Flämische Allianzen
Mit Sparsamkeit und Vorurteilen gegen den belgischen Staat von Serge Govaert
Nil volentibus arduum – nichts ist unmöglich, wenn man es nur will. Mit diesen Worten leitete Bart De Wever, der Vorsitzende der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA, Neu-Flämische Allianz) am Abend des 13. Juni in Brüssel seine Siegesrede ein. Seine Partei hatte gerade 27 der 150 Sitze in der Abgeordnetenkammer und 9 der 40 direkt gewählten Senatsposten errungen.1 Damit stieg sie zur stärksten politischen Kraft in Belgien auf. Das lateinische Zitat war mit Bedacht gewählt – nach den drei Anfangsbuchstaben seiner Partei.
Dieser Erfolg ist umso erstaunlicher, weil die N-VA, die sich zum flämischen Nationalismus bekennt, von ganz unten kommt. Sie entstand 2001 aus den Trümmern der Volksunie (Volksunion) und hatte damals einen Sitz im Parlament – ihr einziger Abgeordneter hieß Geert Bourgeois. Der war zwei Jahre zuvor für die Volksunie in die Abgeordnetenkammer eingezogen. Bourgeois wurde 2003 wiedergewählt, diesmal für die N-VA. Er blieb aber weiter deren einziger Abgeordneter im Unterhaus des Parlaments. 2004 übernahm De Wever den Vorsitz der N-VA und Geert Bourgeois wechselte als Minister für Verwaltung, ausländische Angelegenheiten, Medien und Tourismus in die flämische Regierung. De Wever schaffte es nicht, nur das Schattendasein seiner Partei zu beenden, sondern übertraf mit dem Wahlergebnis vom 13. Juni auch das beste jemals von flämischen Nationalisten bei Parlamentswahlen erzielte Resultat.
Auf ihrem Höhepunkt 1971 hatte die Vorgängerpartei Volksunie 18,8 Prozent der flämischen Stimmen auf sich vereint, im Juni 2010 bekam die N-VA 28 Prozent. Und dabei ist sie nicht die einzige flämisch-nationalistische Partei, die im belgischen Parlament sitzt: Wenn man die Stimmen des Vlaams Belang („Flämische Interessen“) hinzurechnet, der 1978 aus einer rechtsextremen und fremdenfeindlichen Abspaltung der Volksunie entstand, dann haben nicht weniger als 40 Prozent der flämischen Wähler für Parteien votiert, die über kurz oder lang eine Unabhängigkeit Flanderns anstreben.
Noch kurz nach dem zweiten Weltkrieg war der flämische Nationalismus politisch tot. Er war wegen seiner Kollaboration mit den Besatzern kompromittiert und konnte sich kein Gehör mehr verschaffen im neuen Belgien, das nach der fünfjährigen Naziherrschaft von einem patriotischen Reflex ergriffen wurde. 1954 schaffte es die Volksunie dennoch, wieder einen Abgeordneten ins Parlament zu bringen. Im Klima der wachsenden politischen Uneinigkeit zwischen den frankofonen Wallonen und den Flamen ging es mit den Wahlergebnissen seitdem aber stetig aufwärts.
Die Vertreter der Volksunie machten keinen Hehl aus ihrer Absicht, die staatlichen Institutionen zu reformieren und Belgien in einen föderalen Staat umzuwandeln. Es war klar, dass die flämischen Nationalisten diese Ziele nur erreichen konnten, wenn sie den Sprung in die Regierung schaffen und Zugeständnisse machen würden.
Trotz einiger Schwierigkeiten gelang der Volksunie nach den Wahlen von 1977 schließlich die Regierungsbeteiligung.
Doch diese erste Machtbeteiligung entpuppte sich als Fehlschlag: Die angekündigte Staatsreform („Egmont Pakt“) wurde torpediert (insbesondere von radikaleren flämischen Nationalisten), und die Volksunie verlor bei der Wahl 1978 nach der vorzeitigen Auflösung des Parlaments die Hälfte ihrer Abgeordneten. Ihr Eintritt in die Brüsseler Machtzirkel hatte die Partei Vertrauen gekostet. Gleichzeitig verlor sie auch noch einen Teil ihrer konservativsten Mitglieder. Die suchten den Schulterschluss mit dem rechtsextremen Lager und gründeten den Vlaams Blok, der sich seit 2004 Vlaams Belang nennt.
Seit Ende der 1980er Jahre ging der Rückzug der Volksunie mit dem Aufschwung des Vlaams Blok einher. Ihre politischen Forderungen wurden dennoch schrittweise verwirklicht – allerdings meist ohne ihre Beteiligung. Seit 1993 ist Belgien offiziell ein föderaler Staat. Im Zusammenhang mit der steigenden Zuwanderung und der wachsenden Armut im frankofonen Süden fanden die fremdenfeindlichen und separatistischen Positionen des Vlaams Blok in Flandern immer mehr Zuspruch.
Der Blok forderte ganz offen das Ende des belgischen Staats und die Gründung der Republik Flandern. Das „flämische Volk“, dem sein eigener Staat vorenthalten werde, sei durch seine gemeinsame Kultur, die gemeinsame Sprache (Niederländisch) und sogar durch seine gemeinsamen religiösen Wurzeln2 geeint. Der Islam bedrohe dieses Volk außerdem in seiner Homogenität, und die Transferzahlungen an die ärmere Wallonie behinderten angeblich seine Entwicklung. Zum Slogan des Vlaams Blok wurde ein Spruch, der schon in der Zwischenkriegszeit unter den flämischen Nationalisten kursierte: „Volk, wordt Staat!“ – Volk, werde Staat!
Dagegen schien sich der Existenzgrund der Volksunie – die Forderung nach der Gründung eines föderalen Bundesstaats – in Luft aufgelöst zu haben. Ihre Wahlergebnisse bröckelten und immer mehr Mitglieder und Abgeordnete kehrten ihr den Rücken zu. 1992 schloss sich ihr Vorsitzender Jaak Gabriëls zusammen mit einigen anderen Parteioberen den flämischen Liberalen (Open-VLD) an.
Zwischen 1992 und 1997 versuchte sein Nachfolger Bert Anciaux die Partei mehr nach links auszurichten. Doch auch das stoppte die Abwanderung der Wähler nicht – ebenso wenig wie den unaufhaltsamen Aufstieg des Vlaams Blok. Bei den Regionalwahlen 2004 erreichte der mit 24 Prozent der Stimmen in Flandern einen Höhepunkt. Anciaux wurde schließlich im Jahr 2000 durch den konservativeren Geert Bourgeois ersetzt. Es folgten parteiinterne Spannungen, die so groß wurden, dass die Volksunie 2001 schließlich auseinanderbrach.
Wie konnte ihre Nachfolgerin N-VA in weniger als zehn Jahren zur stärksten politischen Kraft in Flandern und ganz Belgien aufsteigen? Den ersten taktischen Schritt dafür vollzog sie 2004. In diesem Jahr – drei Jahre vor der Parlamentswahl 2007 – entschlossen sich die flämischen Christdemokraten (Christen-Democratisch en Vlaams, CD&V), die seit 1999 von den Regierungskoalitionen ferngehalten wurden, für ein Wahlbündnis mit der N-VA. Ein erfolgreicher Schachzug: Der Zusammenschluss ermöglichte es der CD&V, bei den Wahlen 2007 wieder ins politische Geschäft zu kommen. Ihr Parteivorsitzender Yves Leterme wurde Premierminister.
Doch als die N-VA feststellen musste, dass ihr christdemokratischer Partner institutionelle Reformen blockierte und das Ziel einer größeren Autonomie für Flandern behinderte, verließ sie im September 2008 die Regierung. Damit verlor die Koalition ihre Mehrheit auf der flämischen Seite. Zwar besaß sie in der Abgeordnetenkammer insgesamt weiterhin eine Mehrheit, war aber durch den Rückzug der N-VA geschwächt. Nachdem sich im April 2010 auch die Open-VLD aus der Koalition zurückgezogen hatte, brach die Regierung auseinander. Der Weg war frei für die vorgezogenen Wahlen am 13. Juni.
Ihren Erfolg verdankt die N-VA unter anderem der Frustration der Flamen, die in Belgien die demografische Mehrheit bilden: Zwischen 2007 und 2010 mussten sie eine Regierung akzeptieren, die zwar von einem flämischen Premierminister geführt wurde (wie es seit 1978 der Fall ist), die aber nicht die mehrheitliche Unterstützung der Parteien im Nordteil des Landes fand. Ganz allgemein stören sich die Flamen daran, dass ihre Forderungen durch das – wie sie es empfinden – systematische Veto der frankofonen Minderheit abgeschmettert werden. Auf dieser Welle des Unmuts segelt der Vorsitzende der N-VA, Bart De Wever.
Nur ein Nebeneinander von zwei Demokratien
Seit der Unabhängigkeit bis in die Mitte der 20. Jahrhunderts stand Belgien unter dem Einfluss einer französischsprachigen Oberschicht. Sie setzte – wenn auch nicht per Gesetz – das Französische als offizielle Sprache durch. Aber De Wever stützt sich nicht allein auf die daraus entstandenen historischen Ressentiments oder die Autonomieforderungen eines flämischen „Identitätsreflexes“. Seine Argumentation hat eine beachtliche Durchschlagskraft gewonnen: „Belgien hat sich zum Nebeneinander zweier unterschiedlicher Demokratien entwickelt“, erklärte er (auf Französisch) vor der internationalen Presse.3 Die beiden Teile würden sich immer weniger kennen, verstünden sich kaum noch und hätten unterschiedliche, wenn nicht gar gegensätzliche politische Erwartungen. In der Wallonie wählten die Menschen eher links, während die Flamen größtenteils rechte Parteien unterstützten.
Anders als der Vlaams Belang stellen De Wever und die N-VA die offiziell zweisprachige Hauptstadt Brüssel nicht infrage. Doch entgegen der Regelung in der belgischen Verfassung, die der „Hauptstadt-Region“ den gleichen Autonomiestatus wie Wallonien und Flandern zuerkennt, treten De Wever und seine N-VA für eine gemeinsame Verwaltung der Hauptstadt durch Flamen und Wallonen ein. Die finanziellen Probleme Brüssels sind ihrer Meinung nach das Resultat einer politischen Trägheit, die auf den Sonderstatus der Stadt zurückzuführen sei. Die Zweisprachigkeit der Hauptstadt besteht ohnehin nur auf dem Papier. In Wirklichkeit leben dort über hundert Nationalitäten, jede mit ihrem eigenen Idiom, doch bei Wahlen erzielen die französischsprachigen Parteien jedes Mal satte Mehrheiten.
Auch bei einem anderen Lieblingsthema, der Frage der finanziellen Lastenverteilung, setzt sich der N-VA-Vorsitzende vom traditionellen flämischen Nationalismus ab. De Wever hütet sich, die Verantwortung dafür den Wallonen oder den Frankofonen insgesamt zuzuschieben. Stattdessen nutzt der jede sich bietende Gelegenheit, um zu behaupten, die föderale Staatsstruktur sei ineffizient. Die N-VA befürworte deshalb „ein konföderales System, in dem die Zentralgewalt vom Föderalstaat auf die Einzelstaaten übergeht“.4
Und schließlich stehen der Mann und seine Partei offen zu ihrer rechten Grundhaltung. De Wever bekennt sich zu seiner Bewunderung für den Philosophen Edmund Burke (1729–1797), den Mitbegründer des modernen Konservatismus und erklärten Gegner der Ideale der Französischen Revolution. Im Gegensatz zur Volksunie, die mitunter deutlich linke Positionen vertrat, verteidigt die N-VA bei Wirtschafts- und Sozialthemen eine dezidiert neoliberale Linie: Dezentralisierung, Senkung der Unternehmenssteuern, Besteuerung der Krankenversicherungsbeiträge, keine Neueinstellungen im öffentlichen Dienst, zeitliche Begrenzung der Arbeitslosenhilfe, Verschärfung der Ausländergesetze und so weiter.
Das Verhältnis zum Vlaams Belang ist hingegen unverändert schlecht. Außer dem nationalistischen Credo hat die N-VA mit dieser rechtsextremen Gruppierung nichts gemein. Die N-VA ist wirtschaftsliberal, der Vlaams Belang hingegen ist staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft nicht abgeneigt – vorausgesetzt, es hilft den flämischen Aktionären. Wie die meisten flämischen Parteien hält die N-VA die Integration von Zuwanderern für notwendig. Für den Vlaams Belang ist das völlig ausgeschlossen, weil sich seiner Ansicht nach ein sozialer Zusammenhalt mit Zuwanderern gar nicht künstlich herstellen lässt.
Der Vlaams Belang fordert, dass sich der Staat auf seine westlichen Werte besinnen und dem Islam den Status als anerkannte Religion entziehen solle, und er befürwortet die Ausweisung bestimmter Immigrantengruppen. Er vertritt wertkonservative Positionen und spricht sich insbesondere gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechts und die Homoehe aus. Zudem ist er im Gegensatz zur N-VA europafeindlich. Undenkbar auch, dass es unter seinen Abgeordneten – wie neuerdings bei der N-VA – einen mit marokkanischen und einen mit türkischen Wurzeln geben könnte.
Die N-VA von heute gibt sich also pragmatisch. Die flämischen Wähler fühlen sich von ihr nicht deshalb angesprochen, weil sie eine flämische Identität beschwört, sondern weil sie die leeren flämischen Geldbeutel bemängelt. Ihr Erfolg wirft dennoch viele Fragen auf: Ist er Ausdruck eines wachsenden Nationalismus in Europa? Die Anhänger einer sowohl innerstaatlichen als auch zwischenstaatliche Solidarität werden offenbar immer weniger. Und zwar nicht nur in Belgien, sondern auch in Österreich, in der Lombardei oder in Katalonien. Die dortigen Parteien sehen ihre Region in Gefahr, weil zentralistische Hauptstädte ihre Heimat schröpfen, um andere, ärmere Landstriche durchfüttern zu können. Alles in allem vertreten sie eine Regionalversion des alten Thatcher-Slogans: „I want my money back“.5
Der Erfolg der N-VA zeigt zudem ein unleugbares Misstrauen gegenüber der politischen Klasse. Bart De Wevers Art, „Klartext“ zu reden, fasziniert viele junge Wähler, selbst wenn er wirtschaftsliberale Thesen vertritt oder über Sicherheitspolitik spricht.
Für die Linke in Flandern – Grüne und Sozialisten kommen hier zusammen auf gerade mal 20 Prozent – bedeutet der Aufstieg der N-VA, dass sie sich einer kritischen Selbstprüfung unterziehen muss. Sie muss sich der Frage stellen, warum es in Zeiten wie diesen, in denen auch in Flandern die Arbeitslosigkeit steigt, der Staat hoch verschuldet ist, die soziale Schere immer weiter aufgeht und die Regierung wie gelähmt wirkt, warum in diesem Klima der allgemeinen Unzufriedenheit eine populistische Partei wie die N-VA den größten Zuspruch erhält.
Aus dem Französischen von Jakob Horst Serge Govaert ist Geschäftsführer des Centre de Recherches d’Informations Sociopolitiques (Crisp), Brüssel.