Im Zweifel für den Präsidenten
Der internationale Haftbefehl gegen Sudans Staatschef al-Bashir nützt vor allem ihm selbst von Jérôme Tubiana
Im April fanden in der islamischen Republik Sudan zum ersten Mal seit 23 Jahren freie Wahlen statt. Erwartungsgemäß wurde Präsident Omar al-Bashir wiedergewählt, gegen den der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Krisenregion Darfur im März 2009 einen Haftbefehl erlassen hatte.
Zakaria ad-Dusch hat bei den Wahlen vom 11. April 2010 nicht abgestimmt. Am Tag vor der Wahl ging der Anführer der Rebellenbewegung von Darfur über den Markt von Birak im Tschad, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Ein paar Monate zuvor hatten sich ad-Dusch und seine schwer bewaffneten Leute mit ihren Pick-ups noch frei auf dem Staatsgebiet des Tschad bewegen können.1 Inzwischen muss Zakaria ad-Dusch, wenn er – in Zivil, mit unter der Dschellaba verstecktem Revolver – nach Birak will, bei der Armee des Tschad eine Erlaubnis einholen.
Nachdem Sudan und Tschad ihren Konflikt fünf Jahre lang über Guerillakämpfer ausgetragen haben, bemühen sie sich in den letzten Monaten offenbar um eine ernsthaftere Annäherung als bei vorangegangenen Versuchen.2 So zwang der Präsident des Tschad, Idriss Déby Ito, die von ihm lange unterstützte Rebellenbewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit (Justice and Equality Movement, JEM), der auch Hauptmann ad-Dusch angehört, von seinem Staatsgebiet abzuziehen.
Als N’Djamena die JEM mehr und mehr dazu drängte, Verhandlungen mit dem sudanesischen Regime aufzunehmen, versuchten die Rebellen Zeit zu gewinnen und forderten von al-Bashir einen Wahlbericht. Doch der Präsident dachte gar nicht daran, hoffte er doch darauf, sich durch diese erste landesweite Mehrparteienwahl eine neue Legitimität zu verschaffen.
Am 15. Juni hat al-Bashir seine „Regierung der nationalen Einheit“ ernannt: Seine Nationale Kongresspartei kommt im Parlament auf eine Mehrheit von 73 Prozent, die traditionellen Parteien sind verschwunden. Wegen der Betrugsvorwürfe und des Wahlboykotts der Oppositionsparteien braucht sich der sudanesische Präsident zu Hause keine Sorgen zu machen. Sein derzeitiger Hauptgegner sitzt anderswo, nämlich in Den Haag.
Es ist der argentinische Jurist und Chefankläger des IStGH, Luis Moreno-Ocampo, an den sich – noch vor Bekanntgabe der Wahlergebnisse – der Vizepräsident der Nationalversammlung, Nafi Ali Nafi, indirekt gewandt hat, als er vor der Presse erklärte, dass die Wiederwahl des Präsidenten schon zeigen werde, „dass unsere Bevölkerung die Auffassung des Internationalen Strafgerichtshofs ablehnt“.3
Ohne Zweifel war al-Bashirs Wahlerfolg ein Rückschlag für die Strategie von Moreno-Ocampo. Denn er hatte nie einen Hehl aus seiner Absicht gemacht, „ganz oben anzusetzen“, während er sich mit den Janjaweed, den berüchtigten Reitermilizen, die Karthum seit 2003 mit Waffen versorgt, um den Aufstand in Darfur niederzuschlagen, erst gar nicht groß befassen wollte.4
Von 2003 bis 2005 war Zakaria ad-Dusch noch einer der Befehlshaber unter Scheich Musa Hilal, der dem arabischen Stamm der Mahamiden vorsteht und heute der berühmteste Anführer der Janjaweed ist. Ad-Dusch erzählt, wie er Anfang 2004 von Scheich Musa Hilal den Befehl erhielt, sämtliche Einwohner von Sura in West-Darfur umzubringen: „Manche von ihnen hatten Waffen, waren aber keine Rebellen. Wir haben Musa geraten, mit den Dorfbewohnern zu verhandeln, damit sie die Milizionäre ausliefern. Er sagte: ‚Lohnt sich nicht, sie müssen alle weg.‘ Wir hatten 50 bis 60 Autos, außerdem Pferde, Kamele, 600 bis 700 Kämpfer. Wir haben alle umgebracht: Kinder und Mütter, Alte und Junge, Zivilisten und Milizsoldaten. 346 Menschen.“
In den Jahren 2003 und 2004 hatte die Regierung den Janjaweed freie Hand gegen die Rebellen gelassen. Die Milizionäre – die meisten sind wie ad-Dusch arabische Nomaden – fielen systematisch über die Dörfer nichtarabischer Volksgruppen her (Fur, Zaghawa, Masalit und so weiter), denen pauschal vorgeworfen wurde, den Aufstand zu unterstützen. Aber mit der Zeit bröckelte die Loyalität der Araber aus Darfur gegenüber Khartoum. „Wir haben erkannt, dass viele von unseren Leuten umgekommen waren und dass wir alle unsere Nachbarn in die Flucht getrieben haben, die jetzt in Lagern leben. Wir standen allein da, und wir waren die Verlierer“, sagt ad-Dusch.
Anklage Völkermord
Immer mehr Milizionäre stellten daher den Kampf im Dienst der Regierung ein, manche wandten sich sogar gegen den Staat. Und ad-Dusch trat 2009 mit etlichen hundert seiner Männer der JEM bei. Im Mai 2009 versicherte ihr Anführer Khalil Ibrahim, er habe unter seinen Leuten über 200 ehemalige Janjaweed, die bereit seien, bei Zusicherung von Straffreiheit vor dem IStGH auszusagen. So auch ad-Dusch: „Wenn der Internationale Strafgerichtshof zu mir kommt, sage ich ihnen, was ich getan habe und wer mir die Befehle gab. Scheich Musa hat Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, und er gehört zu meinem Stamm. Es ist eine Schande für mich.“ Er geht nicht davon aus, dass dessen Verhaftung den Zorn der Araber in Darfur erregen würde.
Der IStGH macht großen Eindruck auf alle am Darfur-Konflikt beteiligten Parteien. Er hat dazu beigetragen, dass sich die Bindungen zwischen den arabischen Gruppierungen und der sudanesischen Regierung lösen. Da der Gerichtshof den Konflikt aber als „Völkermord“ bewertet, den das Regime in Khartoum und dessen „arabische“ Helfer an der nichtarabischen Bevölkerung von Darfur begangen haben, wird die Versöhnung zwischen den Volksgruppen durch den internationalen Haftbefehl nicht gerade einfacher.
Zu der Zeit, als ad-Dusch in Misteriha 3 000 Milizionäre befehligte, setzte Scheich Musa Hilal den Omda (Häuptling) Khidir Ali gefangen, einen Gemeindevorsteher der Fur, der größten (und namengebenden) ethnischen Gruppe von Darfur. Nach einem Jahr gelang dem Omda die Flucht in die Bergregion Djebel Marra, einer Hochburg der Darfur-Rebellenorganisation Sudanesische Befreiungsarmee (Sudan Liberation Army, SLA). Khidir Ali wurde zum Sprecher des Komitees der Stämme vom Djebel ernannt, das sich bemüht, Beziehungen zu den Arabern aufzubauen, die in der Umgebung der von den Aufständischen kontrollierten Zone leben.
Von 2006 an unternahm der Omda immer wieder Versuche, auf sie zuzugehen – zum Beispiel mit Schwüren auf den Koran, der Schaffung gemeinsamer Märkte, der Rückgabe von gestohlenem Vieh. „Seit die Araber von der Anklage des IStGH gegen al-Bashir erfahren haben, reißen sie sich darum, mit uns zu verhandeln“, sagt Mujib ar-Rahman, der zweite Mann im Komitee der Stämme. „Manche von uns beschweren sich; sie wollen keinen Frieden mit Kriminellen. Darauf antworten wir: ‚Vergesst eure individuellen Klagen und denkt lieber an das Interesse der Allgemein-heit.‘ “
Für die Rebellen vom Djebel Marra ist das keine leichte Sache: „Als ich ihr Gefangener war“, berichtet der Omda Khidir, „behandelten die Araber uns wie Sklaven. Nach dem, was ich alles erlebt habe, fällt es mir schwer, mit ihnen zu verhandeln.“ Zwar sähe es Khidir Ali lieber, dass alle Verbrecher bestraft würden, doch eine Verständigung mit ehemaligen Janjaweed ist nur dann möglich, wenn er seinen Wunsch nach Gerechtigkeit hintanstellt. Also schweigen seine Männer bei Verhandlungen über die begangenen Verbrechen: Nur um diesen Preis gelingt es, fragile Abkommen über die Koexistenz der Völker zu schließen.
Eine echte Versöhnung aber ist noch nicht möglich, zumal die internationale Justiz den lokalen Akteuren nicht erlaubt, auf ihre traditionellen Instrumente zurückzugreifen. Diese sehen Vergebung vor, sofern offene Geständnisse abgelegt und Entschädigungen geleistet werden.
Gegenwärtig wird der Haftbefehl des IStGH von den gegnerischen Lagern propagandistisch ausgeschlachtet. Die Regierung und die Rebellen deuten ihn zwar beide als Zeichen dafür, dass der Westen die Rebellen unterstützt, doch sie ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse. Während Khartoum den Haftbefehl zum Anlass nimmt, zur nationalen Gegenwehr aufzurufen, bedienen sich die Rebellen der Rhetorik von Luis Moreno-Ocampo und prangern das Regime, mit dem sie eigentlich verhandeln sollten, als „völkermörderisch“ an.
Um Verhandlungen mit Khartoum abzulehnen, berief sich etwa Abdelwahid Mohamed al-Nur, einer der wichtigsten Rebellenführer in Darfur, auf eine Äußerung des Chefanklägers, der im Juli 2008 in einem Interview die Flüchtlingslager in Darfur mit den Lagern der Nationalsozialisten verglichen hatte – und damit implizit die 80 Nichtregierungsorganisationen und 14 UN-Vertretungen, die dort arbeiten, als Komplizen einer planmäßigen Vernichtung darstellte.
Moreno-Ocampos eher politische als juristische öffentliche Erklärungen liefern vor allem den Radikalen willkommene Argumente. „Wenn al-Bashir angeklagt wird, ist er niemand mehr, mit dem es irgendetwas zu verhandeln gäbe“, sagte der Chefankläger im Februar 2009. „Ich glaube, die Unterhändler tun gut daran, sich mit der Realität abzufinden. Der Gerichtshof ist eine Realität.“5 Doch seine Rechnung ging nicht auf. Der „historische“ Haftbefehl gegen al-Bashir führte nicht zu einer Destabilisierung des Regimes, sondern bewirkte nur, dass der Präsident das Land noch fester unter seine Fuchtel zwang – nicht zuletzt über die Wahlen.
In einem Bericht, den das Schweizer Forschungsprojekt Small Arms Survey Anfang des Jahres veröffentlichte, heißt es sogar, dass der IStGH die Aussichten auf eine Demokratisierung des Sudans zunichtegemacht habe: „Das Ziel der Nationalen Kongresspartei hat sich verändert. Inzwischen bemüht sie sich nicht mehr darum, in einem demokratischen System ihre Bedeutung aufrechtzuerhalten, sondern mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben. Die Wahlen, die auf eine bessere Machtverteilung abgezielt hatten, dienten am Ende nur noch dem Zweck, al-Bashir Legitimität zu verschaffen. Denn er ist überzeugt, dass seine Wiederwahl und sein Verbleib im Präsidentenpalast für ihn der beste Schutz vor einer Verhaftung sind.“6 Manche Beobachter meinen, dass der sudanesische Präsident ohne den Haftbefehl womöglich einem anderen Kandidaten seiner Partei den Vortritt gelassen hätte.
Der Gerichtshof ist in ganz Afrika nicht beliebt
Unterstützung findet der sudanesische Präsident vor allem in Afrika: Die Afrikanische Union (AU) verkündete im Juli 2009, dass ihre Mitgliedstaaten nicht mit dem IStGH kooperieren. In etlichen afrikanischen Ländern wundert man sich zudem darüber, dass die Ermittlungen von Luis Moreno-Ocampo – in Darfur wie in Uganda, in der Demokratischen Republik Kongo wie in der Zentralafrikanischen Republik – ausschließlich gegen afrikanische Akteure gerichtet sind.
Es gibt keine eindeutigen Daten, an denen sich feststellen ließe, wie beliebt al-Bashir bei der sudanesischen Bevölkerung wirklich ist. Da haben die Regimegegner natürlich eine ganz andere Einschätzung als all jene, die, ob Sudanesen oder nicht, die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen mit dem Argument abtun, dass al-Bashir doch so oder so gewonnen hätte. Dabei waren einige Unregelmäßigkeiten nur allzu sichtbar – ein Video, das sogar im Internet kursierte, zeigt beispielsweise, wie Wahlhelfer eine Urne vollstopfen. Wahlbeobachtern zufolge konnte insbesondere in Darfur, wo nur die Regierungspartei richtig Wahlkampf machen durfte, von freien und fairen Wahlen keine Rede sein. Schon die 2008 durchgeführte Volkszählung ließ vermuten, dass Khartoum nichts dem Zufall überlassen wollte: Von den gut drei Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen aus Darfur wurden die wenigsten ins Wählerverzeichnis aufgenommen.
Die Sudanesen, was immer sie von ihrem Staatschef halten, schütteln unterdessen den Kopf über den Westen, der einerseits den IStGH unterstützt und andererseits das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen offenbar mehr oder weniger kritiklos hinnimmt. Die Beobachter der Europäischen Union und der Carter-Stiftung begnügten sich mit dem Hinweis, die Wahlen hätten „nicht den internationalen Normen entsprochen“. Besonders krass sind die Widersprüche in den USA, wo man es nicht fertigbringt, sich auf eine Linie zu einigen. Während die einen – unter dem Sonderbeauftragten General Scott Gration – mit Zuckerbrot locken, drohen die anderen – unter Führung der UN-Botschafterin Susan Rice – eher mit der Peitsche.7
Die „internationale Gemeinschaft“, die in den Wochen vor den Wahlen starken Druck auf die Darfur-Rebellen ausübte und besonders die JEM zu einem Friedensabkommen zu bewegen versuchte, scheint jetzt Khartoum in die Hände zu arbeiten. Die Verhandlungen wurden schließlich vertagt. Falls die Rebellen ein abgespecktes Friedensabkommen doch unterzeichnen sollten, besteht die Gefahr, dass dieses, ähnlich wie der 2006 geschlossene Friedensvertrag von Abuja (Nigeria), von den unmittelbar Betroffenen abgelehnt wird.8
Eine Woche vor den Wahlen führten Mediatoren von der Afrikanischen Union und den Vereinten Nationen Gespräche mit den darfurischen Flüchtlingen im Lager Kounoungo im Tschad, etwa fünfzig Kilometer östlich von Birak. Über Stunden ging es dabei nur um ein Thema: den Ausschluss der Flüchtlinge von den Wahlen. „Drei Millionen Menschen wurden bei der Zählung nicht erfasst. Uns haben sie bei dieser Wahl einfach vergessen“, stellt ein Lehrer verbittert fest. „Kann die internationale Gemeinschaft das nicht verhindern? Von den Vereinten Nationen erwarten wir keinen Frieden mehr. Jetzt kann uns nur noch Gott helfen.“
Aus dem Französischen von Barbara Schaden Jérôme Tubiana ist Journalist und Fotograf; siehe auch seinen Beitrag in dem Sammelband von Alex de Waal (Hg.), „War in Darfur and the Search for Peace“, Harvard University (Global Equity Initiative) 2007.