Vom Preis der Unentgeltlichkeit
Nachdenken über das Verkaufen von Lebenszeit und den Wert dessen, was es umsonst gibt von Jean-Louis Sagot-Duvauroux
Unentgeltliche Zeitungen, zwanzig Prozent Gratisware zusätzlich … man hat den Eindruck, als sei das Wort gratuit (gratis, unentgeltlich, kostenlos) überall und die Wirklichkeit nirgendwo. Vom Marketing missbraucht, das sich ihrer bedient, um die Nachfrage zu steigern, ist die Unentgeltlichkeit in Wirklichkeit aus dem politischen Angebot so gut wie verschwunden. Sie besteht noch fort in einigen institutionellen Bezeichnungen wie „kostenfreie Schule“, eine durch ein Jahrhundert republikanischer Liturgie geheiligter Ausdruck, den man nicht in „kostspielige Schule“ zu berichtigen wagt. Doch wenn die Debatte nicht gerade durch die Nachsicht und den Respekt, die man alten Damen schuldet, behindert wird, wird der Begriff der Unentgeltlichkeit von einer Mehrheit der für das Gemeinwohl Verantwortlichen verteufelt: verantwortungslos. Irreführend. Fast staatsfeindlich. Wie den Wert der Dinge erkennen, wenn wir vergessen, dass sie Mühe und Geld kosten?
Inzwischen ist es die Werbung, die das Unentgeltliche marktschreierisch für sich zu nutzen versteht; die Vertreter des Gemeinwohls dagegen, die sich einst damit brüsteten, für kostenlos erklärte öffentliche Dienste anzubieten, leiden an politischem Katzenjammer und wollen nichts mehr damit zu tun haben.
Was ist geschehen?
Entwirren wir zunächst das eklatante Paradox, das die kapitalistischen Unternehmen, die die Unentgeltlichkeit zu ihrem wichtigsten kommerziellen Argument gemacht haben, in einem ständigen Wortschwall verkünden. Die privaten Fernsehsender wie TF11 , die Tageszeitung 20 minutes2 sowie ein paar andere Medien haben eine höchst sensible Funktion übernommen: die Produktion von Zeichen, Symbolen, von Sprache mit Hilfe eines Informations- oder Unterhaltungsdienstes, der dem Publikum kostenlos angeboten wird. Dahinter steht ein klassischer Handel mit einem Kunden, einem Lieferanten und einer Ware. Der Kunde ist derjenige, der Werbung schaltet, der Lieferant der Sender von Unterhaltungsprogrammen oder Nachrichten und die Ware der Fernsehzuschauer oder Leser. Was der Kunde dem Lieferanten abkauft, ist „verfügbare Gehirnzeit“, nach dem mittlerweile üblich gewordenen Ausdruck, den Patrick Le Lay, Präsident von TF1, den Leitartiklern zynisch zum Geschenk gemacht hat. Der Inhalt ist kostenlos, was durchaus normal ist, denn der Inhalt ist der Köder. Der Angler verlangt vom Fisch nicht, dass er den Wurm finanziert. Kostenlos also für den Fisch, jedoch finanziert vom Angler und dann vom Abnehmer des Fisches, der dem Angler seinen Fang abkauft. Ein hundertprozentiges Geschäft. Unentgeltlichkeit gleich null.
So viel zur verborgenen Seite.
Potenzielles Ersticken des gemeinsamen Raums durch Entzug der Unentgeltlichkeit. Die andere Seite besteht darin, dass die Unentgeltlichkeit, trotz diesen verheerenden Entwicklungen, fortbesteht und einen wertvollen Ariadnefaden zur Erkundung der Wege des gesellschaftlichen Wandels bildet.
Wir alle teilen eine paradoxe Erfahrung in dieser Welt, in der das Geld alles zu überschwemmen scheint: nämlich die dumpfe Überzeugung, dass die Unentgeltlichkeit nicht an der Peripherie, sondern auf der Achse unseres Daseins liegt. Verwirrt, wie wir von der kommerziellen Umnebelung und der Marketing-Inflation des Wortes „gratis“ sind, wagen wir nicht, uns das einzugestehen; aber das hindert uns nicht daran, den hohen Stellenwert all dessen zu erkennen, was keinen Preis hat: der Liebe, der Freundschaft, des Engagements der Eltern für die Erziehung der Kinder, des Sonnenlichts, des Betrachtens der Landschaft, der Geschenke, die wir erhalten und deren Gefühlswert das Merkmal einer austauschbaren Ware unmittelbar auslöscht …
Der öffentliche Raum verarmt. Er ähnelt mehr und mehr dem kollektiven Nutzungsbereich einer Eigentümergemeinschaft, Anhängsel der Privatsphäre. Letztlich hält er dort, wo sich große solidarische Unentgeltlichkeiten herausgebildet haben, besser stand als anderswo. Die Sozialversicherung oder das Unterrichtswesen haben im Land mit einer Natürlichkeit Wurzeln geschlagen, die vergessen lässt, wie schwierig es war, sie durchzusetzen. Wenn sie angegriffen werden, sind die Reaktionen noch immer recht heftig. Unentgeltlichkeiten als Grundlage des Gemeinschaftsgefühls: Leute, die nachts nicht aus dem Haus gehen, beklagen sich nicht darüber, dass sie die öffentliche Beleuchtung mitbezahlen.
Unsere Zeit kann der kommerziellen Nebelwerferei nicht entrinnen. Allerorten heißt es, wir müssten – sei’s aus Vernunft, sei’s aus Tugend – mehr Zeit für Arbeit aufwenden. Wir lassen uns einwickeln. Manchmal lassen wir uns sogar darauf ein, unsere Tätigkeit mit obszönen Termini zu bemänteln: „lernen, sich gut zu verkaufen“, „300 000 im Jahr wert sein“. Doch im Licht der Unentgeltlichkeit betrachtet, sieht alles anders aus.
„Arbeitszeit“ kann auch „verkaufte Zeit“ heißen, eine der Gutwilligkeit des Käufers unterliegende Ware – das Gegenteil der kostenlosen Zeit, die man für sich selbst hat. Einerseits das Werkzeug, andererseits das Ziel. Auf der einen Seite die Notwendigkeit, auf der andern die Freiheit. Sicherlich kann man sich auch in der verkauften Zeit entfalten, jedoch nur durch eine Koinzidenz, die über den Arbeitsvertrag hinausgeht, eine unveräußerliche, kostenlose und im Übrigen zufällige Beigabe zu dem, was die Lohnabhängigkeit von uns verlangt. Eine bedrohte Beigabe. Vom Abbau des Kündigungsschutzes bis zu Betriebsverlagerungen, von der Flexibilisierung zur chronischen Unterbeschäftigung wird auf uns starker Druck ausgeübt, unsere biografische Autonomie über Bord zu werfen und sie durch eine Subjektivität zu ersetzen, die sich mehr und mehr den Zielen des Unternehmens unterwirft.
Welchen Sinn wollen wir unsrer Zeit, unserem Leben geben? Welchen Teil sind wir bereit zu verkaufen? Welchem anderen Teil wollen wir seine unbezahlbare Unentgeltlichkeit bewahren?
Ist die Unentgeltlichkeit in die Defensive geraten? Der Durchbruch des Internets, das die Möglichkeit einer weltweiten, nahezu kostenlosen Teilhabe an den Kulturgütern eröffnet, wirft die Frage von neuem auf, allerdings in einer konfusen, ikonoklastischen, für die gemütlichen Salons und das Porzellan beunruhigenden Weise, die viele geradezu frohlocken lässt. Seit der Markt seine Herrschaft über die ganze Welt ausgedehnt hat, langweilt er uns ununterbrochen mit seiner nicht zu überbietenden Überlegenheit im freien Handel, und da ist er nun zu verzweifelten Verrenkungen gezwungen, um die freie Zirkulation zu verhindern.
Als der Kapitalismus in den Kulturgütern eine Goldgrube entdeckte, schien nichts seiner Gefräßigkeit entkommen zu können. Und schon ist er gezwungen, sich in seinen alten Betätigungsfeldern zu verbarrikadieren und sich ernsthaft darauf einzustellen, dass die Zukunft ihm unter den Händen zerrinnt. Die Unentgeltlichkeit wird bei jeder Gelegenheit gemeinsame Sache mit der Zukunft machen, entweder mit der Macht der großen Zahl oder durch die Gesetzesverstöße scharfsinniger Hacker. Oder beides. Diese Art Jugendstreich belebt eine alte und von einer langen, fruchtbaren gesellschaftlichen Erfahrung getragene Evidenz: Die Unentgeltlichkeit ist zum Ausüben fundamentaler Rechte unabdingbar – das gilt für die individuelle Entfaltung ebenso wie für das kollektive Leben.
Wenn das Gesetz das Recht anerkennt, ein Dach über dem Kopf zu haben, landet man, wenn es keine leere Floskel sein soll, bei so etwas wie einer Obdachlosenversicherung. Wenn man den öffentlichen Raum wiederherstellen und die Armut bekämpfen will, warum sollten die öffentlichen Verkehrsmittel dann nicht zum Nulltarif zu haben sein, zumindest für Jugendliche, solange sie keine Arbeit haben? Das Recht auf Bildung, die Gleichheit und die Freiheit des Zugangs zur Gesundheitsversorgung, so unvollkommen, kritikwürdig und fehlerhaft sie auch in der Praxis sein mögen, weisen den Weg: Es ist möglich, es kann funktionieren, und es bewirkt Gutes. Ein Recht durch Unentgeltlichkeit zu konkretisieren bedeutet, das Konzept Sozialhilfe zu verlassen und nicht mehr soziale, sondern politische Institutionen zu schaffen, das heißt Institutionen, die wirklich zu einer Angleichung der Lebensbedingungen führen.
Die Institution einer wahren Unentgeltlichkeit laviert nicht. Sie begnügt sich nicht damit, den Eigentumsstatus der Unternehmen zu verändern, sondern sie bedeutet eine Befreiung vom Geschäftsverhältnis als solchem. Sie nimmt den Platz ein, den zuvor der Markt besetzt hielt, indem sie die erheblichen Reichtümer der Kapitalaufwertung umleitet. Sobald sie einmal existiert, setzt sie sich in den Seelen fest und sorgt dort für ebenso überzeugende Gewissheiten wie der Markt.
Wer etwas von seiner Zeit verschenkt, spürt, dass sie keinen Preis hat – ohne deshalb zu vergessen, wie viel Geld sie auf dem Arbeitsmarkt wert ist.
Deshalb prägen sich die institutionalisierten Unentgeltlichkeiten in die Geschichte der Gesellschaften ein. Ohne großen Widerstand konnten die öffentlichen Banken privatisiert werden. Aber allein der Gedanke, das staatliche Erziehungswesen als ein Privatunternehmen anzusehen, wirkt obszön.
Das alles liefert eine Orientierung, um erneut über radikale Veränderungen nachzudenken, die sich bereits in der Gegenwart, im Konkreten abzeichnen. Hier und jetzt: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Merken diejenigen, die das System steuern, schon etwas davon?
Anlässlich der Debatte über das Urheberrecht beschwor Renaud Donnedieu de Vabres, französischer Kulturminister, mit seiner großen Beredsamkeit: „Vor mir steht ein furchterregender Feind, der Traum von der Unentgeltlichkeit.“