Juristen sind die Größten
In den USA gibt es eine heimlich herrschende Klasse von Alan Audi
Noch heute gilt, was Alexis de Tocqueville vor 170 Jahren in seiner berühmten Studie über die amerikanische Demokratie schrieb: „In Amerika … stellen die Juristen die überlegene politische Klasse … dar.“1 Präsident Obama, der bis 2004 Verfassungsrecht an der Universität von Chicago lehrte, ist von lauter Juristen umgeben: Vizepräsident Joseph Biden, Außenministerin Hillary Clinton, Heimatschutzministerin Janet Napolitano, Justizminister Eric Holder, Umweltminister Ken Salazar, den Präsidentenberatern Valerie Jarrett und Cass Sunstein sowie dem CIA-Chef Leon Panetta. Neue Mitarbeiter sucht Obama zuerst im Umfeld der Harvard Law School. Abgesehen von der Regierungsmannschaft sind 59 Prozent der Senatsmitglieder und 40 Prozent der Kongressabgeordneten gelernte Juristen.2
Doch im Gegensatz zu den Zeiten, als Tocqueville Neuengland bereiste, genießen Juristen und insbesondere Anwälte in der amerikanischen Öffentlichkeit heutzutage keinen besonders guten Ruf. Der gängige Vorwurf lautet, dass die Angst vor einem möglichen Prozess und die Notwendigkeit, sich gegen alle erdenklichen Risiken abzusichern, das Land lähmten. Manche Berufszweige sind besonders gefährdet: So kann ein einziger Kläger, wenn er es darauf anlegt, einen Arzt in den Ruin treiben. Das erklärt unter anderem die exorbitanten Honorare für operative Eingriffe.
In seinem jüngsten Buch schildert der New Yorker Anwalt und Bürgerrechtler Philip Howard den Fall einer Fünfjährigen, die im Kindergarten einen Tobsuchtsanfall bekam. Die Kleine warf mit Büchern und Stiften um sich und riss die Tapete in Fetzen. Aber die Erzieher trauten sich nicht einzuschreiten, weil man ihnen später hätte vorwerfen können, sie seien gegen das Kind handgreiflich geworden. Schließlich wurde die Polizei gerufen und das Mädchen in Handschellen abgeführt.3
Eher Priester denn Gelehrter
Das angelsächsische Common Law basiert auf Präzedenzfällen.4 Das verschafft Juristen und Anwälten eine gesellschaftlich wichtige Rolle. Tocqueville stellte zu Recht fest: „Unsere geschriebenen Gesetze sind zwar oft schwer zu verstehen, aber jeder kann sie lesen; es gibt dagegen nichts, was für das Volk unverständlicher und schwerer zugänglich ist als ein Recht, das auf Präzedenzfällen aufbaut. Dieser Bedarf an Juristen in England und Amerika, diese hohe Vorstellung von ihrer Einsicht trennen sie mehr und mehr vom Volke und lassen sie schließlich zu einer besonderen Klasse werden. Der französische Jurist ist nur ein Gelehrter; der englische und amerikanische Jurist gleicht dagegen gewissermaßen den Priestern Ägyptens; wie diese ist er der einzige Deuter einer Geheimwissenschaft.“
Den Zugang zu dieser „besonderen Klasse“ erlangt man über eine der juristischen Fakultäten (Law Schools), an denen die Studierenden hauptsächlich Präzedenzfälle analysieren. Zugangsvoraussetzung für fast alle Law Schools in den USA ist ein vierjähriges Universitätsstudium. Nach einem dreijährigen Jurastudium schließen die Studierenden mit einem juris doctor ab. Damit können sie sich sofort in jedem US-Bundesstaat um eine Anwaltszulassung bewerben. Die besten Absolventen der besten Universitäten – Yale, Harvard, Stanford und Columbia – versuchen allerdings nach dem Studium noch ein oder zwei Jahre Berufserfahrungen am Gericht zu sammeln. Das erhöht auf jeden Fall ihre Karrierechancen in einer der großen Kanzleien oder in der Politik.
Doch viele können sich diese verhältnismäßig lange Ausbildungszeit von vornherein nicht leisten. Ungefähr ein Drittel der Studierenden hat nach sieben Jahren Ausbildung mehr als 120 000 Dollar Schulden angehäuft.5 Deshalb suchen die meisten nach dem Abschluss eine lukrative Stelle in einer großen Kanzlei, wo Berufsanfänger6 oft das Drei- oder Vierfache von dem verdienen, was sie im öffentlichen Dienst7 bekämen.
Anders als in Europa, wo einzelne, selbstständige Anwälte auch schwierige Fälle übernehmen, würde in den USA kein Jurist auch nur im Traum daran denken, sich ohne den Rückhalt einer angesehenen Großkanzlei (solche Büros beschäftigen zwischen 200 bis 1 000 Juristen) allein durchzuschlagen. Die erfolgreichsten Anwälte haben sich in diesem System ihre Sporen verdient. Spitzenverdiener sind die Wirtschaftsanwälte, die im Durchschnitt über ein Jahreseinkommen von einer Million Dollar verfügen.
Wer eine Karriere in der Politik anstrebt, wird zunächst einmal Staatsanwalt (prosecutor). Sowohl Rudolph Giuliani, der frühere Bürgermeister von New York, als auch John Kerry, demokratischer Herausforderer von George Bush bei den Präsidentschaftswahlen 2004 und seit 1985 Senator von Massachusetts, nutzten ihre Zeit als Staatsanwalt, um sich einer konservativen Wählerschaft als Hardliner anzudienen (was allerdings im Fall Kerry gründlich danebenging). Fernsehserien wie „Law and Order“ unterstützen dieses Image. Aber auch auf echten Pressekonferenzen trumpfen Staatsanwälte – unter dem Applaus der Boulevardpresse – gern auf. Dabei erringen sie ihre Erfolge meistens nur auf Kosten der vom Gericht bestellten Pflichtverteidiger, deren Einsatz für bedürftige Klienten ihnen alle weiteren Karrierechancen verbaut.
Unumgänglich für das Verständnis des Anwalts in der amerikanischen Politik ist der Spezialberuf des trial attorney, des Prozessanwalts, der dem britischen barrister entspricht. In der Praxis gehören die Trial Attorneys heute zu einer relativ kleinen Gruppe von Anwälten, die vor allem auf Zivilrechtsprozesse gegen Unternehmen spezialisiert sind. Sie vertreten Fälle, die den Verbraucherschutz betreffen, die Haftbarmachung von Unternehmen oder Behandlungsfehler von Ärzten oder Krankenhäusern. Oft vertritt der Prozessanwalt in Sammelklagen (class actions) eine große Zahl von Klägern.
Der frühere demokratische Präsidentschaftskandidat John Edwards ist ein typischer Trial Attorney. So erstaunlich es auch klingen mag, in den USA wird es offenbar nicht als Widerspruch empfunden und schadet dem Image eines Politikers auch nicht, wenn er ausgerechnet als Anwalt der Schwachen etliche Millionen Dollar verdient hat. Das hängt mit folgendem Sachverhalt zusammen: Über den Schadensersatz hinaus wird die Kompensation für den sogenannten punitive damage fällig. Dessen Streitwert, den in der Regel ein Geschworenengericht festsetzt, kann in die Millionen gehen. Deshalb verzichten die Anwälte von Klägergemeinschaften meistens von vornherein auf ein festes Honorar und arbeiten lieber für eine Erfolgsbeteiligung, die in der Regel ein Drittel des Streitwerts ausmacht.
Republikanische Politiker, Versicherungsgesellschaften und Unternehmer laufen regelmäßig Sturm gegen die von den Demokraten verteidigte Institution der Sammelklage. Nicht zufällig gingen vor der letzten Präsidentschaftswahl 96 Prozent der Spendengelder aus den Reihen der ehemaligen Association of Trial Lawyers of America (heute: Association for Justice) an Kandidaten der Demokratischen Partei.8
Mit der Wahlkampffinanzierung durch private Spenden eröffnen sich für die Trial Attorneys interessante Perspektiven. So hatte zum Beispiel eine Gemeinde in Massachusetts eine Sammelklage mit zwölf Klägern angestrengt, nachdem der öffentliche Pensionsfonds aufgrund der Finanzkrise in Geldnot geraten war. Die Gemeinde wurde von einer Kanzlei vertreten, deren Anwälte den Wahlkampf des lokalen Finanzsekretärs mit 68 Einzelspenden unterstützt hatten.9 Ein unspektakulärer Fall, der aber den Befund des prominenten Kommentators Michael Kinsley perfekt illustriert: Der eigentliche Skandal in Washington besteht nicht in den Rechtsbrüchen, sondern in der Gesetzgebung selbst.
Auch bei der Richterbestellung gibt es eine amerikanische Besonderheit: In 23 Bundesstaaten werden die Richter unmittelbar vom Volk gewählt. Das Gleiche gilt für Staatsanwälte. So brüstete sich ein Kandidat einmal in einem Fernsehspot vor den Porträts von Hingerichteten mit der Anzahl der Todesurteile, die auf sein Plädoyer hin vollzogen worden waren.
Schon Tocqueville war die Richterwahl unheimlich, die damals in einigen Bundesstaaten gerade eingeführt worden war: „Ich wage vorauszusagen, dass diese Neuerungen früher oder später verderbliche Folgen zeitigen werden und dass man eines Tages bemerken wird, dass die Beschneidung der richterlichen Unabhängigkeit nicht nur die richterliche Gewalt, sondern die demokratische Republik selbst infrage stellt.“
Bezeichnend ist der Fall des Richters Brent Benjamin, der John Grisham zu seinem Thriller „The Appeal“ (auf Deutsch: „Die Berufung“) inspirierte: Der damalige Vorsitzende des Supreme Courts von West Virginia hatte es nicht für nötig gehalten, sich aus einem Prozess gegen den Bergbaukonzern Massey Energy herauszuhalten, von dem er 2004 Wahlkampfspenden erhalten hatte. Auf Antrag des Klägers Hugh Caperton beschäftigte sich schließlich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten mit dem Fall und entschied im Juni 2009, dass sich Benjamin falsch verhalten hat – allerdings mit der Begründung, dass die Einzelspende des Massey-Chefs Don Blankenship (3 Millionen Dollar) um ein Vielfaches höher gewesen sei als die Summe aller anderen Spender zusammen. Nach Ansicht der hohen Richter hätte es bei einer niedrigeren oder diskreteren Zuwendung also womöglich an einem solchen Verhältnis zwischen einem Richter und einer Prozesspartei nichts auszusetzen gegeben.