Eine Chance für die Ukraine
von Jakob Mischke und Andreas Umland
Am 21. November 2013 überraschte der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow die Europäische Union mit der Erklärung, dass Kiew die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit Brüssel aussetze. Beobachter postsowjetischer Politik hatten zwar nie Zweifel daran, dass der Europakurs des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und seiner Regierung bestenfalls halbherzig war.
Doch schien der Assoziierungsvertrag sowohl für den Staats- als auch den Regierungschef der Ukraine eine gute Möglichkeit zu sein, ihre stetig an Popularität verlierende dreieinhalbjährige Regentschaft doch noch in einen Erfolg zu verwandeln. Die Unterzeichnung des geschichtsträchtigen Abkommens hätte insbesondere Janukowitsch zu einer historischen Figur gemacht, seine eventuelle Wiederwahl als Präsident 2015 befördert sowie ihm und seiner Familie darüber hinaus informellen Schutz vor Verfolgung in der Zukunft verschafft.
Auf dem Ostpartnerschaftsgipfel in Vilnius Ende November 2013, auf dem auch Angela Merkel anwesend war und das EU-Ukraine-Abkommen unterzeichnet werden sollte, blieb Janukowitsch jedoch kühl. Zur großen Enttäuschung insbesondere der ukrainischen Intellektuellen und Jugend, die bis zuletzt auf eine positive Wendung gehofft hatten, kehrte der ukrainische Präsident mit leeren Händen von diesem Treffen der EU mit den sechs postsowjetischen Staaten ihres Nachbarschaftsprogramms in die Hauptstadt Kiew zurück. Die darauffolgenden Proteste in vielen Städten der Ukraine erschüttern nun das Regime von Janukowitsch und Asarow in seinen Grundfesten. Die Proteste zeigen, welche Risiken, die wankelmütigen Lenker der Ukraine mit ihrem abrupten Schwenk eingegangen sind.
Janukowitschs und Asarows Weigerung, den von ihrer eigenen Regierung im Sommer 2012 paraphierten und einem offiziellen EU-Integrationsgesetz der Ukraine folgenden Vertrag nun auch zu unterzeichnen, war offenbar keine autonome Entscheidung. Alles deutet darauf hin, dass der während der letzten Monate massiv erhöhte russische Druck auf Kiew eine Rolle spielte, womöglich den Ausschlag gab. Putin möchte ganz offensichtlich, dass die Ukraine, anstatt sich mit der EU zu assoziieren, der Zollunion beziehungsweise der künftigen Eurasischen Union mit Russland, Weißrussland und Kasachstan anschließt.
Offene Warnungen, versteckte Drohungen
Im August 2013 demonstrierte Russland der Ukraine kurz, mit welchen Folgen sie im Falle einer Vertragsunterzeichnung mit der EU rechnen müsste. Durch eine unangekündigte Verschärfung der Zollregeln an der russisch-ukrainischen Grenze wurde nahezu der gesamte ukrainische Export nach Russland für fünf Tage gestoppt. Die Verluste der ukrainischen Exporteure wie auch russischer Importeure gingen in die Millionen. Seither hat es von russischen offiziellen Repräsentanten eine Vielzahl weiterer offener Warnungen und versteckter Drohungen für den Fall gegeben, dass die Ukraine den EU-Assoziierungsvertrag unterzeichnet.
Das russische Druckpotenzial ergibt sich aus der Asymmetrie der Handelsbeziehungen Russlands und der Ukraine. Der Anteil der Ukraine an den russischen Importen beträgt nach Zahlen der WTO 5,5 Prozent. Er könnte leicht durch Importe aus anderen Ländern oder auch Eigenproduktion ersetzt werden. Dahingegen geht etwa ein Viertel der ukrainischen Exporte nach Russland (ungefähr so viel wie in die EU), ein Drittel in die gesamte von Moskau dominierte Zollunion.
Ein großer Teil der von der Ukraine nach Russland exportierten Waren, etwa diverse Maschinen und Anlagen, kann nicht ohne kostspielige Qualitätsanpassungen auf anderen Märkten abgesetzt werden. Ganze Industriezweige sind daher vom russischen Markt mehr oder minder abhängig. Hinzu kommt, dass die Ukraine auf Rohstoff-, insbesondere Gaslieferungen aus Russland angewiesen ist. Und Putin hat mehrfach, so 2004 bei der Yukos-Affäre1 oder 2008 beim Georgienkrieg, deutlich gemacht, dass für ihn im Zweifelsfall ökonomische Kalkulationen zweitrangig sind.
Was immer man über Janukowitsch denken mag: Er und seine Regierung, wie die Ukraine insgesamt, stehen vor einem Dilemma. Mittel- bis langfristig mag das Assoziierungsabkommen mit der EU für die Ukraine viele Chancen bieten und den einzigen Weg für eine nachhaltige Modernisierung der maroden Wirtschaft und ineffektiven Verwaltung darstellen. Kurzfristig jedoch haben sich die Kosten für eine Anpassung der ukrainischen Wirtschaft an den EU-Markt durch die angekündigten „Schutzmaßnahmen“ Russlands drastisch erhöht.
Im Falle russischer Sanktionen nach Art des Importstopps vom August müsste die Ukraine für ihre EU-Assoziierung mit einem Einbruch ihrer Industrieproduktion, wachsender Arbeitslosigkeit, mit sozialen Unruhen und Währungsverfall bezahlen. Die Wirtschaftslage der Ukraine ist ohnehin prekär – nicht zuletzt weil Russland bereits erste Handelsbeschränkungen, quasi als Vorwarnung, verhängt hat. Weitere russische Importbeschränkungen würden die Ukraine in die Rezession stürzen, die zur Destabilisierung des fragilen Staates führen könnte.
Trotz dieser ernsten geopolitischen Konfrontation in ihrer unmittelbaren Nachbarschaf hat die EU bisher lediglich mit pathetischen Verlautbarungen an die Adresse Russlands und wagen Hilfsversprechen an Kiew reagiert. Vor allem haben die Mitgliedstaaten der EU bisher keinen Zusammenhang zwischen ihren eigenen Handelsbeziehungen mit Russland und dem russisch-ukrainischen Konflikt geschaffen. Die EU erklärt zwar, eine Partnerschaft mit der Ukraine eingehen und sich durch den größten Außenvertrag ihrer Geschichte mit der Ukraine assoziieren zu wollen. Aber tatsächlich als Partner der Ukraine zu agieren und die daraus resultierende Verantwortung zu übernehmen – dazu ist die Union offenbar nicht bereit. Die eigenen lukrativen Russlandgeschäfte und die von der EU mitverursachten Spannungen in den russisch-ukrainischen Beziehungen werden als getrennte Angelegenheiten behandelt.
Mit der geplanten Assoziierung würde die Verantwortung der EU nicht mehr an der ukrainischen Grenze enden, und das Land könnte mit seinen Problemen nicht mehr alleingelassen werden. Das kann zwar nicht bedeuten, dass die EU die zu erwartenden Verluste einfach durch Geldtransfers oder Kredite ausgleicht, wie die ukrainische Regierung es wünscht: Bei der gegenwärtig herrschenden Korruption im ukrainischen Staatsapparat wäre das ohnehin ein Fass ohne Boden. Doch die EU könnte der Ukraine offiziell anbieten und gleichzeitig dem Kreml klar signalisieren, dass die Gleichbehandlung ausländischer Exporteure auf dem russischen Markt von den assoziierten Partnern künftig gemeinsam eingefordert werden wird.
Die EU kann hier zu ihrem eigenen Nutzen sowohl ihre Kompetenz in Schlichtungsverfahren als auch ihr weltwirtschaftliches Gewicht zur Geltung bringen. Sollte die russische Regierung sich auf keine Schlichtung etwa durch die WTO einlassen und Strafmaßnahmen gegen eine mit der EU assoziierte Ukraine rücksichtslos durchsetzen, müsste auch laut über direkte Gegenmaßnahmen gegenüber Moskau nachgedacht werden. Die Union wäre dazu in der Lage: Sie ist der mit Abstand größte Handels- und Innovationspartner Russlands.2
Dies könnte die EU in zweifacher Hinsicht ausnutzen: Russland hat viel Erdgas und Dutzende potenzielle Kunden rund um die Welt. Doch die meisten der russischen Pipelines führen gen Westen und können nicht ohne Weiteres ersetzt werden. Zudem braucht Russland die Überweisungen aus Europa dringend. Sollte es tatsächlich zu einem Handelskrieg mit der Ukraine kommen, könnte die EU durch beschleunigte Substitution die Gasimporte aus Russland schneller herunterfahren als bislang geplant – und so auch ihre Abhängigkeit von der russischen Außenpolitik verringern. Ein eindeutiges Signal in diese Richtung kann der Östlichen Partnerschaft wieder Bedeutung verleihen.
Zum anderen könnte die EU Putins Wunsch, in den ukrainischen Assoziierungsprozess einbezogen zu werden, als Chance begreifen. Brüssel könnte Moskau eine Beteiligung an künftigen Absprachen sowie ein dreiseitiges Zusatzmemorandum anbieten und Russland damit an der Schaffung des neuen Freihandelsraums beteiligen. Dies wäre freilich nur dann sinnvoll, wenn dadurch die Unterzeichnung des bereits paraphierten Textes nicht verzögert würde oder das ukrainische Assoziierungsabkommen nicht neu verhandelt werden müsste.
Putin möchte mit der EU zusammenarbeiten, um Russlands Wirtschaft technologisch zu erneuern. Er will dies vor allem, um sein Staatsmodell, in dem er und seine Vertrauten Milliarden zur Seite schaffen können, auch in Zukunft zu sichern. Der Verkauf von Rohstoffen schafft dabei nur kurzfristig Stabilität. Er erlaubt keine nachhaltige Modernisierung der russischen Wirtschaft, was mittelfristig deren Konkurrenzfähigkeit wie auch die Legitimität des Putin-Regimes gefährdet. Ein tatsächlich effektiver Umbau des Wirtschaftssystems kann aber nicht nur durch den Import neuer Technologien erfolgen – die staatliche Verwaltung müsste verbessert werden, was wiederum Risiken für das heutige russische Modell birgt.
Szenarien für die nächsten Wahlen
In einem ähnlichen Zwiespalt, ob sie sich auf regelbasiertes Wirtschaften einlassen sollen oder nicht, befinden sich die ukrainische Führung und die sogenannten Oligarchen. Diese Ambivalenz war ein zweiter wichtiger Grund für der Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens im November. Anfang Dezember sah es zwar kurzzeitig so aus, als ob sich einige Oligarchen sowie von ihnen abhängige Parlamentsabgeordnete gegen den Kurs des Präsidenten wenden und auf die Seite der Demonstranten schlagen würden. Doch konnte Janukowitsch nach der raschen Moskauer Milliardenspritze und Gaspreissenkung die Reihen wieder schließen. Damit scheint ein baldiger Rücktritt der Regierung oder gar des Präsidenten, wie es die Demonstranten auf dem Euromaidan fordern, wieder in die Ferne gerückt zu sein.
Die drei Oppositionsparteien Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (UDAR), „Vaterland“ und „Freiheit“ sind auf dem Euromaidan vor allem durch ihre Vorsitzenden und potenziellen Präsidentschaftskandidaten präsent: den ehemaligen Boxer Vitali Klitschko, den Vorsitzenden der Tymoschenko-Partei, Arsenij Jazenjuk, und den Nationalisten Oleh Tjahnybok. Das Interesse der parlamentarischen wie außerparlamentarischen Opposition an der europäischen Integration besteht vor allem darin, die Ukraine vom russischen Einfluss zu befreien, ökonomisch zu modernisieren und zu einem Rechtsstaat zu machen. Dass durch die Assoziierung die ukrainische Wirtschaft kurzfristig Schaden nehmen kann, halten die Oppositionellen für das geringere Übel.
Im Prinzip befürworten alle wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen, mit Ausnahme der Kommunisten, einen proeuropäischen Kurs. Die Parteien haben lediglich unterschiedliche Ansichten darüber, wie mit den Kosten der EU-Integration umgegangen und inwieweit russischem Druck nachgegeben werden soll. Zwar ist die Unterstützung bei der Bevölkerung der Ost- und Südukraine für eine Europäisierung geringer als im Zentrum und Westen; insofern bildet der Euromaidan die Ukraine nicht repräsentativ ab. Doch der Großteil der Elite – Politiker, Professoren, Unternehmer, Künstler wie Beamte – steht hinter der Assoziierung und einer möglichen EU-Mitgliedschaft.
In den anstehenden Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2015 ist Klitschko der mit Abstand aussichtsreichste Kandidat unter den drei Oppositionsführern. Zwar hat er wenig politische Erfahrung und ist ein bislang ungelenker öffentlicher Redner, doch nach Umfragen verfügt der Boxweltmeister bereits jetzt über genug Rückhalt in der Bevölkerung, um im zweiten Wahlgang die Stichwahl gegen Janukowitsch klar zu gewinnen. Bemerkenswert an Klitschkos Popularität ist, dass sie, stärker als bei den anderen Kandidaten, in allen Landesteilen mehr oder minder groß ist.
Die drei Oppositionsparteien sind ideologisch unterschiedlich ausgerichtet und werden von ambitionierten Politikern geführt, die sich in der Vergangenheit häufig gestritten haben. In den letzten Wochen haben die Parteiführer Klitschko, Jazenjuk und Tjahnybok allerdings stets Einigkeit demonstriert. Das gibt Hoffnung, dass die drei Parteien auch in einem künftigen Vorwahlkampf zusammenarbeiten werden. Zwar besteht insbesondere zwischen Klitschkos eher liberaler UDAR-Partei und Tjahnyboks nationalistischer „Freiheit“ ein erheblicher programmatischer Bruch. Angesichts ihres skrupellosen Gegners und aufgrund gemeinsam überstandener Konfrontationen mit der Regierung scheint sich jedoch ein nachhaltiger Modus Vivendi zwischen den wichtigsten Oppositionsgruppen herausgebildet zu haben. Auch werden Beobachter und Aktivisten der Protestbewegung darauf achten, dass die Chance zum Machtwechsel nicht durch Rangeleien in der Opposition vertan wird.
Voraussetzung ist allerdings, dass, zum einen, die Ukraine weiterhin eine Präsidialrepublik bleibt und es, zum anderen, bei den Wahlen mit rechten Dingen zugeht. So könnte Klitschko auch noch kurz vor den Wahlen trotz (oder gerade wegen) seiner großen Popularität von einer Kandidatur ausgeschlossen werden, da nur Personen antreten dürfen, die in den vorhergehenden zehn Jahre dauerhaft in der Ukraine gelebt haben. Der diesbezügliche Gesetzestext ist nicht eindeutig, doch er könnte gegen Klitschko, der eine Villa in Hamburg besitzt und in Deutschland Steuern zahlte, eingesetzt werden. Darüber hinaus muss man damit rechnen, dass das Wahlergebnis, wie schon früher geschehen, durch Stimmenkauf oder Druck auf öffentliche Angestellte manipuliert wird.
In einem zweiten Szenario kann es passieren, dass man sich auf eine Verfassungsänderung einigt und die Ukraine in eine parlamentarische Republik verwandelt. In diesem Fall läge das Zentrum der Macht in der Werchowna Rada (Oberster Rat). Falls es bei einer solchen Machtverschiebung nicht zu Neuwahlen käme, entspräche die Sitzverteilung dem vielfach kritisierten Ergebnis der Parlamentswahlen vom Oktober 2012. Damals konnte die jetzige Mehrheit für die Regierungspartei und die Kommunisten nur mit diversen Tricks und Manipulationen gesichert werden. Auch bei diesem Szenario bleibt jedoch unbestimmt, wie die künftige Führung aussehen würde: Da Janukowitsch’ Partei der Regionen ein Konglomerat verschiedener Interessenvertretungen ist, könnte sie bei einer Fortsetzung der politischen Krise 2014 oder 2015 eine neue Regierung bilden, in eine proeuropäisch und eine prorussische Fraktion auseinanderbrechen oder die Koalition mit einer der Oppositionsparteien suchen.
Die innen- wie außenpolitische Zukunftsperspektive bleibt unklar – wie auch immer die gegenwärtige Krise ausgeht, ob die Präsidentschaftswahlen tatsächlich 2015 stattfinden und wer sich am Ende durchsetzt. Selbst bei einer stabilen Fortführung der jetzigen Regierung kann das Kalkül der ukrainischen Oligarchen, die weiterhin eine entscheidende Rolle spielen, eine andere Richtung opportun erscheinen lassen. Womöglich wäre dann auch Janukowitsch, entweder in seiner jetzigen oder einer nächsten Amtszeit, wieder daran interessiert, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen.
Unabhängig von der Position der künftigen ukrainischen Regierung sollte der Wunsch des Kreml, in die Verhandlungen zum Abschluss der EU-Assoziierungsabkommen mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft eingebunden zu werden, nicht von vornherein als Störfaktor betrachtet werden. Eine trilaterale Gesprächsrunde Brüssels, Moskaus und Kiews über den Abbau von Handelshindernissen kann als Instrument zum schrittweisen Export europäischer Werte und Normen über die Ostpartnerschaftsländer hinaus begriffen werden. Die EU muss dabei die Moskauer Bedenken ernst nehmen und deutlich machen, dass es nicht darum geht, die Ukraine aus dem russischen Machtbereich herauszulösen und in ihren eigenen zu integrieren. Selbst wenn ein solcher Kompromiss nicht zustande käme oder erfolglos wäre: Allein der Vorschlag würde die Position Moskaus schwächen. Brüssel hätte guten Willen gezeigt, und Moskau könnte nicht mehr die Rolle des als Schmuddelkind von Europa ausgeschlossenen Opfers einnehmen.
Es liegt längerfristig ohnehin im Interesse der EU, dass international vereinbarte Rechtsprinzipien und Konfliktregelungsmechanismen für den Austausch von Waren und Dienstleistungen auch über die Grenzen der Freihandelszonen mit den Ländern der Ostpartnerschaft hinaus funktionieren.