker experimentierte

In derselben Zeit, hebt Bertrand hervor, „dreht Galilei sein Fernglas zum Himmel und zerbricht wie nebenbei die Vorstellung einer ‚Fixsternsphäre‘, die letzte Grenze des von Ptolomäus ererbten Weltbildes […] Der Kosmos verschiebt also sein Zentrum von der Erde zur Sonne, während sich die philosophischen Fragen von Gott zum Ego verschieben“, Letzteres dank René Descartes’. In seinem „Compendium musicae“ von 1618 schreibt der Philosoph als einer der Ersten über Harmonie, ohne sie mit dem Kosmos in Verbindung zu bringen.

Die Kunstmusik vertieft sich weiter in die Erkundung der menschlichen Seele und nimmt dabei neuen Spannungen in sich auf, deren Auflösung immer weiter hinausgezögert wird. Schließlich bleibt die Auflösung ganz aus. Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt der österreichische Komponist Arnold Schönberg diesen Prozess als allmähliche „Emanzipation der Dissonanz“.7

Von der Emanzipation der Dissonanz zur Emanzipation durch die Dissonanz wäre es nur ein Schritt. Für James Lincoln Collier ging die populäre Musik diesen Schritt mit dem Bebop, der einige Jahre vor der Entstehung der Bürgerrechtsbewegung in den USA in Mode kam: Diese neue musikalische Richtung bedeutete, so Collier, eine „wirkliche Unabhängigkeitserklärung“.

Die Bebopper verachteten die meisten anderen Jazzmusiker der 1930er Jahre; sie hielten sie für bloße Entertainer des weißen Publikums, die noch dazu die Stereotype einer zutiefst rassistischen Gesellschaft reproduzierten. Und der Einordnung in diese Stereotype wollten sie sich mit ihrer Kleidung, ihrem Auftreten und ihrer Musik widersetzen. Auch um das Publikum zu schockieren, erweiterte der Bebop das bisher verwendete harmonische System, wie es bereits die klassischen Komponisten des 19. Jahrhunderts getan hatten. Zu seinen Neuerungen gehörte die häufigere Verwendung bisher seltener Intervalle – vor allem der verminderten Quinte.

Kann man daraus schlussfolgern, dass die folgende Etappe der Musikentwicklung, in der sich die Kunstmusik zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Zwölftonmusik von der Tonalität löste und sich der Jazz (vor allem im Free Jazz) seit den 1950er Jahren von den Akkorddiagrammen befreite, das Schlusskapitel dieser „Emanzipation“ darstellt? Darüber streiten die Fachleute noch.

Schönberg, der Vorreiter der atonalen Musik, arbeitete in diese Richtung, allerdings waren seine Motive nicht unbedingt emanzipatorisch. Er verglich die Tonalität mit der Demokratie, die die Ideen großer Männer daran hindere, sich Geltung zu verschaffen. „Was Dissonanzen von Konsonanzen unterscheidet, ist nicht ein größerer oder geringerer Grad von Schönheit, sondern ein größerer oder geringerer Grad von Verständlichkeit.“8 Anders gesagt, die Unfähigkeit des Publikums, zu „verstehen“, habe die Musik in ihrer tonalen Organisation eingesperrt. Aber wenn Schönberg die Dissonanzen gänzlich befreit hätte, hätte er sie letztlich eliminiert. Wenn es keine Reibung gibt, bedeutet Konsonanz schließlich nichts mehr. Und der Diabolus wäre wieder aus der Musik verschwunden.

1941 befragte ein Journalist Duke Ellington nach der Bedeutung seines Werks. Als Antwort setzte sich der Musiker ans Klavier. Er spielte einen spannungsvollen Akkord und fragte: „Hören Sie diese Noten? Das ist das Leben der Schwarzen. […] Die Dissonanz ist unser Leben in diesem Land. Wir sind außerhalb, zugleich aber hier zu Hause.“9

Aus welchen Noten dieser Akkord bestand, weiß niemand mehr. Aber sicherlich kam ein Teufelchen darin vor.

Fußnoten: 1 Ich höre die Spezialisten schon schreien. Sie haben nicht Unrecht: Theoretisch sind übermäßige Quarte (drei Ganztonschritte) und verminderte Quinte (zwei Halbton- und zwei Ganztonschritte) keine gleichen Intervalle. Auf dem temeprierten Klavier ergeben jedoch beide in der Summe denselben Intervall. 2 Hermann von Helmholtz, „Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“, 4. Auflage, Braunschweig (Vieweg) 1896. 3 James Lincoln Collier, „The Making of Jazz: A Comprehensive History“, Boston (Houghton Mifflin) 1978. 4 Jacques Chailley, „Traité historique d’analyse harmonique“, Paris (Alphonse Leduc) 1977. 5 Für eine Demonstration siehe das Video „Les harmoniques d’un tuyau“ auf Youtube. 6 Dominique Bertrand, „Penser la musique: la part du diable“, Insistance, Bd. 2, Nr. 1, Toulouse 2005. 7 Arnold Schönberg, „Die formbildenden Tendenzen der Harmonie“, Mainz (Schott) 1957. 8 Arnold Schönberg, „Stil und Gedanke“, Frankfurt am Main (Fischer Verlag) 1992. 9 Mark Tucker (Hg.), „The Duke Ellington Reader“, USA (Oxford Paperbacks) 1995. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 10.01.2014, von Renaud Lambert