Müllabfuhr streng konfessionell
In Nordirland verfestigen sich die gesellschaftlichen Grenzen zwischen Katholiken und Protestanten. Doch bald sollen sie eine gemeinsame Regierung wählen von Cédric Gouverneur
Ballymena ist eine wohlhabende Kleinstadt in Nordirland. 80 Prozent der knapp 30 000 Einwohner sind Protestanten, der Rest Katholiken.1 Die städtische Polizeistatistik zählt allein für den Zeitraum zwischen April und August letzten Jahres 80 religiös motivierte Gewalttaten. Die katholische Kirche in Harryville, einem fast ausschließlich protestantischen Wohnviertel, wurde mehrmals mit Brandbomben attackiert. In den vergangenen zwei Jahren geriet der Besuch der Samstagabendmesse immer mehr zum Spießrutenlauf. Demonstranten beschimpfen und bedrohen die Kirchgänger. Direkt gegenüber hat jemand eine riesige rote Hand auf die Wand gemalt – das zentrale Symbol der Flagge von Ulster und Zeichen für dessen Loyalität zur britischen Krone. Nicht weit entfernt prangt an einer Fassade ein weiteres Bild, das die paramilitärische Ulster Defense Association (UDA) verherrlicht. Diese größte loyalistisch-protestantische Untergrundorganisation Nordirlands (Deckname „Red Hand Defenders“) ist in den 1970er-Jahren entstanden und beruft sich noch immer auf die historische Autonomie der Provinz Ulster, die von 1921 bis 1972 existierte. Deren führende Politiker propagierten „ein protestantisches Parlament in einem protestantischen Staat“2 . So wurde unter der Regierung des nordirischen Premiers James Craig die katholische Minderheit systematisch diskriminiert – bei Wahlen, der Vergabe von Arbeitsplätzen und auf dem Wohnungsmarkt. Anhänger der UDA sind heute eng mit der extremen Rechten Großbritanniens verbandelt. Ihre Losung heißt „Für Gott und Ulster“. Während des Nordirlandkonflikts zwischen 1968 und 1998 mit 3 600 Toten wurden die Untergrundmilizen der UDA unter anderem vom Apartheidregime Südafrikas mit Waffen unterstützt. Und der Lebensstandard ist kontinuierlich gesunken: 1970 lag er im Norden noch 30 Prozent höher als im Süden. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt.
Nordirland ist das Ergebnis einer versäumten Entkolonisierung. In den Augen der großen katholischen Minderheit, die über 40 Prozent der Bevölkerung ausmacht und sich die Wiedervereinigung der Insel wünscht, entbehrt dieses politische Konstrukt jeder Legitimität. Das Friedensabkommen zwischen der Regierung der Republik Irland, der Regierung von Großbritannien und Nordirland und den Parteien in Nordirland vom 10. April 1998 trägt bezeichnenderweise zwei Namen: „Karfreitagsabkommen“ heißt es bei den Katholiken, „Abkommen von Belfast“ bei den Protestanten. So wurde dieser Kooperationsvertrag auch gleich unterschiedlich interpretiert: Die Protestanten betrachteten ihn als Garanten für die Teilung. Und die Katholiken hofften, dass dies ein erster Schritt zu einer gemeinsamen irischen Regierung werden könnte. Die Friedensunterhändler in London und Dublin hatten darauf gesetzt, dass durch das Abkommen eine Kultur der Versöhnung entstehen könnte, aber die gegnerischen Parteien konnten sich bis heute nicht einig werden. Und nachdem der politische Arm der IRA, Sinn Féin, der Spionage verdächtigt worden war, löste im Oktober 2002 die britische Regierung die Autonomieinstitutionen Nordirlands auf.
Bei den letzten Wahlen in Nordirland im November 2003 wurden die gemäßigten Parteien auf beiden Seiten abgestraft – zugunsten der Sinn Féin unter Gerry Adams und der Democratic Unionist Party (DUP) unter Ian Paisley. Der Pfarrer und Politiker Paisley, der seit den 1960er-Jahren gegen eine Annäherung zwischen Nordirland und der Republik Irland kämpft und sich der schützenden Hand Londons sicher sein kann, sucht seitdem beständig nach Vorwänden, um sich die Macht nicht mit Sinn Féin (Irisch, „wir selbst“) teilen zu müssen. Sinn Féin, die einzige größere Partei, die sowohl im Norden als auch im Süden Irlands vertreten ist, ist seit neuestem auch in Dublin erfolgreich. Es ist nicht auszuschließen, dass es nach den Wahlen 2007 zu einer Koalition mit der Mitte-rechts-Partei Fianna Fáil (Irisch, „Soldaten des Schicksals“) kommt, die seit 1997 die Regierung der Republik Irland stellt.
Nach mehr als dreijähriger Unterbrechung war im Mai dieses Jahres das nordirische Parlament auf Betreiben des britischen Nordirlandministers Peter Hain erstmals wieder zusammengetreten. Die 108 Abgeordneten haben ein halbes Jahr Zeit, eine Regierung zu wählen. Kommt es bis zum 24. November zu keiner Einigung, wird die britische Regierung weiter die Oberhoheit ausüben. In den acht Jahren seit dem Friedensabkommen von 1998 haben die politischen Institutionen des Nordens insgesamt nur 30 Monate wie vorgesehen funktioniert.
„Für die paramilitärischen Organisationen geht es ausschließlich um territoriale Vorherrschaft“, erklärt Declan O’Loan, Stadtrat von Ballymena und Angehöriger der gemäßigten, katholisch-republikanischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDLP). O’Loan zeigt auf eine Baustelle, die rundherum mit britischen Fahnen abgesteckt ist. „Das ist eine Botschaft an eventuelle katholische Hauskäufer: Ihr seid hier nicht erwünscht!“ Auch am Freizeitzentrum flattert oben der Union Jack. „Am Abend vor der Eröffnung haben sie diese Fahne aufgehängt, um Katholiken fernzuhalten.“ Drei Meilen weiter im Westen wurden die wenigen katholischen Familien Ahoghills von gewalttätigen Protestanten aus ihren Häusern vertrieben.
Die paramilitärischen Loyalisten agieren in Nordirland weitgehend straffrei. Die Polizei will angeblich die gespannte Atmosphäre nicht weiter anheizen und greift so gut wie nie ein. Und gemäßigte Protestanten scheuen aus Furcht vor Repressalien die Einmischung. Die Loyalisten haben auch keine Angst mehr vor der IRA, denn die republikanische Untergrundorganisation hat im Juli vergangenen Jahres offiziell die Waffen niedergelegt. Eine internationale Untersuchungskommission bestätigte im April dieses Jahres, dass die Führung der IRA prinzipiell einen „friedlichen Weg der Politik“ verfolge. Mit Tommy Nicholl regiert in Ballymena ein Bürgermeister der fundamentalistischen Democratic Unionist Party (DUP) von Ian Paisley, der ebenfalls in Ballymena wohnt. Die DUP-Abgeordneten sitzen im Europaparlament neben dem Front National und den flämischen Extremisten vom Vlaams Belang.
Die DUP lehnt das Abkommen von 1998 und den Friedensprozess ab. Sie ist mit über 30 Prozent der Wählerstimmen inzwischen die stärkste Partei Nordirlands. Tommy Nicholl „verurteilt in ihrem Namen entschieden“ die ethnisch-religiös motivierten Gewalttaten. Aber er hat auch eine Erklärung dafür: „Die Protestanten sind enttäuscht. London investiert in die Viertel der katholischen Nationalisten und vernachlässigt die Unionstreuen. Die fühlen sich benachteiligt und fordern Gleichbehandlung.“ Den Neid und die Unzufriedenheit unter den radikalen Unionisten nutzen die DUP und loyalistische Milizen für ihre Zwecke aus.
„In Ballymena ist es nicht schlimmer als anderswo in Nordirland“, sagt der SDLP-Abgeordnete Sean Farren. Seit dem Gewaltverzicht der IRA kommt die Provinz in der internationalen Berichterstattung kaum noch vor. Dabei ziehen jedes Jahr immer noch rund 1 400 Nordiren um, weil sie im „falschen“ Viertel wohnen und massiv bedroht werden.3 Am Abend des vergangenen 6. Mai wurde Michael McIlveen, ein 15-jähriger Katholik, von etwa gleichaltrigen Protestanten mit Baseballschlägern erschlagen. Als der latente Bürgerkrieg endete und der Friedensprozess begann, waren das Opfer und die Täter noch Kinder. Die Trennung der Gesellschaft nach konfessioneller Zugehörigkeit lässt eine neue Form der Apartheid entstehen. Beide Teile der Bevölkerung koppeln sich in allen Lebensbereichen zunehmend voneinander ab.
„Von der Wiege bis zum Grab kann hier jeder sein Leben rumbringen, ohne jemals den geringsten Kontakt mit der anderen Seite gehabt zu haben“, sagt Neil Jarman, Leiter des Instituts für Konfliktforschung (ICR) in Belfast. In einem Bericht belegt das ICR, dass die Segregation heute konsequenter ist als noch vor Beginn des Friedensprozesses.4 37 „Mauern des Friedens“ aus Beton und Stacheldraht trennen die Religionsgemeinschaften in unmittelbarer Nachbarschaft – 18 Mauern mehr als 1998. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in rein protestantischen oder katholischen Vierteln. Auch die Schulen und sportliche Aktivitäten sind nach Konfessionen getrennt: Die einen spielen Rugby und Cricket, die anderen gälischen Fußball und Hurling (Mannschaftssport keltischen Ursprungs, der mit Stöcken und einem Ball gespielt wird).
„Meine ersten katholischen Freunde hab ich erst mit achtzehn an der Universität kennen gelernt. Das ist hier so üblich“, erzählt Newton Emerson, ein 35-jähriger Journalist aus dem protestantischen Portadown. „Ich habe überhaupt nichts mit Katholiken zu tun“, stellt Susan, eine junge leitende Angestellte in Belfast, etwas erschrocken fest. „Ich bin in einem protestantischen Viertel aufgewachsen und auf eine protestantische Schule gegangen. Mein ganzes Umfeld ist protestantisch.“
Die jüngere Generation ist zur Versöhnung weniger bereit
Jack, ein 45-jähriger Katholik, hat Freunde „von der anderen Seite“. Mit ihnen redet er über alles – „nur nicht über Politik. Vor dem Beginn der Aufstände Ende der Sechzigerjahre gab es viele gemischte Familien. Aber dann haben sich alle in ihre eigene Gemeinschaft zurückgezogen“ – aus Solidarität, aber auch aus Gründen der Sicherheit. Denn die IRA sprengte die Häuser, Kinos und Restaurants in die Luft, um das protestantisch dominierte Nordirland zu zermürben – oft ohne vorherige Bombenwarnung. Die Loyalisten rächten sich mit bewaffneten Überfällen auf Pubs, in denen vorwiegend Katholiken verkehrten. Und man fand immer wieder katholische Entführungsopfer – auf sadistische Weise umgebracht. Während die Generation von Jack kein Problem damit hat, Freunde von der anderen Seite zu treffen, schotten sich die Jüngeren eher ab. Paradoxerweise scheinen sie weniger zur Versöhnung bereit, obwohl sie die schlimmsten Zeiten des Bürgerkriegs gar nicht miterlebt haben. „Die Jungen haben keine Ahnung, welchem Horror sie entgangen sind“, sagen etliche Nordiren um die fünfzig.
Seit dem Waffenstillstand ist die Innenstadt von Belfast nicht mehr wiederzuerkennen – eine Geschäftsgegend wie jede andere. Und doch wird so gut wie jede Bushaltestelle von Jugendlichen auf dem Weg zur Schule mit den Kürzeln KAT (Kill All Taigs – Tötet alle Katholiken) oder KAH (Kill All Huns – Tötet alle Protestanten) besprüht. Im Jahr 2002 hatten 68 Prozent aller 18- bis 25-Jährigen aus den einfachen Wohnvierteln noch nie mit einem Jugendlichen „von drüben“ gesprochen. 62 Prozent sahen sich als Opfer konfessionell motivierter Aggression verbaler oder physischer Art.5
Drei Jahrzehnte des Konflikts ha-ben die Gesellschaft so stark polarisiert, dass in der Solidarität untereinander die Abgrenzung zwischen „denen“ und „uns“ eine enorme Rolle spielt. Belfast ist eigentlich ein großes Nebeneinander von Dörfern. In ganzen Straßen, etwa der Hamill Street, lassen die Bewohner ihre Eingangstüren unverschlossen als Zeichen des Vertrauens unter Nachbarn. In Ardoyne und Short Strand – ärmlichen katholischen Enklaven inmitten protestantischer Wohnviertel – duzen sich alle: Wer hier nicht dazugehört, soll möglichst schnell auffallen. Wandmalereien zur Verherrlichung der IRA oder der loyalistischen Milizen visualisieren die jeweilige Zugehörigkeit von Straßen und Dörfern. „Meine Eltern leben in Armagh. Sie sind liberal eingestellt und Atheisten“, erzählt Newton Emerson. „Trotzdem waren sie noch nie in Crossmaglen“, einer republikanischen Hochburg, nur wenige Kilometer entfernt, wo auf dem Hauptplatz ein großes Ehrenmal für die Kämpfer der IRA steht. Und „die IRA hat etliche Nachbarn meiner Eltern umgebracht – auch Zivilisten“, sagt Emerson.
„Nordirland ist gepflastert mit Denkmälern“, sagt Peter Shirlow, Professor für Geografie an der Universität von Ulster. „Jede Seite hat ihre Märtyrer und ihre Erinnerungen, die nichts mit denen der anderen zu tun haben.“ In diesem Klima würde Mitgefühl für die andere Seite nur die Legitimität dessen, was die eigenen Leute getan haben, in Frage stellen – und zugleich den zwangsläufig „kriminellen“ Akten der Gegner einen Sinn geben. So finden die meisten Republikaner ohne Mühe eine strategische oder sogar moralische Rechtfertigung für sämtliche Attentate der IRA. Andererseits reden viele Unionisten die historische Benachteiligung der katholischen Minderheit klein und negieren die politischen Motive der Bombenleger.
Jedes Ereignis wird durch diese zweigeteilte Wahrnehmung gefiltert. Wenn die Republikaner alljährlich am 5. Mai des Hungerstreiktodes von Bobby Sands und seinen neun Mitstreitern gedenken, die vor 25 Jahren im Gefängnis starben, verehren sie die IRA-Kämpfer als Ikonen der Revolution, die in den Augen der Loyalisten nichts als Terroristen waren. Und am 12. Juli veranstaltet der Oranier-Orden jedes Jahr Umzüge zum Gedenken an die siegreiche „Schlacht von Boyne“, bei der sich 1690 die Truppen des Protestanten Wilhelm III. (Wilhelm von Oranien) und die Anhänger des Katholiken und vormaligen englischen Königs Jakob II. gegenüberstanden. Diese Paraden führen zum Teil mitten durch die Viertel der katholischen Nationalisten. Was für die einen zur kulturellen Tradition gehört, verstehen die anderen als gezielte Demütigung. In Erinnerung an den Waffenstillstand von 1918 stecken sich die Protestanten am 11. November roten Klatschmohn an, was die Katholiken als „britisch-imperiale“ Geste betrachten.
Am 17. März begießen allein die Katholiken alljährlich den Saint Patrick’s Day und hängen die irische Trikolore aus dem Fenster. Eigentlich ein Fest für ganz Irland, wird dieser Tag im Norden von den Nationalisten auf eine Weise vereinnahmt, die für jeden Unionisten eine Provokation bedeutet. Das getrennte kulturelle Erbe zwingt dazu, jeden unbekannten Gesprächspartner einordnen zu wollen. „Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Auf welche Schule sind Sie gegangen?“ William Odling-Smee, Chirurg in Rente, ist Protestant und mit einer Katholikin verheiratet. Er ist außerdem Vorsitzender des Verbands nordirischer gemischter Ehen (Nimma). „Immer wieder stelle ich diese Fragen, ohne es zu merken“, sagt er. „Das sitzt ganz tief in uns drin.“
Komplizierte Strategien für das tägliche Leben
Dahinter steckt die Angst, die angesichts der wieder zunehmenden Brutalität in den Auseinandersetzungen stärker wird. Die Übergänge zwischen katholischen und protestantischen Vierteln in Belfast sind häufig Niemandsland, wo die Häuser leer stehen, weil es viel zu gefährlich wäre, hier zu wohnen. In einem dieser Grenzbereiche wurde im vergangenen Herbst ein 15-jähriger Katholik zu Tode geprügelt. Im Jahr 2003 haben Loyalisten einen Katholiken mit einer Nagelpistole lebendig gekreuzigt. 2002 wurde ein katholischer Postbeamter erschossen, der in einer protestantischen Stadt arbeitete, und ein Protestant erschlagen, weil man ihn für einen Katholiken hielt. Ein katholischer Heckenschütze verletzte fünf Protestanten. Manchmal werden die Morde von rituellen Demütigungen begleitet: So störte die protestantische Untergrundmiliz UDA die Totenwache für den getöteten Postbeamten und sprühte dann in ganz Belfast „Harry Potter ist tot“ an die Wände – um sich über die Ähnlichkeit zwischen dem Opfer und dem Helden J. K. Rowlings lustig zu machen.
Die Gewalt richtet sich aber auch gegen „Abtrünnige“. In diesem Fall dient sie dazu, den Zusammenhalt der mythisch überhöhten Gemeinschaft zu stärken und sie von störenden Elementen zu säubern. Im Jahr 2004 teerte und federte die marxistische Nationale Irische Befreiungsarmee (Inla) zwei junge Delinquenten. Die IRA hat auch nach dem Beginn ihrer Waffenruhe immer wieder republikanische Dissidenten bedroht, ausgestoßen und hingerichtet. In den Protestantenvierteln The Village und Sandy Row im Süden Belfasts sind die Straßen mit rassistischen Graffiti und Hakenkreuzen übersät. Hier wurden im vergangenen März osteuropäische Einwanderer angegriffen, und in der folgenden Nacht demonstrierte die Progressive Unionist Party, eine eng mit der paramilitärischen Ulster Volunteer Force verbundene Partei, vor den Häusern der Opfer gegen deren „asoziales Verhalten“.
„Als gemischtes Paar kann man nur in den bürgerlichen Vierteln leben, denn hier haben die paramilitärischen Gruppen der Arbeiterklasse weniger Einfluss“, sagt William Odling-Smee. In einem Arbeiterviertel würde der „exogame“ Partner immer als Bedrohung betrachtet. Aber auch wer gegen die Kriminalität vorzugehen versucht, gerät ins Visier der Gewalttäter. Mark Langhammer hat als sozialistischer Gemeinderat in Rathcoole ein Kommissariat zur Bekämpfung der Kriminalität loyalistischer Milizen eingerichtet. Die Untergrundorganisationen finanzieren ihren „Kampf“ mit Schutzgelderpressungen und Drogenhandel, und nicht selten rutschen sie ganz ins organisierte Verbrechen ab. „Sie haben ‚Jetzt wird abgerechnet‘ an die Mauer des Polizeipostens gesprüht, und am selben Tag fand ich unter meinem Auto eine Bombe. Sie haben hier ein Dutzend Leute umgebracht, darunter den jungen Postbeamten. Trotzdem werden sie noch immer gedeckt.“ Die Komplizenschaft zwischen Ordnungskräften und paramilitärischen Gruppen war zur Zeit des Kampfes gegen die IRA ein offenes Geheimnis. Und sie existiert noch immer.
Jeder entwickelt eigene Strategien gegen die alltägliche Bedrohung. Joseph ist Student und lebt in Short Strand, einer katholischen Enklave. Er geht nie zu Fuß ins Zentrum von Belfast, obwohl es nur 500 Meter entfernt ist. „Hier fährt man mit dem Taxi. Und wenn man um drei Uhr morgens kein Taxi mehr findet, ruft man seine Eltern an.“ Liam arbeitet in der Nähe von The Village bei der British Telecom. „Bevor ich eine Abkürzung durch dieses gefährliche Loyalistengebiet nehme, fahre ich lieber mit dem Bus in die Stadt und von dort mit einem anderen Bus ins Büro.“ Am Arbeitsplatz bleiben alle lieber unter ihresgleichen, und das nicht ohne Grund: Trotz der Londoner Initiativen zur Bekämpfung der Diskriminierung erklären immer noch 19 Prozent der Katholiken und 10 Prozent der Protestanten, dass sie im Büro oder in der Fabrik Opfer konfessionell motivierter Feindseligkeiten wurden. In den getrennten Wohnvierteln gehören 11 von 12 Angestellten eines Unternehmens derselben Religionsgemeinschaft an. 80 Prozent der Nordiren aus der Unterschicht antworteten in einer Umfrage Peter Shirlow, dass sie keine Arbeit in einem Betrieb der anderen Seite annehmen würden. 88 Prozent würden nachts nicht in ein gegnerisches Viertel fahren, 48 Prozent auch tagsüber nicht. 58 Prozent würden dort nicht einkaufen – 13,5 Prozent davon gaben als Begründung an, dass sie vor allem fürchteten, in der eigenen Gemeinschaft zum Außenseiter zu werden.6 „Die Angst hat viel größeren Einfluss auf das alltägliche Verhalten als die Loyalität gegenüber den eigenen Leuten“, glaubt Shirlow.
Eine Folge der Segregation ist die Verdopplung der Infrastruktur. Postämter, Freizeitzentren, Geschäfte, Einkaufszentren, Sportplätze, Bushaltestellen und sogar Briefkästen gibt es getrennt für Katholiken und Protestanten. Die Busfahrer nehmen extra Umwege, um möglichst wenige konfessionelle Gebietsgrenzen zu überqueren. Jeden Morgen teilen sich die Müllwerker von Belfast in zwei Arbeitskolonnen auf – eine katholische, eine protestantische. Wenn eine Gemeinde sich gegenüber den Nachbarn von der anderen Seite benachteiligt fühlt, gibt es Krawalle. Die liberale, konfessionsübergreifende Kleinpartei „Alliance“ schätzt die Mehrkosten dieser doppelten Infrastruktur auf 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. David Russell leitet die Nordirische Kommission für konfessionsübergreifende Bildung (Nicie): „Nur 5 Prozent der Schüler gehen in gemischte Schulen“, sagt er. „Zwar ist die Nachfrage unter den Eltern viel größer, aber London passt sich lieber den herrschenden Verhältnissen an, als das System umzukrempeln.“
Anpassung um den Preis der Kompromittierung? Im Herbst 2001 wurden Fernsehzuschauer in aller Welt Zeugen einer Szene in Belfast: Die Mädchen der katholischen Schule Holy Cross mussten monatelang jeden Morgen zwischen zwei Polizeiketten eine „protestantische“ Straße überqueren und wurden dabei von den Anwohnern ausgepfiffen, beschimpft und mit Steinen oder uringefüllten Ballons beworfen. „Nach zehn Wochen Terror“, erzählt Betty Quinn, die Direktorin der Schule, „haben die Loyalisten zugesagt, den Kindern nicht mehr zuzusetzen. Im Gegenzug verlangten sie öffentliche Gelder für ihr Viertel. Außerdem sollten die Katholiken versprechen, ihre Autos nicht mehr drüben zu parken und die Kinder im Bus zur Schule bringen.“
London hat nie eingestanden, dass es sich bei dem jahrzehntelangen Nordirlandkonflikt um einen Bürgerkrieg handelte, und immer versucht, die Gewalt „in akzeptablen Grenzen“ zu halten. Das Abkommen von 1998, das beide Seiten dazu einladen sollte, sich die Macht zu teilen, hatte eine geradezu paradoxe Wirkung: Die politischen Identitäten bekamen tribalistische Züge. Der Konflikt wurde gewissermaßen entpolitisiert und auf den atavistischen Kampf zwischen zwei „Stämmen“ reduziert. Mit dem verkündeten Ende der Ideologien ist eine ethnisierte und allzu schlichte Sicht der Dinge entstanden, die einer historischen Analyse kaum standhält. Während des Bürgerkriegs gab es noch ein politisches Bewusstsein, denn die Trennlinie verlief zwischen der sozialistischen Unabhängigkeitsbewegung (IRA) und den Sozialdemokraten (SDLP) auf der einen sowie den konservativen Unionisten (UUP) und rechtsextremen Loyalisten (DUP, Milizen) auf der anderen Seite und verbündet mit einem parteiischen Staat.
Nun definiert sich der Gegner also nicht mehr politisch, sondern „ethnisch“. Man bekämpft ihn nicht wegen seiner nationalistischen oder loyalistischen politischen Einstellungen, sondern wegen seiner Herkunft (als Ire oder Brite). Dem Friedensschluss von 1998 ist es bisher nicht gelungen, aus Feinden politische Gegenspieler zu machen. Anstatt in einer demokratischen Auseinandersetzung die Vor- oder Nachteile einer irischen Vereinigung oder einer Union mit Großbritannien zu erörtern, geht es den meisten Nordiren nur noch darum, „die von der anderen Seite“ unterzukriegen – zahlenmäßig und territorial, indem man das eigene Gebiet mit einer Fahne auf jedem Laternenpfahl markiert.