07.07.2006

Serbischer Phantomschmerz

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Serbischer Phantomschmerz

von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin

Am 5. Juni nahm das serbische Parlament die Abspaltung Montenegros „zur Kenntnis“. Damit ist Serbien eines der wenigen Länder der Welt, die ihre Eigenständigkeit zurückerlangt haben, ohne es zu wollen. Der Ausgang des Referendums in Montenegro am 21. Mai beendete die staatliche Einheit der beiden Republiken. Damit ist Serbien aufgefordert, seine Grenzen, seine Identität und seine Regierungsform neu zu bestimmen. Dies hat auch Vuk Draskovic, der Außenminister des ehemaligen Serbien-Montenegro, erkannt, der bereits am Tag nach der Volksbefragung zur Restauration der serbischen Monarchie aufrief. Wenige Tage später erklärte sich Prinz Alexander Karadjordjevic zum Thronanwärter.

2006 war für Serbien von Anfang an ein „schwarzes Jahr“. Nur wenige Wochen vor dem Referendum in Montenegro hatte die Europäischen Union die Gespräche mit Belgrad ausgesetzt. Der Grund: Der vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien gesuchte General Ratko Mladic, ein bosnischer Serbe, hält sich noch immer in Serbien versteckt. Auch der künftige Status des Kosovo soll in diesem Jahr entschieden werden. Belgrad muss damit rechnen, die seit Juni 1999 unter provisorischer UNO-Verwaltung stehende Provinz zu verlieren. Das dürfte auch die letzten 100 000 noch im Kosovo lebenden Serben dazu bringen, nach Serbien zu flüchten.

Während Serbien in den Kriegen der 1990er-Jahre auf das Ziel hinarbeitete, ein „Großserbien“ zu errichten oder doch zumindest „alle Serben in einem Staat zu vereinen“, verlor das Land ein Gebiet nach dem anderen. Bis es am Ende miterleben musste, wie sich die Serben auf immer mehr Staaten verteilten.

Im Gegensatz dazu war die Abspaltung Montenegros nur der offizielle Vollzug einer schon längst bestehenden Realität. Bereits seit Jahren unterhielt Montenegro nur noch lose Beziehungen zu Serbien. Die „Staatengemeinschaft“, die 2003 an die Stelle der Bundesrepublik Jugoslawien getreten war, stellte nicht mehr als eine leere Hülse dar: Jede der beiden Republiken besaß ihr eigenes Steuer- und Zollsystem und sogar ihre eigene Währung – Montenegro zunächst die D-Mark, dann den Euro.

Obwohl Montenegro seit kurzem seine ursprüngliche Identität wiederentdeckt, bestehen auch weiterhin starke menschliche und kulturelle Bande zwischen den beiden Republiken. So erklärten 30 Prozent der Bürger Montenegros bei der Volkszählung 2003, sie seien serbischer Nationalität. Diese Bevölkerungsgruppe lebt in den nördlichen Grenzgebieten und dürfte sich mit der neuen Situation nolens volens abfinden.

Montenegro fällt in „nationaler“ Hinsicht tatsächlich aus dem Rahmen. Das unterstreicht auch Petar Marinovic aus Centinje, früher Hauptstadt der montenegrinischen Monarchie, heute Hochburg der Unabhängigkeitsbefürworter: „Entscheidend für die Unabhängigkeit waren die drei Städte Cetinje, Rozaje und Ulcinj.“ Im mehrheitlich albanischen Ulcinj und in Rozaje, wo die muslimischen „Bosniaken“ die Mehrheit der Bevölkerung stellen, haben diese beiden Gruppen mit 88 bis 91 Prozent für die Unabhängigkeit gestimmt.

Montenegro konstituierte sich bewusst als Vielvölkerstaat

Damit haben sich erstmals in der neueren Geschichte der Region die nationalen Minderheiten eines Landes mit der Mehrheitsgesellschaft für ein gemeinsames politisches Ziel zusammengetan. Die Unabhängigkeit Kroations fußte auf der Ausgrenzung der Serben in der Krajina; die mazedonischen Albaner haben die Unabhängigkeit Mazedoniens nie unterstützt, und nur die albanischen Kosovaren befürworten einen eigenen unabhängigen Staat. Die Parteigänger eines unabhängigen Montenegro hingegen wollten einen Vielvölkerstaat, der allen Ethnien gleiche Bürgerrechte zugesteht – ein Ziel, das nur gemeinsam zu erreichen war. Deshalb heißt es in der am 3. Juni verabschiedeten Unabhängigkeitserklärung: „Montenegro ist eine multinationale, multiethnische, multikulturelle und multikonfessionelle Gesellschaft, basierend auf der Achtung und dem Schutz der Rechte und Freiheiten des menschlichen Individuums und der Minderheitenrechte.“

Über 200 000 Montenegriner leben allerdings in Serbien. Sollte ihnen Montenegro nicht die Staatsangehörigkeit zuerkennen, würden sie womöglich „Staatenlose“. Damit würden sie über Nacht im eigenen Land zu Ausländern werden, und viele von ihnen würden womöglich arbeitslos. Viele Montenegriner waren in der öffentlichen Verwaltung und im Justiz- und Polizeiapparat beschäftigt, wo inzwischen nur noch Inländer arbeiten dürfen.

Diese Menschen werden die Sezession Montenegros als harten Bruch erfahren und sie, wie ein gut Teil der serbischen Gesellschaft, als Verlust eines weiteren Stücks „serbischen Bodens“ wahrnehmen. Dies wiederum fördert die traditionelle Selbstwahrnehmung der Serben als Opfer. Dieses Selbstbild beutet der serbische Rechtsradikalismus weidlich aus, indem er die etappenweise „Zerstückelung“ des nationalen Territoriums anprangert.

Noch tragischer sind die Friktionen, die sich im Kosovo anbahnen. In den serbischen Enklaven bereiten sich schon viele auf die Flucht vor. „Ich bleibe bis zum Ende, ich werde als Letzter gehen“, sagt Dimitrije Vucic gedrückt. Er ist einer von 700 Einwohnern des serbischen Dorfs Velika Hoca im Südosten des Kosovo, den die Serben Metohija nennen. Vucic hat sein Dorf seit sieben Jahren nicht verlassen. Auf den Höhen über dem Dorf hat das deutsche KFOR-Bataillon hinter Stacheldraht Stellung bezogen, um eine der letzten serbischen Enklaven im Südkosovo zu schützen. Die einzigen Serben in der Region sind ansonsten nur noch die 500 Einwohner eines „Ghetto“ genannten Stadtviertels in Orahovac.

Hier macht sich niemand Illusionen: Mit der Unabhängigkeit steht ein neuer Exodus in Richtung Serbien bevor. „Die Jüngeren sind bereits gegangen, es gibt nur noch zwei junge Frauen und zehn junge Männer im heiratsfähigen Alter. Auch meine Frau will weg, obwohl wir in Serbien nichts haben“, unterstreicht Vucic. Wie viele andere Bewohner der Enklave verfällt der ehemalige Dorfvorsteher allmählich dem Alkoholismus. Arbeit gibt es in Velika Hoca nur noch auf den Feldern und Weinbergen des berühmten Klosters Visoki Decani. Aber die Serben müssen sich auf die Flächen beschränken, die innerhalb der KFOR-Schutzzone liegen.

Nur wenige Kilometer entfernt liegt das mittelalterliche Kloster Zociste, das1999 vollständig niedergebrannt wurde. Seit zwei Jahren wohnen dort wieder drei Mönche, die das Gebäude unter dem Schutz der Nato Stein um Stein wieder aufbauen. Einer der Mönche meint realistisch: „Die Serben in Orahovac sind zur Flucht verurteilt. Die in Velika Hoca könnten bleiben, wenn die KFOR ihnen wirklich hinreichenden Schutz bietet. Wir Mönche bleiben, solange unsere Kraft reicht; unsere Anwesenheit auf der Erde des Kosovo soll ein Zeichen setzen.“

Die einzige Lösungsformel lautet Dezentralisierung

Während der an „Mütterchen Serbien“ angrenzende serbische Norden des Kosovo noch immer von einer Teilung der Provinz träumt – was von der internationalen Gemeinschaft offiziell abgelehnt wird –, sind die serbischen Enklaven südlich des Ibar-Flusses schon in Auflösung begriffen. In den 15 Dörfern im Umkreis des Klosters Gracanica häufen sich die Grundstücksverkäufe.

Die direkten Gespräche zwischen Belgrad und Pristina, die im Herbst vorigen Jahres in Wien unter der Ägide des UNO-Sonderbeauftragten Martti Ahtisaari begannen, sind bislang ohne Ergebnis geblieben. In keiner Frage zeichnet sich ein Kompromiss ab: Die Kosovo-Albaner wollen nur über die Unabhängigkeit sprechen, während Belgrad für alle Lösungsmodelle offen ist – außer für die Unabhängigkeit. Dabei müsste einer der zentralen Diskussionspunkte die Dezentralisierung des Kosovo sein.

Um für die verbliebenen Serben akzeptable Lebensbedingungen zu schaffen und damit ein Bleiben zu ermöglichen und auch um die geflüchteten Serben zur Rückkehr zu ermutigen, muss man neue, lebensfähige serbische Gemeinden mit umfassenden Selbstverwaltungsrechten schaffen. In dieser Hinsicht versteift sich die Belgrader Verhandlungsdelegation auf Maximalpositionen, insofern sie über zwanzig neue Gemeinden verlangt, während die Albaner das Thema verschleppen und diesen Gemeinden möglichst wenig Boden abtreten wollen.1

Wenn die internationale Gemeinschaft den nichtalbanischen Volksgruppen im Kosovo ein Bleiberecht garantieren will, wird sie eine derartige Dezentralisierung durchdrücken müssen und den albanischen Vertretern gegebenenfalls klarmachen, dass dies der Preis für die Unabhängigkeit ist. Denn wenn dies nicht geschieht, wird das erklärte Ziel eines „multiethnischen Kosovo“ eine leere Formel bleiben. Das UNHCR scheint freilich schon Anstalten zu treffen, in Serbien weitere 50 000 bis 70 000 nichtalbanische Kosovo-Vertriebene aufzunehmen.2

Bereits heute leben im Süden Serbiens zahlreiche Vertriebene aus dem Kosovo, zum Beispiel in der Umgebung von Vranje. 277 Familien aus Lipjan haben in Vranjska Banja Zuflucht gefunden. Sie leben in behelfsmäßig zusammengezimmerten Unterkünften und arbeiten gleich nebenan in einer Gärtnerei, die Salat und Zwiebeln für McDonald’s produziert. „Wir sind stolz darauf, gegen die Amerikaner und die Nato gekämpft zu haben, gegen die größten Militärmächte der Welt. Eines Tages werden wir zurückkehren und die Albaner verjagen“, donnert Zorica Peric, der für die Sozialistische Partei (SPS) des verstorbenen Expräsidenten Slobodan Milosevic im „Exilgemeinderat“ von Lipljan sitzt. Nach den resignierten Gesichtern der anderen Flüchtlinge zu urteilen, dürften sie solche Ansichten kaum teilen. Die meisten dieser Kosovo-Vertriebenen sind Dörfler und haben mangels Qualifikation kaum Aussicht, einen Job in Serbien zu finden, wo ein Drittel der Erwerbsbevölkerung ohnehin arbeitslos ist.

„Wenn die heute noch im Kosovo lebenden 120 000 Serben bei der Unabhängigkeit hierher flüchten, können wir die Situation nicht bewältigen, weder gesellschaftlich noch politisch“, meint Radomir Diklic, ehemals Berater des Präsidialamts von Serbien-Montenegro, der in Wien mit am Verhandlungstisch sitzt. „Wir setzen uns dafür ein, dass die Serben im Kosovo bleiben können, aber die Albaner wollen darüber nicht verhandeln, und die internationale Gemeinschaft ist nur bestrebt, sich das Problem möglichst schnell vom Hals zu schaffen. Ein Serbien aber, das unter der Last neuer Flüchtlinge ins Wanken gerät, steht dann vor einer Zerreißprobe – wirtschaftlich durch die Krise und politisch durch den Vormarsch der extremen Rechten. Damit hätte das Land kaum Chancen, sich kritisch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen und zur Stabilisierung der Region beizutragen.“

In der Tat bekommt die extreme Rechte in Serbien immer mehr Zulauf. Neueren Umfragen zufolge kann die Serbische Radikale Partei (SRS), die ihr Vorsitzender Vojislav Seselj von seiner Zelle in Den Haag aus leitet,3 derzeit auf 40 Prozent der Wählerstimmen hoffen. Zählt man die 7 oder 8 Prozent der Sozialistischen Partei hinzu, könnten die Anhänger der alten Diktatur bei vorgezogenen Parlamentswahlen eine parlamentarische Mehrheit erringen. Und vorgezogene Wahlen sind durchaus wahrscheinlich: Ministerpräsident Vojislav Kostunica will offenbar lieber zurücktreten und Neuwahlen ausschreiben als den Verlust des Kosovo mit seiner persönlichen Unterschrift besiegeln. Und seine Regierung verfügt ohnehin nur über eine äußerst knappe Mehrheit, die von der Duldung durch die sozialistischen Abgeordneten abhängt.

Sollten die Rechtsnationalen, die offiziell die „Besetzung“ des Kosovo anprangern und das Gebiet „befreien“ wollen, an die Macht gelangen, würde sich die Perspektive eines zwischen Belgrad und Pristina ausgehandelten Abkommens wohl zerschlagen, was gewiss eine neue direkte Konfrontation zwischen Serbien und der internationalen Gemeinschaft zur Folge hätte.

Auch in Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska (der Serbischen Republik innerhalb Bosnien-Herzegowinas), leben viele Flüchtlinge. Sie stammen aus Kroatien und Zentralbosnien, aus der Herzegowina und dem Kosovo, und sie alle haben persönliche Tragödien hinter sich. Viele fühlen sich schlicht als Serben, auch wenn einige offiziell staatenlos geworden sind. Milodrag Pavic, ein junger Journalist, erläutert: „Hier sind alle Augen auf Serbien gerichtet. Wenn eine serbische Fußballmannschaft gegen eine bosnische antritt, sind alle für die Serben. Ich habe gegen niemanden etwas, aber ich fühle mich nicht als Bosnier: Dieses Land existiert für mich nicht.“

Bosnien-Herzegowina bleibt für viele der in der Republika Srpska (RS) lebende Serben ein künstliches Gebilde, eine leere Hülse. Deshalb forderte RS-Ministerpräsident Milorad Dodik am 26. Mai dieses Jahres das Recht, in der von ihm geführten „Einheit“ ebenfalls ein Referendum wie in Montenegro abzuhalten. Der Hohe Repräsentant der EU, Christian Schwarz-Schilling, hielt dem sofort entgegen, eine solche Volksbefragung widerspreche dem Dayton-Friedensabkommen von 1995, das die staatliche Einheit Bosnien-Herzegowinas festschreibt, auch wenn der Staat aus zwei „Einheiten“ besteht: der Republika Srpska und der Kroatisch-Bosnischen Föderation.

Auf einer Kundgebung in Novi Sad in der Vojvodina verkündete Dodik am 6. Juni, 90 Prozent der RS-Bürger seien für ein Referendum, das man ihnen nicht verweigern könne, wenn man es den Kosovaren zugesteht.4 Dodiks Haltung ist insofern von Bedeutung, als dieser Politiker immer als „gemäßigt“ galt und sich als Führer der unabhängigen Sozialdemokratie lange Zeit gegen die nationalistischen RS-Führern stellte.

Wird das Kosovo zum Präzedenzfall für Bosnien?

Die meisten Beobachter sind sich darin einig, dass der bosnische Staat, so wie er heute ist, nicht funktioniert. Doch alle Versuche, die im Dayton-Abkommen festgelegte institutionelle Konstruktion zu reformieren, sind bislang gescheitert. Auch deshalb wird sich der Wahlkampf im Vorfeld der Parlamentswahlen am 1. Oktober wohl auf die Frage zuspitzen, ob die Republika Srpska sich abspalten darf oder ob sie im Gegenteil abgeschafft werden soll, wie es die Anhänger einer bosnischen Wiedervereinigung wünschen. Damit ist die politische Diskussion in Bosnien, wie Senad Pecanin, Redakteur der in Sarajevo erscheinenden Zeitschrift Dani, hervorhebt, auf die Kontroverse zurückgeworfen, die 1996 oder sogar am Vorabend des Kriegs dominiert hatte.5

Eine Abspaltung der serbischen Teilrepublik, die vor wenigen Jahren noch undenkbar war, rückt langsam in den Bereich des Möglichen. Zwar kann man aus der Abspaltung Montenegros keine rechtlichen Folgen für Bosnien-Herzegowina ableiten, da Montenegro als ehemalige jugoslawische Teilrepublik über ein anerkanntes Recht auf Sezession verfügte. Anders dagegen im Fall Kosovo, denn hier würde die Unabhängigkeit in der Tat einen Präzedenzfall schaffen. Dieses Argument ließe sich auch mit dem Hinweis auf die Mehrheitsverhältnisse bekräftigen: Denn so wie im Kosovo über 90 Prozent der derzeitigen Einwohner Albaner sind und für die Unabhängigkeit eintreten, so sind in der Republika Srpska knapp 90 Prozent der Einwohner Serben.

Doch mit dieser Logik könnte man ohne weiteres fast alle Grenzen auf dem Balkan in Frage stellen – mit unkalkulierbaren Folgen nicht nur für Bosnien-Herzegowina, sondern für die gesamte Region. Und das Szenario eines „Tauschhandels“ – die Unabhängigkeit des Kosovo und als Trostpreis für Belgrad der Anschluss der Republika Srpska an Serbien – birgt die Gefahr in sich, dass die Region bald wieder in Flammen aufgeht. Es sei denn, man will die absurde Idee realisieren, alle Grenzen in der Region neu zu ziehen, um „ethnisch“ reine Nationalstaaten herzustellen.

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass Serbien nach wie vor einer der ethnisch heterogensten Vielvölkerstaaten Südosteuropas ist. In der Vojvodina im Norden, die bis 1990 weitgehende Selbstverwaltungsrechte hatte, bevor diese unter Milosevic schrittweise abgebaut wurden, machen nichtserbische Minderheiten 45 Prozent der Bevölkerung aus. Im Presevo-Tal im Süden, nahe der Grenze zum Kosovo, leben rund 100 000 Bürger albanischer Abstammung, und die Bevölkerung des Sandschak von Novi Pazar besteht zur Hälfte aus muslimischen Slaven, die sich heute als „Bosniaken“6 verstehen. Und dann gibt es noch die kleineren rumänischen, bulgarischen und walachischen Gemeinschaften und vor allem die zahlreichen Roma.

Die Serbische Radikale Partei hat das Ziel „Großserbien“ – wie auch das Parteiblatt heißt – nicht aufgegeben. Innerhalb dieses Programms pflegt sie auch ein rassistisches Feindbild von den nationalen Minderheiten Serbiens, die als „Fünfte Kolonne“ hingestellt werden. In Wirklichkeit müsste es den Serben darum gehen, eine Identität zu entwickeln, die sowohl den multiethnischen Charakter der serbischen Gesellschaft berücksichtigt als auch die Existenz einer grenzüberschreitend-nationalen Frage. Damit stehen sich zwei Zukunftsentwürfe gegenüber: entweder neue Grenzen, neue Teilungen, neue Vertreibungen, neue Gewalt und wohl auch neue Kriege – oder die schnellstmögliche Integration der Gesamtregion in die Europäische Union, mit allen positiven und negativen Folgen für die Bevölkerung.

Ein EU-Beitritt würde die zwischenstaatlichen Grenzen relativieren und zwischen den verschiedenen serbischen Gebieten auf dem Balkan neue Austausch- und Partnerschaftsbeziehungen schaffen. Aus Brüsseler Sicht steht ein baldige EU-Beitritt sicher nicht auf der Tagesordnung. Aber eine kleinmütige Politik, wie sie beim Zerfall Jugoslawiens 1991 betrieben wurde, könnte auch diesmal dramatische Folgen haben. Eines ist jedenfalls sicher: Die nationale Frage Serbiens ist nur innerhalb Europas zu lösen.

Fußnoten: 1 Siehe Artan Mustafa, „Décentralisation du Kosovo: nouvelles propositions albanaises“, Le Courrier des Balkans, 25. April 2006, http://balkans.courriers.in fo/article6637.html. 2 Politika, 1. Juni 2006. 3 Vojislav Seselj befindet sich in Den Haag auf der Anklagebank des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für Exjugoslawien. 4 Siehe „Bosnie: la Republika Srpska réclame son référendum“, Le Courrier des Balkans, 7. Juni 2006, http://balkans.courriers.info/article6808.html. 5 Siehe Senad Pecanin, „Débats sur un référendum en Republika Srpska: la Bosnie régresse de dix ans“, Le Courrier des Balkans, 6. Juni 2006, http://bal kans.courriers.info/article6805.html. 6 Im alten Jugoslawien gab es in Bosnien-Herzegowina und im Sandschak eine „muslimische“ Nationalität. Diese Muslime nennen sich heute „Bosniaken“ (Bosnjaci), während „Bosnier“ (Bosanci) alle Einwohner Bosnien-Herzegowinas bezeichnet. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Jean-Arnault Dérens ist Autor des Buchs „Kosovo, année zéro“, Paris (Paris-Méditerranée) 2006; Laurent Geslin arbeitet als Journalist bei Le Courrier des Balkans.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2006, von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin