Die dritte Bedrohung Israels
Die Angst der Regierung Netanjahu vor zivilen Protesten von Thomas Keenan und Eyal Weizman
Viele Details über den israelischen Angriff auf die „Mavi Marmara“, jenes türkische Schiff, das am 31. Mai 2010 zu einer Flottille gehörte, die Hilfsgüter für den Gazastreifen geladen hatte, sind noch ungeklärt. Aber eines ist jetzt schon sicher: Die Tötung von neun Aktivisten ist symptomatisch für den drastischen Bewusstseinswandel des israelischen Staats im Hinblick auf zivilgesellschaftliche Organisationen und das humanitäre Völkerrecht.
Zwei neue parallel verlaufende Entwicklungen zeichnen sich im Kontext des Palästinakonflikts ab: Erstens wird die humanitäre Hilfe zunehmend politisiert, und zweitens nimmt die aktuelle israelische Führung das internationale Recht und Menschenrechtsorganisationen immer stärker als Bedrohung wahr.
Dass Hilfskonvois angegriffen, Hilfsgüter konfisziert, Mitarbeiter von NGOs entführt oder getötet, Krankenhäuser und Versorgungseinrichtungen überfallen und zerstört werden, kennt man von repressiven Regimen oder gewaltbereiten Milizen, die Hilfe für die Zivilbevölkerung häufig als Parteinahme für den Feind interpretieren. Wo die Kontrolle über die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung in den kriegerischen Konflikt hineingezogen wird, wird die Versorgung mit Nahrung, Arzneimitteln und Unterkunft zunehmend als „parteiisches“ Handeln angesehen.
Toni Pfanner vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) schrieb schon 2005 in der International Review of the Red Cross: „Die Angriffe im Irak und in Afghanistan auf humanitäre Organisationen, auch auf das IKRK, haben gezeigt, dass humanitäre Hilfe den Interessen der Kriegsparteien zuwiderläuft oder, schlimmer noch, dass Angriffe auf die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zum festen Bestandteil ihrer Strategie werden.“1
Humanitäre Interventionen unterliegen strengen Prinzipien: Neutralität, Unvoreingenommenheit und Beschränkung allein auf das Ziel, den zivilen Opfern eines Konflikts beizustehen. Den Mitarbeitern von Hilfsorganisationen gelingt es allerdings nicht immer, die Konfliktparteien von ihrer Neutralität zu überzeugen. Und manche tun sich schwer, zwischen ihrem Einsatz für die Opfer und ihren politischen Überzeugungen zu unterscheiden.
Wer für die Menschenrechte kämpft, beruft sich auf universelle Werte, aber wer für Gerechtigkeit eintritt, kann oft keinen neutralen Standpunkt einnehmen. Deshalb wird es immer schwieriger, humanitäre Prinzipien, Menschenrechte und politische Parteinahme auseinanderzuhalten. In jüngster Zeit gab es daher heftige Diskussionen darüber, dass Hilfsaktionen sehr wohl politisch motiviert und manipuliert sein können – und zwar von Gebern wie von Empfängern und sogar von Instanzen, die den Zugang kontrollieren.2
Israels Bemühungen, die humanitäre Situation im Gazastreifen als Mittel staatlicher Politik einzusetzen, gehören zu dieser neueren Geschichte der Instrumentalisierungen.3 Gemäß einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom Januar 2008 orientiert sich die Blockadepolitik gegen Gaza zwar an dem Grundsatz, dass Israel den Bewohnern des „feindlichen Gebiets“ einen „humanitären Mindeststandard“ garantiert – schon um eine humanitäre Krisensituation zu verhindern –, aber mehr auch nicht.4
Als die Blockade Mitte 2007 verhängt wurde, definierte ein israelischer Regierungsvertreter die drei Prämissen dieser Politik: „Kein Wohlstand, keine Entwicklung, keine humanitäre Krise.“ Und Dov Weisglass, ein Berater des früheren Premiers Ehud Olmert, präzisierte: „Den Palästinensern wird eine Diät verpasst, sie sollen aber nicht verhungern.“5
Knapp über dem Hungerniveau
Im Juni 2009 veröffentlichte die Tageszeitung Ha’aretz ein Regierungsdokument mit dem Titel „Grenzwerte“ („Red Lines“). Darin wird haarklein, nach Alter und Geschlecht differenziert, die Gesamtmenge an Kalorien für die Bevölkerung des Gazastreifens festgelegt, gerade so viel, dass sie knapp über dem von den Welternährungsexperten der Vereinten Nationen definierten Hungerniveau liegt.6 Die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung funktioniert natürlich nur, wenn die Lieferungen die israelischen Grenzposten passieren und nicht etwa durch Tunnel aus Ägypten oder in Booten übers Meer herangeschafft werden.
Die Politisierung der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen spiegelt sich in den zunehmend parteiischen Stellungnahmen mancher Hilfsorganisationen. Auch die Aktivisten der Gaza-Hilfsflotte wollten eben nicht wie das Rote Kreuz auftreten, sondern hatten die erklärte Absicht, die „Belagerung von Gaza zu durchbrechen“. Deshalb hatte die Flottille auch keine Lebensmittel geladen, sondern Sachen für den Wiederaufbau, insbesondere Baumaterialien, die Israel nicht zulässt.
Da durch die Blockade die alltäglichen Lebensbedingungen in Gaza unmittelbar beeinträchtigt werden sollen, und zwar aus strategischen Erwägungen, bewertet das Militär jede unabhängige, seiner Kontrolle entzogene Hilfe als direkte Einmischung. Weil für Israel auch die humanitäre Hilfe zu einem Faktor im Kampf um Palästina geworden ist, müssen parteiische wie unabhängige Hilfsorganisationen damit rechnen, wie Feinde behandelt zu werden. Das dürfte einer der Gründe sein, warum die israelischen Kommandoeinheiten tödliche Gewalt anwendeten, um „die Nation“ gegen einen Hilfskonvoi „zu verteidigen“.
Allerdings waren es bislang fast ausnahmslos marodierende Milizen, Söldnerhaufen, Verbrecherbanden oder die Ordnungsmächte von Polizeistaaten, die für gezielte Angriffe auf Mitglieder von Hilfsorganisationen oder Menschenrechtler (ob neutral oder parteiisch) verantwortlich waren. Damit stellt sich die Frage, ob die israelische Arme mit ihrem tödlichen Angriff auf die „Mavi Marmara“ den Taliban oder den serbischen Verbänden in Bosnien, den Aufständischen im Irak oder den Organisatoren der „schmutzigen Kriege“ in Lateinamerika nacheifern will.
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die ganze Geschichte bis in ihre Anfänge zurückverfolgen. Der Angriff auf die „Mavi Marmara“ (dem am 5. Juni die – weniger gewaltsam verlaufene – Aufbringung des Hilfsgüterschiffs „MV Rachel Corrie“ folgte) bedeutete nur den brutalen Höhepunkt einer schon länger anhaltenden Entwicklung. Noch bevor die Flotille von Hilfsschiffen ausgelaufen war, hatte Israels stellvertretender Außenminister Danny Ajalon erklärt, der Hilfskonvoi sei nur „eine Provokation, um Israel in Misskredit zu bringen“, denn es gebe in Gaza „keine humanitäre Krise“. Das Presseamt der israelischen Regierung ging so weit, Journalisten per E-Mail die Speisekarte eines Restaurants in Gaza-Stadt zu schicken.7 Nach dem Angriff setzte Ajalon noch eins drauf, indem er den Konvoi als „Armada des Hasses und der Gewalt“ bezeichnete, die nur „der Unterstützung der Terrororganisation Hamas“ diene.
Dieser Satz ist bezeichnend für die Haltung der israelischen Regierung zu allen Aktivitäten von NGOs. Die Kampagne begann schon im Sommer 2009, nachdem in Berichten von Menschenrechtsorganisationen über die Operation „Gegossenes Blei“ (die Bombardierung des Gazastreifens von Dezember 2008 bis Januar 2009) dem israelischen Militär schwere Vorwürfe gemacht worden waren.8 Auf diese Berichte – und ihre Autoren – reagierte die damals neue Regierung von Benjamin Netanjahu (der sich schon in seiner ersten Amtszeit von 1996 bis 1999 als Hardliner profiliert hatte) außerordentlich scharf. „Wir werden weder an Zeit noch Personal sparen, diese Gruppen zu bekämpfen“, erklärte im Juli 2009 Ron Dermer, Leiter der Abteilung Politische Planung im Büro des Premierministers, gegenüber der Jerusalem Post. „Wir lassen uns nicht zur Zielscheibe von Menschenrechtsgruppen machen“, die nach den Worten Dermers „Öl ins Feuer gießen und das Geschäft der Hamas besorgen“.9
Bei einem Treffen mit Siedlern im August 2009 sagte der Minister für strategische Angelegenheiten (und ehemalige Generalstabschef) Mosche Jaalon im Hinblick auf die Aktivisten von Peace Now: „Wir haben es hier wieder mit dem Virus Peace Now zu tun – mit elitären Leuten sozusagen, die großen Schaden angerichtet haben.“10 Wegen dieser Bemerkung wurde Jaalon zwar von Netanjahu kritisiert, aber seine Wortwahl war typisch für den Stil der anschließenden Hetzkampagne gegen die UN-Kommission für Ermittlungen zum Gazakrieg, die unter Vorsitz des südafrikanischen Richters Richard Goldstone am 24. September 2009 ihren Bericht vorlegte.11
Der Goldstone- Effekt
Der Goldstone-Bericht enthielt Belege, dass sich Israel wie die Hamas während des Gazakonflikts schwerer Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht schuldig gemacht hatten. Dabei wurde insbesondere der israelischen Seite vorgehalten, Kriegsverbrechen und womöglich auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.
Im Grunde hätte Israel diesen Bericht ignorieren oder in der üblichen Manier als Machenschaft der „Feinde Israels“ abtun können. Aber die Regierung Netanjahu nahm die Vorwürfe sehr ernst – wenn auch in anderer Weise, als es sich die Kommission gewünscht hätte. Sie beschloss, nicht nur den Goldstone-Bericht zu „bekämpfen“, sondern sich gegen eine international verbreitete Haltung zu verwahren, die sie in diesem Text exemplarisch angelegt sieht: die Tendenz, die Legitimität und das Existenzrecht Israels infrage zu stellen. Seitdem spricht die israelische Regierung, wo immer sie eine solche Tendenz sieht, von „Goldstonismus“ oder dem „Goldstone-Effekt“.12
Im November 2009 hielt Netanjahu vor dem Saban-Forum (einem der führenden israelischen Institute für Sicherheitsfragen) einen Vortrag über die „drei Bedrohungen der Sicherheit Israels“. Als erste Gefahr nannte er einen „atomar gerüsteten Iran“ und dessen Drohung, „Israel von der Landkarte zu radieren“. Die zweite Gefahr sah er in grenzüberschreitenden „Raketen- und Granatwerferangriffen“ durch militante islamistische Organisationen wie die Hamas oder die libanesische Hisbollah. Nach diesen beiden ebenso gefährlichen wie bekannten Gegnern Israels benannte er eine neue, die dritte Gefahr: „Die dritte Bedrohung des Friedens besteht in dem Versuch, Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu bestreiten. Genau das ist die Absicht des Goldstone-UN-Reports über Gaza.“13
Diese Argumentationslogik hat weitreichende Konsequenzen. Netanjahu beeilte sich natürlich, zu versichern, dass die Gefahr nicht nur von Richter Goldstone oder überhaupt von einem bestimmten Report oder einer einzelnen Organisation ausgehe. Auch sei der UN-Bericht nicht nur für Israel problematisch, vielmehr drohe er „allen Staaten die Hände zu binden, die im Kampf gegen den Terrorismus stehen“. Im Kern sagte der Regierungschef damit: Das eigentliche Problem sind nicht die (politisch oder ideologisch motivierten) Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, sondern diese Rechtsgrundsätze selbst, die in ihrer heutigen Form zum Beispiel „Terroristen schützen, die den Schutz ziviler Wohngebiete suchen, um willkürlich Angriffe auf unschuldige Menschen auszuführen“. Solche rechtlichen Regeln würden mithin die moralischen und rechtlichen Positionen der Staaten schwächen, die diese Terroristen bekämpfen.
Netanjahu zufolge muss das humanitäre Völkerrecht, um dieser „Bedrohung“ die Stirn bieten zu können, völlig umgeschrieben werden: „Vielleicht wird paradoxerweise gerade die entschlossene Antwort internationaler Juristen und führender Staatsmänner auf diesen moralisch zweideutigen (Goldstone-)Bericht dazu beitragen, dass in den heutigen Zeiten des Terrors das Kriegsrecht neu definiert wird.“
Es ist eine Sache, die Genfer Konventionen und das humanitäre Völkerrecht zu kritisieren. Eine andere Sache ist es schon, diese Bestimmungen zu verletzen oder abzulehnen, wie es Staaten und nichtstaatliche Akteure heutzutage ständig tun. Einen entscheidenden Schritt weiter geht allerdings eine Regierung, die das humanitäre Völkerrecht und seine Verfechter zur Bedrohung für ihren Staat erklärt, die es systematisch zu bekämpfen gelte. Das aber ist die Haltung, die von der israelischen Regierung inzwischen fast routinemäßig vertreten wird. Sie dürfte die Erklärung dafür sein, dass Rechtsmeinungen, wie sie dem Goldstone-Report zugrunde liegen, als existenzielle Bedrohung verstanden werden, weil sie die israelische Praxis der „unverhältnismäßigen“ Gegenschläge einschränken.
Vor diesem Hintergrund macht der Angriff auf die „Mavi Marmara“ klar, was die israelische Führung meint, wenn sie sagt, dass mit der „Straffreiheit“ für NGOs und andere internationale Aktivisten Schluss sein muss. Und warum sie diese Akteure neuerdings als strategische Bedrohung begreift, die sie als ebenso gefährlich ansieht wie iranische Atomwaffen oder tausende Raketen und Granatwerfer an ihren Grenzen.
Im Januar 2010 äußerte sich auch Gidie Grinstein, Direktor des Reut Institute, eines führenden israelischen Thinktanks, über den „Krieg um die Legitimität“. Er schrieb in der Tageszeitung Ha’aretz: „Unseren Politikern und Militärs drohen Verhaftung und Gerichtsverfahren, wenn sie ins Ausland reisen, Boykottkampagnen gegen unsere Exporte zeigen immer mehr Wirkung, in akademischen Institutionen und manchen intellektuellen Kreisen wird unsere Existenz infrage gestellt. Das Land gerät zunehmend in die Isolation. Doch bislang hat Israel diese Tendenzen noch nicht als die strategische oder gar existenzielle Bedrohung begriffen, die sie tatsächlich darstellen.“14
Mittlerweile hat man es offenbar doch „begriffen“: Die Regierung und einige von ihr kontrollierten Organisationen haben eine umfassende Kampagne gestartet, mit der sie ihrerseits bestimmten Menschenrechtsorganisationen die „Legitimität“ streitig machen wollen. Bei diesem Projekt geht es nach den Worten eines der Initiatoren darum, „einige selbst ernannte ‚humanitäre NGOs‘ daran zu hindern, unter Berufung auf die ‚universellen Menschenrechte‘ ihre politisch und ideologisch motivierten Angriffe gegen Israel zu führen“.15 So machen etwa rechte israelische Organisationen Front gegen den New Israel Fund (NIF), eine 1979 in den USA gegründete Vereinigung, die zivilgesellschaftliche Aktivitäten in Israel fördert. Dem NIF – wie den von ihm unterstützten NGOs – wird vorgeworfen, sie hätten Grundfesten des Staats untergraben, indem sie die Goldstone-Kommission mit Informationen versorgt hätten.16
Die aktuelle politische Stimmungslage dokumentieren noch zwei wichtige Entscheidungen der Knesset: Im Februar 2010 verabschiedete das Parlament mit großer Mehrheit ein Gesetz, das für alle Organisationen, die von ausländischen Regierungen unterstützt werden, die steuerliche Befreiung aufhebt. Damit verlieren die meisten humanitären Organisationen und Menschenrechtsgruppen die Möglichkeit, Spenden aus dem Ausland zu beziehen. Und im April 2010 folgte ein Gesetzentwurf, nach dem alle NGOs, die im Ausland Prozesse gegen Vertreter der israelischen Regierung oder des Militärs anstrengen, verboten werden sollen.
Auch das Militär geht verstärkt gegen die Aktivisten internationaler Organisationen vor. Die Kommandoaktionen der israelischen Streitkräfte in palästinensischen Städten richten sich in letzter Zeit weniger gegen militante Palästinenser als gegen ausländische Aktivisten, vor allem gegen Europäer des International Solidarity Movement. Andere Ausländer werden bereits bei der Einreise abgewiesen oder in ein neues Untersuchungsgefängnis verbracht, das nur für diesen Zweck im Flughafen von Tel Aviv eingerichtet wurde.
In einem offenen Brief von Ende Januar 2010 protestierten dreizehn israelische Menschenrechtsorganisationen gegen die vermehrten „Angriffe auf Organisationen, die sich für Menschenrechte und sozialen Wandel in Israel einsetzen“. In ihrem offenen Brief zitieren sie „wiederholte abschätzige Bemerkungen von Regierungsvertretern“, die den zivilgesellschaftlichen Organisationen die Legitimation absprechen wollten, wie der Minister für strategische Angelegenheiten, Mosche Jaalon, der die israelischen Menschenrechtler als den künftigen „inneren Feind“ bezeichnet haben soll, was offensichtlich impliziert, dass die internationalen Nichtregierungsorganisationen den „äußeren Feind“ darstellen.17
Dieses neue „Feindbild“ dürfte der Grund dafür sein, dass im Fall der „Mavi Marmara“ ein militärischer Großeinsatz gegen eine humanitäre Mission geführt wurde (obwohl seit Jahren immer wieder Schiffe mit Hilfsgütern nach Gaza einlaufen durften). Und es dürfte auch die „unverhältnismäßige“ Reaktion der israelischen Soldaten auf den – womöglich nicht gewaltfreien – Widerstand einiger Passagiere erklären.
Menschenrechte als erweiterte Kampfzone
Das führt uns zu der Frage nach dem Ursprung dieses Feindbilds, aber auch nach seiner Logik. Dass Milizen, Banden, Terroristen oder Piraten die Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und humanitären Organisationen angreifen, bedrohen und töten, ist überaus scheußlich, aber nicht verwunderlich. Aber dass ein Staat, der sich rühmt, als einziges Gemeinwesen in der Region für Demokratie und Menschenrechte einzustehen, ausgerechnet deren Verteidiger bekämpft, bleibt irgendwie rätselhaft.
Die heute geltenden internationalen Rechtsnormen in Bezug auf Kriegsverbrechen werden häufig und nicht immer zu Unrecht dafür kritisiert, dass sie nur bei den unterlegenen Konfliktparteien geltend gemacht werden. Guénaël Mettraux hat darauf hingewiesen, dass auch die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs „weitgehend als ‚le droit des autres‘ erscheint – ein Regelwerk, das für die anderen, aber nicht für uns gelten soll. Und die ‚anderen‘ sind jene Staaten oder Individuen, deren politische Macht nicht ausreicht, sich der Anwendung der Regeln auf ihre Taten zu entziehen oder zu erwehren.“18
Offenbar können sich also starke Staaten Verstöße gegen das internationale Kriegsrecht leisten, ohne sich um die Folgen – oder auch nur um eine schlechte Presse – sorgen zu müssen. Als die USA ihre „geheimen“ Gefangenen vor dem Roten Kreuz verborgen und „fortgeschrittenen Verhörmethoden“ ausgesetzt haben, propagierten US-Regierungsvertreter diese Methoden lauthals, wenn auch anonym, über Zeitungsinterviews, die auf den Titelseiten erschienen. Rechtliche Konsequenzen schien niemand zu fürchten.
Während der Angriffe auf Gaza erklärte Israels Außenministerin Zipi Livni gegenüber dem Radiosender Reshet Bet: „Israel ist ein Land, das durchdreht, wenn auf seine Bürger geschossen wird – und das ist gut so.“ Als das Livni-Zitat in einer Schlüsselstelle des Goldstone-Berichts aufgegriffen wurde, war die Empörung der Regierung groß – offenbar auch aus Angst vor möglichen Anklagen wegen Kriegsverbrechen.19
Humanitäre Interventionen und das Eintreten für die Menschenrechte gehören heute in Israel praktisch zur erweiterten Kampfzone, im militärischen wie im rhetorischen Sinne. Für diese Entwicklung gibt es, wie für die daraus resultierende politische Offensive, zu der auch der Angriff auf die Hilfsflottille vom 31. Mai 2010 gehört, zwei mögliche Interpretationen: Einerseits die Befürchtung der israelischen Regierung, zu den „Anderen“ gerechnet zu werden, die politisch nicht stark genug sind, sich den internationalen Rechtsnormen zu entziehen. Das würde erklären, warum das humanitäre Völkerrecht als eine strategische Bedrohung wahrgenommen wird. Aber die israelische Angst könnte auch von einer anderen „Bedrohung“ herrühren: Die fortschreitende Durchsetzung des Völkerrechts könnte bedeuten, dass es irgendwann für alle gelten wird. Und dass Verstöße gegen dieses Recht geahndet werden – vielleicht schon früher, als man in Israel denkt.
Aus dem Englischen von Edgar Peinelt Thomas Keenan ist Direktor des Human Rights Projects an der Bard University, New York. Eyal Weizman ist Architekt und Direktor am Centre for Research Architecture an der Goldsmiths University in London. Auf Deutsch erschien von ihm: „Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung“, Hamburg (Edition Nautilus) 2009.