Indikatoren des Glücks
Überlegungen zu einem Nationalen Wohlfahrtsindex von Hans Diefenbacher und Roland Zieschank
Die Runde war sich einig. Wissenschaftler, höhere Staatsbeamte und Politiker, aber auch Vertreter von Wirtschaftsverbänden und Aktionsgruppen kamen nach längeren Diskussionen zu der gemeinsamen Auffassung, „dass das heutige System der volkswirtschaftlichen Rechnungslegung, in dessen Mittelpunkt die Bruttosozialproduktrechnung steht, nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist“. Dieses Zitat aus einem Fachbuch zur Wirtschafts- und Umweltberichterstattung liest sich wie eine Diagnose der gegenwärtigen Situation auf internationaler Ebene. Allerdings ist es schon leicht veraltet, es stammt aus dem Jahr 1989.1
Offensichtlich war damals die Zeit für eine umfassende Erörterung der zentralen Kenngrößen, mit denen Ökonomen die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes beschreiben, noch nicht reif (wenn auch das deutsche Statistische Bundesamt nur wenig später immerhin mit innovativen Bausteinen wie den „Umweltökonomischen Gesamtrechnungen“ zu operieren begann). Aber ist die Zeit jetzt reif? Und wenn ja, warum?
Das Unbehagen an den Begleiterscheinungen unserer alle Lebensbereiche durchdringenden Wirtschaftsweise ist nicht neu. Neu ist allerdings, dass die klassische Kritik am Versagen des Marktes zeitlich mit den jüngsten systemimmanenten Krisen und neuen normativen Anforderungen zusammenfällt.
Die aktuelle Krise spielt sich in zwei Dimensionen ab, wobei wir zunächst die stoffliche betrachten. Unsere Umwelt – und ihre einzelnen biotischen oder abiotischen Komponenten – wird im Kontext einer kapitalistisch orientierten Wirtschaft in doppelter Weise verwertet. Zum einen wird sie als materielle Ressource genutzt und damit nicht mehr als Natur oder gar als Schöpfung verstanden. Zum anderen wird diese Ressource mittels produktiver Verwertung in finanzielles Kapital verwandelt.
Im Zuge des Produktionsprozesses entstehen mittels der Faktoren Arbeit, Kapital, Energie und technischer Fortschritt (zu denen manchmal der Faktor Boden kommt) bestimmte Waren: zum Beispiel Bauholz aus Urwäldern, Stahl aus erzhaltigen Lagerstätten, Kohle aus ehemaligen Wäldern. Im Zuge der Globalisierung weitet sich dieser Prozess aus. Günther Anders schrieb schon 1980, auf die Frage, was als „Welt“ angesehen werde, gebe es nur noch eine Antwort: „Rohstoff. Gemeint ist die Welt also nicht als ein an sich, sondern als eine für uns (…)“2
Diese Überlegungen zur „Metaphysik der industriellen Revolution“ bestätigte zwanzig Jahre danach auf unfreiwillig komische Weise der Sprecher des Bundesverbands der Deutschen Binnenschifffahrt, als er 2002 die „große Verwunderung“ seines Verbands über den grünen Bundesumweltminister Jürgen Trittin ausdrückte: Dieser habe allen Ernstes die Auffassung geäußert, dass „Flüsse in erster Linie Flüsse und keine Wasserstraßen seien“.3
In einem solchen rein ökonomischen Verständnis sind natürliche Ressourcen kostenlos, zumindest für den Erstnutzer. Und die Umweltschäden, die beim Abbau, bei der Nutzung und der späteren Rückgabe an die Natur anfallen können, gehen nicht in die Rechnung ein. Diese „Naturvergessenheit“ des Marktes bildet den Kern einer alten Kritik. Der französische Ökonom Patrick Viveret bezeichnet deshalb die dem Wirtschaftssystem aus der Natur zufließenden stofflichen Ströme zu Recht als „Geschenkströme“. Doch im Zuge einer zunehmenden Industrialisierung der Weltwirtschaft und Intensivierung der Landwirtschaft haben diese „Geschenkströme“ gigantische Abfallströme zur Folge, die nicht nur die Leistungsfähigkeit, sondern zunehmend auch die Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme gefährden.
Wohlstand belastet die Umwelt
Trotz der historisch beispiellosen Verwertung von Natur haben die erzeugten Kapitalströme nicht ausgereicht, um auch nur in hochmodernen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland eine gerechte Einkommensverteilung sicherzustellen. Wie die OECD in einer internationalen Vergleichsstudie von 2008 konstatierte, nahmen trotz dieses Wachstums die Ungleichheit bei den Einkommen und die Armut zu. Und die 2007 von der EU veranstaltete Konferenz mit dem Titel „Beyond GDP“ („Jenseits des Bruttoinlandsprodukts“) war eine Reaktion auf die Tatsache, dass schon damals – also vor Beginn der darauffolgenden Wirtschaftskrise – weltweit über zwei Milliarden Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebten.4
Die beiden klassischen Aspekte des Marktversagens – Naturvergessenheit und soziale Gleichgültigkeit – wurden in einer Studie der britischen Kommission für nachhaltige Entwicklung (SDC 2009) zu der bemerkenswerten Schlussfolgerung gebündelt: „Wohlstand für wenige, der sich auf Umweltzerstörung und soziale Ungerechtigkeit gründet, ist keine Basis für eine zivilisierte Gesellschaft.“5
Damit kommen wir zur zweiten, aktuellen Dimension der Krise. Neben den skizzierten allgemeinen Begleiterscheinungen des Warenkapitalismus – oder der „Extraktionsökonomie“, wie der Ökonom Elmar Altvater sie nennt – haben wir es in jüngster Zeit mit Krisenerscheinungen zu tun, die ihren Ursprung in der Finanzökonomie haben, der heutigen spezifischen Form des Geldkapitalismus.
Dabei ist die Wurzel des Übels die Verselbstständigung der Finanzströme. Deren Bezug zu materiellen und immateriellen Werten der Gesellschaft hat sich immer mehr aufgelöst. Das reine Wachstum von Kapital als Ziel ökonomischen Handelns schien – wie die Umsätze der Finanzwirtschaft in den USA, Großbritannien und teilweise der Schweiz suggerierten – Wirtschaftskrisen auf den ersten Blick zu verhindern. Auf den zweiten Blick ergibt sich jedoch eher der Eindruck, dass die unkontrollierten Operationen auf den Finanzmärkten die Krise eingeleitet haben.
Die Degradierung der Natur, das Ernährungsproblem, das Problem der sozialen Gerechtigkeit sowie die ökonomische Überschuldung von vielen Verbrauchern, Unternehmen und Staaten – all das steht dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung als einem normativen politischen Konzept nahezu diametral entgegen. Niemand kann heute sagen, wie die herkömmliche Form des Wirtschaftswachstums mit den für die Zukunft entscheidenden politischen Zielen vereinbar sein soll.
Das gilt etwa für das Erreichen des 2-Grad-Ziels in der Klimapolitik, für das Aufhalten des Artensterbens und für das Ziel, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcen- und Flächenverbrauch abzukoppeln oder die Verschuldung der EU-Staaten auf 3 Prozent des BIP zu begrenzen. Jüngste, international vergleichende Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass der generelle Wohlstand – mithin das BIP – maßgeblich verantwortlich ist für die Intensität der Umweltbelastungen eines Landes.6
Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine erste Schlussfolgerung. Das Wirtschaftswachstum, so scheint es, bietet inzwischen nicht mehr die über die Jahrzehnte versprochenen Lösungen zum Wohlergehen der Gesellschaft, vielmehr untergräbt es sie teilweise; oder das Wachstum bleibt ohnehin – etwa in den alten Industrienationen – immer häufiger aus.
Hinzu kommt, dass in den Industrienationen immer mehr finanzielle Mittel aufgebracht werden müssen, um auch nur den bisherigen Wohlstand zu halten. Dieser Zwang drückt sich in den sogenannten defensiven Kosten aus. Das sind die Ausgaben, die nötig sind, um eingetretene Schäden oder Verluste im Bereich der baulichen Infrastruktur, des „Naturkapitals“ und des „Humankapitals“ auszugleichen. Das gilt etwa für die Beseitigung von Altlasten, die Reinhaltung von Luft, Boden und Wasser, die Instandhaltung der Straßen und Ver- und Entsorgungsnetze, Reparaturen nach Unfällen, für Rehamaßnahmen und Kosten durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch sowie Kosten der Wirtschaftskriminalität.
Wachstum löst die Probleme nicht mehr
Mit diesen hier nur grob skizzierten komplexen Sachverhalten müssen Politik und Gesellschaft künftig zurechtkommen. Und das, obwohl die proklamierte Strategie, diese Probleme über wirtschaftliches Wachstum zu lösen oder wenigstens zu entschärfen, im 21. Jahrhundert bei näherem Hinsehen nicht mehr erfolgreich sein kann. Was im letzten Jahrhundert noch weitgehend, wenn auch häufig mehr schlecht als recht funktionierte, ist als universale Blaupause für das 21. Jahrhundert nicht mehr geeignet.
Bei den aktuellen Bemühungen um Alternativen lassen sich zwei Modelle unterscheiden. Bei einigen Initiativen geht es vorrangig um die Wiederherstellung der Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums, bei anderen um Leitlinien für eine ökosoziale Marktwirtschaft und eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft. Gemeinsam ist beiden Modellen, dass die Politik gegenüber der Institution des Marktes aufgewertet wird.
Damit bietet sich die Chance einer neuen öffentlichen Diskussion über die Frage, wie unter den sich verändernden ökologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt zu definieren wäre. Das gilt vor allem für die westlichen Staaten Europas; die auch hier vorherrschende Konzentration auf das Richtmaß des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hilft indessen nur sehr begrenzt weiter. (Nach neueren Vereinbarungen der statistischen Ämter wird das BIP jetzt zunehmend durch den Begriff Bruttonationaleinkommen, kurz BNE, ersetzt).7
Traditionell gilt das BIP als Schlüsselindikator für die Volkswirtschaften. Er wird weltweit als Maßstab für die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung eines Staats und des Erfolgs oder Misserfolgs seiner Wirtschaftspolitik herangezogen. Historisch spielten die Wachstumsraten vor allem für westliche Industrienationen immer eine zentrale Rolle, sowohl in den USA nach der Weltwirtschaftskrise als auch in Westeuropa. Sie dokumentierten nicht nur den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Nachkriegszeit, sondern signalisierten auch die Überlegenheit des Westens im Kampf der politischen Systeme.
Dabei basierte die Botschaft des Wachstumskonzepts vereinfacht auf folgender Argumentation: Das BIP umfasst die erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen eines Landes. Aus der Veränderung des BIPs von einem Jahr zum anderen errechnen sich die Wachstumsziffern. Wachstum aber schafft mehr ökonomische Wahlmöglichkeiten und erhöht damit den verfügbaren wirtschaftlichen Wohlstand. Bei der Bevölkerung erhöht sich dadurch die gesellschaftliche Wohlfahrt, weil das Einkommen – gemäß den individuellen Präferenzen – für die jeweils am wichtigsten erachteten Güter und Dienstleistungen ausgegeben werden kann.
Dieses über einen längeren Zeitraum weitgehend erfolgreiche Konzept hat nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in Politik und Gesellschaft die fundamentale Überzeugung entstehen lassen, so gut wie alle Probleme ließen sich per Wachstum lösen. Das erklärt wohl auch, warum dieser ökonomische Leitindikator seit 2002 in die bundesdeutsche Nachhaltigkeitsstrategie übernommen wurde – und zwar nicht nur als eigenständige Zielgröße, sondern auch als Bezugsgröße für andere Indikatoren dieser Nachhaltigkeitsstrategie, etwa für die Produktivität des Energie- und Ressourceneinsatzes oder im Verkehrsbereich.
Diese Verortung im Indikatorensatz der Nachhaltigkeitsstrategie war auch der Grund für eine neuerliche Diskussion um die Aussagefähigkeit des BIPs, die an frühere kritische Einschätzungen der 1980er Jahre anknüpften. Nachhaltigkeitsstrategien thematisieren in der Regel soziale Gerechtigkeit und ökologische Tragfähigkeit, da es um eine ökonomische Entwicklung geht, die auch in Zukunft Bestand haben soll. Solche Kriterien stehen natürlich in einem Spannungsverhältnis zu einer umsatzorientierten Kenngröße, die auf kontinuierliches Wachstum hin orientiert ist.
Die Fixierung auf das BIP oder BNE und auf entsprechende Wachstumsraten stößt unter Wissenschaftlern schon länger auf Skepsis. Diese bezieht sich vor allem auf Kosten in Produktion und Konsum, die nicht zur gesellschaftlichen Wohlfahrt beitragen – oder sogar die Umwelt-, Arbeits- und Lebensbedingungen beeinträchtigen. Das gilt für Belastungen von Wasser, Boden und Luft oder für die irreversible Ausbeutung natürlicher Ressourcen bis hin zur sozialen Desintegration von Menschen, die dem Leistungsdruck nicht mehr gewachsen sind. Dagegen helfen kompensatorische Ausgaben – etwa zur Reparatur von Umweltschäden – nur begrenzt, da sie bestenfalls ausreichen, um den vorherigen Stand wiederherzustellen. Und oft nicht einmal das, wie die aktuelle Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zeigt.
Paradoxerweise schlagen solche kompensatorischen Ausgaben aber bei der Berechnung des BIPs/BNEs positiv zu Buche. Auf der anderen Seite bleibt eine ganze Reihe von Wert schöpfenden Aktivitäten, die positiv zur gesellschaftlichen Wohlfahrt beitragen, darin unberücksichtigt. Das gilt etwa für die Wertschöpfung durch Hausarbeit oder durch ehrenamtliche Tätigkeiten.
Da jedoch die Strategie, ökonomische und soziale Probleme über Wirtschaftswachstum zu lösen, über längere Zeiträume Erfolg hatte, wurde der Zuwachs an Wohlfahrt in der öffentlichen Wahrnehmung maßgeblich auf das quantitative Wirtschaftswachstum zurückgeführt. Nur ganz langsam wurde akzeptiert, was zunächst in der Wirtschaftstheorie formuliert wurde: dass Wirtschaftswachstum nicht identisch ist mit einem Zuwachs an Wohlfahrt, wenn die negativen Auswirkungen des Wachstums die Wohlfahrtsgewinne wieder aufzehren. Und umgekehrt: dass es einen Zuwachs an Lebensqualität geben kann, der nicht mit Wirtschaftswachstum einhergeht. Obwohl diese Einsichten inzwischen an Boden gewonnen haben, erscheint die konzeptionelle Schlussfolgerung, den gesellschaftlichen Wohlfahrtsbegriff vom ökonomischen Wachstumsparadigma abzulösen, heute noch utopisch bis revolutionär.
Katastrophen steigern das Bruttoinlandsprodukt
Doch immerhin haben sich in jüngster Zeit staatliche Instanzen erneut mit der Bedeutung des BIPs und damit der Rolle des bisherigen wirtschaftlichen Wachstums befasst. Förderlich war dabei gewiss die aktuelle Erfahrung, dass in einigen westlichen Ländern mit der finanziellen auch die soziale Stabilität akut gefährdet erscheint. Man denke nur an die enormen Vermögensverluste vieler privater Haushalte in den USA im Zuge des Immobiliencrashs, an die sozialen Verwerfungen in den südlichen EU-Ländern und an die jüngsten Berichte zum „Schwinden der Mittelschicht“.
Das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit haben eine Pilotstudie in Auftrag gegeben, deren Fragestellung lautet: Kann eine ergänzende Erfassung der wirtschaftlichen Entwicklung einen informatorischen Mehrwert erbringen, der den gesellschaftlichen Diskurs um ein neues Verständnis von Wachstum erweitern könnte? Das Ergebnis ist die erste Version eines Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI).8
Der Auswahl der Variablen für den NWI lagen Kriterien zugrunde, die eine Korrektur der „klassischen“ Defizite des BIPs versprechen. Die insgesamt 21 Variablen decken Themenfelder wie soziale Gerechtigkeit, unbezahlte Arbeit, Umweltschäden oder die Inanspruchnahme von Ressourcen und des Naturkapitals ab und berücksichtigen dabei die guten wie die schlechten Seiten der Wohlfahrtsentwicklung in Deutschland. Die Ergebnisse all dieser Einzelvariablen wurden monetarisiert und rechnerisch zusammengefasst, so dass sie am Ende einen zusammenfassenden Index ergeben. Dieser Nationale Wohlfahrtsindex soll das BIP/BNE indessen nicht ablösen, sondern als informatives Pendant gegenübergestellt werden.
Das Diagramm (unten links) stellt den neuen Index im Vergleich zum bisherigen Verlauf des BNEs dar, der Einfachheit halber sind die beiden Kurven auf das Jahr 2000 normiert. Dabei fällt sofort auf, dass das BNE nahezu kontinuierlich wächst, während der NWI zunächst relativ stärker ansteigt, am Ende der Zeitreihe jedoch wieder deutlich abfällt. Verantwortlich für das Absinken des NWIs sind insbesondere die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung und die Belastungen im Umweltbereich.
Den größten Einzelposten hier bilden die errechneten Ersatzkosten für den heutigen Verbrauch von Energieressourcen. Denn alle nachfolgenden Generationen werden die von uns heute verbrannten und verheizten Energien nicht mehr zur Verfügung haben. Diese verschwundenen Energien zu ersetzen kostet Geld, das unseren Kindern und Nachfahren fehlen wird. Wir buchen den heutigen Energieverbrauch einmal versuchsweise als Verlust an Wohlfahrt unter dem Stichwort intergenerationelle Gerechtigkeit ein. Das mag ungewöhnlich erscheinen, wird aber am ehesten dem Leitgedanken einer zukunftsfähigen und ökologisch tragbaren Entwicklung gerecht.
Die Frage nach der „realen“ Wohlfahrt eines Landes wird vermutlich niemals „objektiv“ zu beantworten sein. Doch mit dem Vergleich der Entwicklungskurven von NWI und BIP/BNE wird sie endlich sichtbar. Ein ergänzender Index zum BIP rückt die Überlegung wieder in den Mittelpunkt, ob nicht letztlich die Wohlfahrt eines Landes das zentrale Ziel des Wirtschaftens darstellen sollte und deshalb die Rolle des ökonomischen Wachstums künftig anders konfiguriert werden muss. Der NWI eröffnet die Möglichkeit, andere Quellen des Wohlstands und der Wohlfahrt zu erkennen und zu stärken: zum Beispiel eine gerechtere Einkommensverteilung, die Leistungen sozialer Netzwerke und bürgerschaftlichen Engagements, die Minderung von Umweltbelastungen oder die Schonung nicht erneuerbarer Ressourcen.
Das NWI-Konzept verkennt aber nicht die Automatismen der bestehenden Wachstumsimperative, die durch Zinszahlungen für Investitionen, Produktivitätssteigerungen in der Industrie, internationalen Wettbewerb und Globalisierung sowie eine Sicherung der Sozialsysteme bestimmt sind. Aber jetzt lassen sich damit zusätzliche Überlegungen im Hinblick auf Wachstum anstellen.
Man könnte zum Beispiel deutlicher unterscheiden zwischen dem Wachstum von finanziellen Kenngrößen einerseits und physischen Kenngrößen andererseits, wobei sich Letztere auf Stoff- und Energieströme beziehen, die mit Produktion und Konsum unweigerlich verbunden sind. Ein Wachstum von privaten Einkommen und staatlichen Einnahmen eines Landes ist als solches kein Problem, denn finanzielle Zuwächse auf Konten belasten als solche nicht die Ökosysteme. Aber wenn man normativ-ethische Leitlinien, wie Generationengerechtigkeit oder das Bewahren der Schöpfung, wirklich ernstnehmen will, wird man wird nicht umhinkommen, die physisch-materiellen Dimensionen des Wirtschaftswachstums zu begrenzen.
Die Einführung eines alternativen, ergänzenden Index zum BIP/BNE zielt letzten Endes also auf eine Abkopplung des Wirtschaftswachstums vom Energie- und Ressourcenverbrauch. Denn zu den Zielen einer neuen wohlfahrtsorientierten Politik gehört auch die Förderung von Ressourceneffizienz (zum Beispiel liegen die Lohnkosten in der Wirtschaft wesentlich niedriger als die Kosten für Rohstoffe und Energie). Damit ist zugleich die ökologische Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft angesprochen, etwa unter dem Stichwort „grüne“ Innovationen und Investitionen, die nicht nur auf eine Stärkung der „Umweltindustrien“ hinauslaufen, sondern insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes verbessern. Und am Ende stellt sich vielleicht doch die Frage, ob materielle Produkte den hohen Stellenwert beibehalten müssen, den sie für die subjektive Lebenszufriedenheit häufig noch haben; wobei hier gut betuchte Gesellschaftsschichten auf der Suche nach Statussymbolen sich manchmal wenig unterscheiden von denjenigen Kundenkreisen, die sich mit Plagiaten zufrieden geben (müssen).
Ein alternativer Index als Quelle zuverlässiger und differenzierter Informationen zu einer komplementären Sicht der Wirtschaftsentwicklung kann eine Anregung für eine breite gesellschaftliche Diskussion sein, die bislang in Deutschland so noch nicht stattfindet: Was bedeutet gesellschaftlicher Fortschritt heute, und wie ist er zu erreichen?
Das Wohlergehen liegt anderswo
Einen Beitrag zu der Diskussion, die durch die Initiative „Beyond GDP“ 2007 auf europäischer Ebene angeregt wurde, stellt auch der Abschlussbericht der Stiglitz-Kommission zur Messung der wirtschaftlichen Entwicklung und des gesellschaftlichen Fortschritts dar, die 2009 von Frankreichs Staatspräsident Sarkozy berufen wurde.9 Der offizielle Auftrag an die Experten (darunter Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Nicholas Stern) lautete, Aspekte der Lebensqualität und des Wohlbefindens zu ermitteln, die in die traditionellen ökonomischen Bilanzen eingehen sollten.
Der Kommissionsbericht enthält ein Zwölf-Punkte-Programm von Empfehlungen, deren Umsetzung eine sehr weit reichende Veränderung der bisherigen wirtschaftlichen Bilanzierungssysteme bedeuten würde. Joseph Stiglitz hat es so ausgedrückt: „Es geht um nichts Geringeres als darum, das grundlegende globale Fortschrittsparadigma für Völker und Staaten zu verändern, weg von der Produktion und hin zu einem auf gerechter Verteilung und Nachhaltigkeit beruhenden Wohlergehen.“
Bei ähnlichen Diskussionen in Asien dominiert eine andere Sichtweise (die neuerdings auch auf OECD-Tagungen zur besseren Erfassung von gesellschaftlichen Fortschritt aufgegriffen wird). Sie drehen sich stärker um das subjektive Wohlbefinden der Bürger eines Staats, und zwar vor dem Hintergrund einer deutlichen Diskrepanz zwischen der stetig wachsenden Wirtschaftsleistung und der Situation der einzelnen Bürger. Im Übrigen zeigt sich im internationalen Vergleich, dass das subjektive Glücksempfinden in verschiedenen Ländern auf ganz unterschiedliche Weise mit dem jeweiligen Niveau des materiellen Wohlstands zusammenhängen kann. Anders gesagt: Auch Glücklichsein lässt sich nicht per Wirtschaftswachstum erkaufen, und steigender materieller Wohlstand kann soziale Defizite nicht kompensieren.
Der König von Bhutan führte den Glücksindex ein
Ein bemerkenswertes Beispiel ist das kleine Königreich Bhutan, wo 1976 anstelle des GDP (Gross Domestic Product, also BIP) ein GNH eingeführt wurde, was Gross National Happiness bedeutet. Dabei wird dieser GNH nicht nur als ein zusätzlicher Index verstanden, sondern als Richtungsgeber des weiteren gesellschaftlichen Aufbaus, der sogar über die Demokratie als Leitbild hinausweist. Die zentralen Kategorien zur Bestimmung des GNH sind: Lebensstandard, Gesundheit, psychisches Wohlbefinden, Bildung und Ausbildung, Ökologie, Intensität des gemeinschaftlichen Lebens, Zeitnutzung, Kultur sowie gute Regierungsweise. Diese sehr weit gefasste Idee einer nicht nur materiellen, sondern auch geistigen – wenn nicht gar spirituellen – Wohlfahrt ist auch eine Reaktion auf den Verlust religiöser Bezugssysteme. Mit deren Verschwinden bleibt dann nur noch eine verweltlichte Orientierung zurück, die kein höheres Ziel mehr hat und auf Einkommenssteigerung beziehungsweise wirtschaftliches Wachstum als Selbstzweck setzt.
Einen „Happy Planet Index“ hat auch die britische New Economics Foundation vorgeschlagen, begleitet von Überlegungen der britischen Regierung in eine ähnliche Richtung, nämlich die Dimensionen des Wohlbefindens der Bürger stärker in gesellschaftlichen Berichtssystemen abzubilden. Und das Schweizerische Bundesamt für Statistik hat 2003 zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft und dem Bundesamt für Raumentwicklung einige Aspekte des Glücks in die amtliche Statistik eingeführt. Solche Überlegungen passen gut zu einem Regierungsprinzip des Königs von Bhutan: „Progress should be people-oriented“ (Fortschritt sollte am Menschen orientiert sein), das dieser 2004 anlässlich der ersten internationalen Konferenz über Gross National Happiness in Thimpu formuliert hat.10
Man kann diesen alternativen Orientierungen zum traditionellen Wachstumsdenken, die auf das subjektive Glück abheben, folgen. Man muss es aber nicht. Es macht nämlich durchaus Sinn, zwischen „Wellbeing“ und „Welfare“, zwischen individuellem Wohlbefinden und gesellschaftlicher Wohlfahrt zu unterscheiden. Denn das Wohlergehen eines Landes im Sinne nachhaltiger Entwicklung lässt sich nicht ohne weiteres an individuellen Einschätzungen bemessen. Imperative des Gemeinwohls oder der mögliche Konflikt zwischen subjektiver Zufriedenheit und einer „grünen“ Politik ökologischer Verantwortung sind in den Happiness-Berichtssystemen nämlich nicht unbedingt vorgesehen, eher im Gegenteil.
Solche Überlegungen machen deutlich, dass die Diskussion über die Wohlfahrt – oder gar den „gesellschaftlichen Fortschritt“ – ein langer und offener Prozess ist, der immer wieder neue Fragen aufwirft und nur schwerlich per Indikatoren fixierbar ist. Dass die neuen Ansätze, die Wohlfahrtsentwicklung eines Landes zu erfassen, ihre Schwächen haben, sollte uns allerdings nicht entmutigen. Und für Skeptiker: Das BIP bleibt uns ja erhalten. Es hilft uns nur nicht mehr viel weiter.
© Le Monde diplomatique, Berlin