Die Mauern von Glasgow
Szenen aus der Stadt der Kunst, der Elendsquartiere und der Millionäre von Julien Brygo
Sie finden, Privatclubs seien etwas für die Elite? Die Reichen? Und Anspruchsvollen? Sie haben vollkommen recht. Und deshalb gibt es uns“, heißt es auf der Homepage des Glasgow Art Club, „the city’s best kept secret“, der in einem viktorianischen Herrenhaus mitten im Einkaufsviertel residiert, zwischen einem Brautmodengeschäft, Bürogebäuden und Pubs für höhere Beamte. Einmal in der Woche haben die Notabeln des Rotary Club of Glasgow hier eine Verabredung mit der Wohltätigkeit.
In der Hochphase der industriellen Revolution gründete der junge Amateurmaler William Dennistoun 1867 den Glasgow Art Club, wo er den Kunstliebhabern unter den Baumwoll-, Zucker- und Sklavenhändlern seine Werke zum Verkauf anbot. Der Club ist heute noch ein Treffpunkt für solche Kunstfreunde. Hier kann man in anspruchsvollem Ambiente und angenehmer Atmosphäre den Spendenaufrufen vom Rednerpult lauschen und gegebenenfalls das Scheckheft zücken.
An diesem Dienstag, es ist der 22. Juni, erhebt sich um 13 Uhr der Präsident des Rotary Club, Michael Guy, von seinem Ehrenplatz, zieht die Hosenträger gerade und schlägt mit einem Hämmerchen an die Silberglocke. Vierzig geladene Gäste – Banker, Versicherungsdirektoren, Anwälte und Unternehmer – stehen auf wie ein Mann, schwören der Königin Treue und setzen sich wieder. Dann kann das Festmahl beginnen.
Bis zum Bauchnabel reicht Michael Guy die seltsame Halskette aus 98 Goldplättchen mit den eingravierten Namen eines jeden Präsidenten seit 1912: „Diese Kette ist 38 000 Pfund wert. Das ist echtes Gold! Heutzutage ein Wert, der nicht zu verachten ist“, flachst er und sticht mit der Gabel in das Roastbeef auf seinem Teller. Nach den ersten Bissen, die Kette hat er sich inzwischen unter die Hosenträger geklemmt, holt er etwas weiter aus: „Ja, wir wissen auch, dass die Lebenserwartung in manchen Vierteln von Glasgow niedriger ist als im Irak! Der Lebensstil, der Sittenverfall. In Glasgow lebten Arm und Reich schon immer in unmittelbarer Nachbarschaft. Vor allem die irischen Einwanderer haben die Statistiken nach unten gedrückt. Aber das ist nicht so schlimm. Es sind nur kleine Inseln der Armut. Glasgow ist eine lebendige Stadt mit fantastischen Museen, hervorragenden Konzerten und wunderbaren Menschen!“
Die Zahlen, auf die sich der Präsident bezieht, liegen seit August 2008 vor, seit die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dem Abschlussbericht der „Commission on Social Determinants of Health“ veröffentlichte: Wer im armen Osten von Glasgow aufwächst, stirbt im Schnitt voraussichtlich 28 Jahre früher als jemand aus den südlichen oder westlichen Stadtbezirken. In manchen Vierteln der Stadt beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung 54 Jahre.1
Peter Steven, laut Michael Guy eines der reichsten Clubmitglieder, ringt nach Worten. Er nuschelt irgendetwas Unverständliches, hält inne und starrt auf die großen Edelholzpaneele des Prunksaals. Dann legt er los: „Warum gibt es hier wohl diesen krassen Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Reich und Arm? Weil die Armen sich ungesund ernähren und die Kinder die schlechten Lebensgewohnheiten von ihren Eltern übernehmen. Das hat mit der Bildung zu tun. Wir vom Rotary Club sind stolz auf unsere Schulaktionen in den Armenvierteln. Wir veranstalten zum Beispiel Sprechwettbewerbe. Viele von den Leuten, die Sie meinen, leben von Sozialhilfe und haben auch sonst nichts.“ Fish ’n’ Chips, das auch in Schottland beliebte Junkfood aus frittiertem Fisch, Pommes frites und fettiger Sauce, sei schuld daran, dass die Leute hier früher als im übrigen Europa sterben, fügt Guy hinzu und fuchtelt mit dem Messer in der Luft herum.
Wenige Stunden vor diesem mittäglichen Festmahl hatte der britische Premierminister David Cameron den striktesten Sparplan seit Kriegsende angekündigt: Bis 2015 sollen umgerechnet 110 Milliarden Euro eingespart werden.2 Um die Kürzungen im Schulsektor – 4,1 Milliarden Euro – zu kompensieren, will Bildungsminister Michael Gove den Wohlfahrtsverein Teach First mit 4,7 Millionen Euro unterstützen. „Die besten Lehrer“ will man damit motivieren, an sogenannten Problemschulen zu unterrichten.3 Die rechte Hand nimmt und die linke vergibt Almosen. Ist das womöglich die Kurzfassung der sozialen Frage in Glasgow?
Gestärkt durch Schokoladendessert, steht nun George Russel am Rednerpult und plädiert angesichts der geplanten Einschnitte in den öffentlichen Leistungen für mehr Wohltätigkeit. Bevor er sich zur Ruhe gesetzt hat, arbeitete er bei einem multinationalen Konzern für Telekommunikation. In seiner Jugend sei er Sozialist gewesen, erzählt er uns später: „Wir müssen alle unser Scherflein dazu beitragen, damit in dieser Gesellschaft Gleichheit herrscht. Leute wie wir, die Geld haben, müssen mehr geben, das steht fest.“ Aber der Präsident möchte unsere Aufmerksamkeit lieber auf andere Seiten der Stadt lenken, die angenehmere Assoziationen wecken. „Wir holen viele Unternehmen nach Glasgow. Callcenter, Versicherungen, Finanzunternehmen. Es gibt hier vor allem ein sehr gutes Hotelangebot. Erst vor kurzem hat ein neues Fünfsternehotel am Clyde River aufgemacht, ein wunderschönes Haus.“
Dank massiver Subventionen dringt aus den Hochöfen schon lange kein Staub mehr, der früher wie ein dunkler Schleier über Glasgow lag. In den 1980er und 1990er Jahren wurden die Werften, Steinkohleminen und Stahlwerke geschlossen, die die Stadt einst reich gemacht hatten. Künste, Kultur und die vornehme Welt sollten in Schottlands größte Kommune einziehen. Neue Fassaden, neue Farben, neue Firmenschilder. Mit Slogans wie „Glasgow, Schottland mit Stil“ preist sich die Stadt ihren Besuchern an. „In der Thatcher-Ära wurden die Armen an den Stadtrand gedrängt und die Sozialwohnungen im Zentrum in Eigentumswohnungen umgewandelt. Darauf folgte dann die ‚Cappuccinisierung‘ von Glasgow – ein Prozess, der mit der Gentrifizierung verwandt ist“, sagt Bridget Fowler, Soziologin an der Universität Glasgow. Im landesweiten Wettbewerb der Kommunen um die meisten Millionäre belegte die Stadt 2007 mit 11 288 Millionären den siebten Platz. Das gutbürgerliche Edinburgh rangiert fünf Plätze weiter hinten.
Kunst statt Stahlwerke
Glasgow war 1990 Europäische Kulturhauptstadt, und heute sieht sich die Stadt des berühmten Art-Nouveau-Architekten Charles Rennie Mackintosh (1868–1928) gern als eines der drei europäischen Zentren für zeitgenössische Kunst. Sie sammelt Preise (UK City of Architecture, 1999), lockt große Sportereignisse4 an und mit ihren sieben privaten Golfplätzen und fünf Fünfsternehotels mit 1 358 Luxussuiten wohlhabende Touristen. Kein Wunder, dass Reisereporter die Stadt sehr mögen. Die schockierenden WHO-Zahlen kommen in der europäischen Presse dagegen kaum vor.
„Ich komme gerade aus Indien zurück, und ich kann Ihnen versichern, dass es den Leuten im Osten von Glasgow sehr viel besser geht als den meisten Indern. Die Armen von Glasgow sind reich im Vergleich zu den Menschen in Malawi!“ William Haughey, 53, sitzt in der vierten Etage seines Imperiums, der City Refrigeration Holding, einem prosperierenden Unternehmen für den Innenausbau von Hochhäusern mit weltweit 12 000 Beschäftigten. Der Multimillionär relativiert die Befunde der WHO. „Es herrscht weder Hunger noch gibt es sanitäre Probleme in diesen Vierteln. Die schlechten Zahlen lassen sich nicht einfach auf Armut oder soziale Ursachen zurückführen. Ich glaube, diese Probleme gibt es schon sehr lange.“
Haughey hat nicht viel Zeit. Er empfängt uns zwischen einer Indienreise, einem Kurztrip nach Katar und zwei Wochen Urlaub in Las Vegas – wo er an einem Pokerturnier teilnehmen möchte – in seinem Büro, in dem nur einige seiner viele Trophäen ausgestellt sind: „Geschäftsmann des Jahres“, „Preis der Stadt Glasgow“, „Unternehmer des Jahres“. Hier erklärt er uns, wie Glasgows Oberschicht tickt. Der „Junge aus den Gorbals“, Sohn von Facharbeitern und in dem Arbeiterviertel aufgewachsen, kennt sich seit seinem Eintritt in die geschlossene Welt der Geldmacher von Glasgow bestens aus. Er weiß, wie man mit den Reichen reden muss. „Leute, die viel Geld haben, schätzen es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn man ihnen sagt, was sie damit anfangen sollen. Höhere Steuern wären ein Fehler. Ich glaube, dass die Unternehmer, Leute, die Erfolg haben und viel Geld verdienen, so wie ich, überzeugt werden müssen. Ja, man muss sie überzeugen, mehr für Wohltätigkeit, für soziale Einrichtungen zu spenden.“
Haughey, dessen Vermögen auf ungefähr 120 Millionen Euro geschätzt wird,5 hat nicht darauf gewartet, dass man ihm sagt, was er mit seiner Kohle anfangen soll: Er will in Glasgow „das größte Haus Schottlands“ bauen (dafür bekam er aber keine Baugenehmigung), wandelt gerade sein Unternehmen in einen multinationalen Konzern um und gibt einen Teil seines Reichtums, etwa 8 Prozent, für wohltätige Zwecke aus.
„Wir sind sehr diskret bei unseren philanthropischen Aktivitäten. Über meine Stiftung, den City Charitable Trust, habe ich fast 12 Millionen Euro gespendet.“ Hilfe für behinderte Kinder, Bau von Brunnen oder Krankenhäusern in Afrika, finanzielle Zuwendungen für die ärmsten Schulen. Für Haughey ist es Ehrensache, „der Gemeinschaft etwas zurückzugeben“, in Glasgow oder Malawi. Und in seine Luxusvilla in Florida lädt er regelmäßig den „Angestellten des Monats“ samt Familie ein. In den vergangenen Jahren las man aber nur deshalb häufiger etwas über ihn in der Presse, weil er einen Verein unterstützt, dem es im Moment gar nicht gutgeht: die Labour Party.6 Mit Spenden von mehr als 1,3 Millionen Euro ist er der größte schottische Wohltäter der Partei. Expremierminister Gordon Brown war übrigens auch eingeladen, als Haughey 2009 seine neue Firmenzentrale eröffnete.
Auf der anderen Seite des Clyde River laufen Kevin, Michael und William die Buchanan Street entlang, im internationalen Mietspiegel eine der sieben teuersten Straßen der Welt. Die jungen Männer stammen aus den berüchtigten Armenvierteln Castlemilk und Easterhouse und sind das, was die Presse Gangster nennt. Sie bestreiten es nicht: „Meine Gang heißt The Young Byre Fleeto [wörtlich: „Die jungen Stallgangster“]. Unsere Kürzel sind YHF, YBF oder HF“, erklärt einer der 18-Jährigen, der mit bestürzender Selbstverständlichkeit von seinen blutigen Heldentaten berichtet. In den Armenvierteln von Glasgow soll es zwischen 150 und 200 solcher Banden geben.
„Ich bin mit Arbeitslosigkeit groß geworden. Meinen Vater kenne ich nicht, und meine Mutter hat auch keinen Job“, erzählt William, der keine Lust mehr darauf hat, sich immer wieder vergeblich zu bewerben. Nachmittags zieht er mit Kevin um die Häuser, der mit seinen 18 Jahren schon Vater von zwei Kindern ist. Nach zwei Whisky-Cola und vier großen Bieren schenkt ihnen der Wirt nichts mehr aus; sie betäuben sich mit Valiumtabletten, aufgelöst in Cider aus dem Supermarkt. Überall haben die Jungs Narben: „Von den Kämpfen mit anderen Gangs. Jeder hier in Glasgow hat ein Messer. Wir führen Krieg.“
Im Crystal Palace, einer Bar am Clyde River, schwört uns Michael, dass er das Gang-Leben aufgeben wolle. Sein Vater gesellt sich dazu. „Ich war in meiner Jugend auch in einer Gang. Das hat mich ins Kittchen gebracht“, sagt er und klopft seinem Sohn auf den Rücken. Dann kippt er sein Bier hinunter und macht sich auf den Weg zum Polizeirevier. Er ist auf Bewährung draußen, wie Michael, der wegen einer Schlägerei verurteilt wurde. Michael fragt uns ganz direkt: „Glaubt ihr, wir sind schlecht? Alle stempeln uns ab, wegen unserer Sprache, den Klamotten und der Art, wie wir feiern.“ Als jemand den Namen von Haughey fallen lässt, den er kennt, weil ihm früher der Fußballverein Celtic Glasgow gehörte, springt Michael auf: „Das ist ein echter Gangster!“
Wie sitzen im Restaurant Rogano am Royal Exchange Square neben dem Club 19, wo sich die High Society von Glasgow trifft. Sir Tom Hunter holt einmal tief Luft, dann spult er seine Erfolgsgeschichte ab. „Ich habe eine Menge Geld verdient. Viel mehr, als meine Familie und ich brauchen.“ Einst hat er „von der Ladefläche eines Kleinlasters herunter“ Turnschuhe verkauft, Mitte der 1980er Jahre gehört ihm eine Kette von Sportgeschäften.7 Hunter, der sich als „Abenteurerkapitalist“ bezeichnet und davon überzeugt ist, dass „es so wenig Staat wie möglich geben sollte“, verkaufte seine Firma vor zwölf Jahren für 345 Millionen Euro an seinen Konkurrenten JJB Sports und konnte 310 Millionen davon behalten. Im Jahr 2007 wurde er zu Schottlands erstem Milliardär gekürt, mit einem geschätzten Vermögen von 1,3 Milliarden Euro.
Da er nicht wusste, was er mit dem Geld anfangen sollte, beschloss er, „sich zu bilden“. In New York lernte er Vartan Gregorian kennen, den Präsidenten der Carnegie Corporation. „Er hat mich mit der Devise von Carnegie bekannt gemacht: ‚Der Mann, der reich stirbt, stirbt in Schande.‘ Das hat in mir gearbeitet, und ich habe mir gesagt: Warum soll ich auf meinen Tod warten, um mein Geld in den Dienst des Guten zu stellen? Die Philanthropie ist sehr befriedigend und sehr unterhaltsam. Warum soll man den anderen den ganzen Spaß überlassen?“8 Sein großes Vorbild, der gebürtige Schotte und Eisenbahnmagnat Andrew Carnegie (1835–1919), hinterließ den Amerikanern immerhin 2 500 Bibliotheken und einen berühmten Konzertsaal – die Carnegie Hall.
Mit dem Ankauf, Umbau und Verkauf schwächelnder Firmen hat Hunters Private-Equity-Fonds West Coast Capital 2009 fast 4 Milliarden Gewinn gemacht. „Ich habe im Moment 10 500 Mitarbeiter.“ Am liebsten spricht Sir Tom (vor fünf Jahren erhob ihn die Queen in den Adelsstand) über seine guten Taten: „Ich habe über die Hunter Foundation fast 50 Millionen für wohltätige Zwecke gespendet. Immer im Bereich Bildung oder wirtschaftliche Entwicklung.“ Krankenhäuser oder Fabriken in Malawi und Ruanda, Unterstützung armer Schulen in Schottland, Gründung einer Stiftung für Unternehmertum an einer Glasgower Universität, Mäzen der Glasgower Kunst- und Museumsszene. „Wie bei meinen Private Equity Fonds erwarte ich von meinen Investitionen in die Wohltätigkeit maximalen Gewinn.“
Hunter entspricht Camerons Idealwohltäter: ein philanthropischer Multimillionär, der die Einsparungen der Regierung vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen wettmachen soll. 50 Millionen hat er für die „gute Sache“ gespendet, 50 Millionen hat er für sein Haus in Cap Ferrat bekommen, das er kurz vor der Finanzkrise an Russen verkauft hat.9 Seine Yacht und die Luxussuite im Londoner Metropolitan Hotel musste er wegen der Krise später auch verkaufen – und seine Philanthropie auf Eis legen. „Wir waren völlig wehrlos“, sagt er und plädiert dafür, „den Kapitalismus stärker zu regulieren“.
Klischees aus dem Viktorianischen Zeitalter
Schöne, edle, großzügige Reiche und passive Arme, vollgepumpt mit Drogen und Alkohol: Die Klischees des Viktorianischen Zeitalters bestehen anscheinend fort, und man fragt sich, welche politische Kraft sich daranmachen wird, sie zu bekämpfen. Unvorstellbar, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Reichtum der einen und der Armut der anderen gibt. Das Elend finden zwar alle schrecklich, aber selbst Leute, die man für reflektierter gehalten hätte, sagen, dass es an den Bedürftigen selbst liegt.
„Warum zeigt man immer nur das Bild von der verkommenen, armen Stadt, in der die Menschen früh sterben? Das ist wie beim Wetterbericht, der auch immer damit anfängt, dass es in Glasgow regnet!“ Die Schauspieler Sean Scanlan und Barbara Rafferty, beide um die sechzig, haben sich nach der Vorstellung von Molières „Tartuffe“ auf der Terrasse des Oran Mor (auf Gälisch: „das große Lied des Lebens“) niedergelassen, eine zum Kulturzentrum mit Theater, Bars, Restaurants und Nachtclub umgebaute Kirche aus dem 19. Jahrhundert. Rafferty, mit Perlenkette und Abendkleid, nippt an einem Orangensaft, ihr Kollege breitet die Arme über der Sessellehne aus. Auf die WHO-Studie angesprochen, reagieren beide äußerst gereizt. Sie bezeichnen sich als Kleinbürger, doch Rafferty verzieht dabei das Gesicht. Ihr Vater arbeitete früher wie hunderttausende Glasgower auf den Werften, die in den 1970er Jahren dichtgemacht wurden.
Mit der Hand, an der ein eckig geschliffener Saphir funkelt, zählt sie die Ursachen des Verfalls auf: Alkohol, Heroin und Fish ’n’ Chips. „Diese Leute essen nie Gemüse oder Obst. Sie stopfen sich nur mit diesen ungesunden Fertiggerichten voll. Das ist ein richtiger Teufelskreis. In den 30er Jahren lebten die Arbeiter länger, weil sie Suppe aßen.“ Drei- bis viermal im Jahr flüchten Barbara und Sean in ihr Haus nach Nizza, um, wie sie sagen, „nichts zu tun, auf der Promenade des Anglais zu flanieren und Obst zu essen“.
David Kelburn steht in der Küche seines Schlosses und schimpft: „In der modernen Gesellschaft werden Manager wie Helden verehrt, während wir Aristokraten die Buhmänner sind.“ Der 32-jährige Viscount of Kelburn, Sohn des Earl of Glasgow, behauptet von sich, „kein echter Reicher“ zu sein. „Hier wird kein Champagnerfrühstück serviert, hier gibt es keinen Hofmeister und keinen Butler, die uns auf Knien dienen!“ Aber er hat einen Adelstitel und immerhin ein richtiges Schloss mit fünfzehn Zimmern und ein 3,5 Hektar großes Grundstück, alles in allem vier Millionen Pfund wert. „Ich mache mir jeden Tag bewusst, was für ein Glück ich habe“, sagt er zwischen zwei Mails, die er auf seinem iPhone verschickt.
Wenn er sich im Fernsehen die Übertragung von Benefizkonzerten wie Bob Geldofs „Live8“ oder die Reality-Show „The Secret Millionaire“ ansieht, in der Millionäre für zehn Tage wie Obdachlose leben, hat er das Gefühl, einem Klassenkampf beizuwohnen, in dem eine „neue, auf Geld und Ruhm gegründete Klasse“ die Oberhand zu haben scheint. „Natürlich erben wir Aristokraten den Reichtum unserer Vorfahren. Aber die reichen Manager vermachen ihr Vermögen doch auch ihren Kindern!“ Die selbst ernannten Philanthropen gehen ihm auf den Wecker. „Sie spielen sich überall als Weltretter auf, dabei macht ihre sogenannte Wohltätigkeit nur einen Bruchteil ihres Reichtums aus. Das finde ich unmoralisch!“
Kelburn beschreibt sich als humanistischen Liberalen – er unterstützt die neue Regierungskoalition – und fühlt sich dabei manchmal ziemlich einsam. „Die unterprivilegierten Leute in Glasgow können sich natürlich nicht vorstellen, dass dieses Schloss für mich eine tägliche Sorge und eine ständige Last ist. Im Winter wird es hier verdammt kalt. Allein der Unterhalt kostet uns mindestens 60 000 Pfund im Jahr. Ich könnte es verkaufen, klar. Aber meine Familie wohnt hier seit dem Jahre 1140!“
Klassenkampf im Grafenschloss
Vor drei Jahren beschloss er, seinen Namen ein bisschen mit Kunst aufzupolieren. Und eines schönen Tages war das Schloss des Viscount of Kelburn vollgemalt mit Graffiti: Frauen, die die Fäuste recken, Eulen auf Schornsteinen. „Es sind brasilianische Künstler. Sie haben sich von den Armenvierteln in Rio inspirieren lassen. Aber es könnte überall sein. Ja, in gewisser Weise ist es soziale Kunst. Das Klassensystem existiert ja, das ist eine Tatsache; aber Unkenntnis und Hass machen das alles noch schlimmer.“
Doch von diesem Klassenhass kriegt man in Glasgow nichts mit. Die Politiker blenden die Befunde der WHO-Studie einfach aus. Es gibt auch keinerlei Berührungspunkte zwischen den in sich geschlossenen Milieus. Es herrscht eine soziale Apartheid, gegen die niemand aufbegehrt. Hier leben die sogenannten heruntergekommenen Armen und die philanthropischen Reichen wie im 19. Jahrhundert nebeneinander. „Seit Ende der 1980er Jahre spricht niemand mehr von der Klassengesellschaft. Und noch nie hat sich ein Soziologe mit den Reichen von Glasgow beschäftigt“, sagt der Soziologe Paul Littlewood.
In Parkhead, im Osten von Glasgow, lebt der Rentner Jim Doherty. Als Opfer eines Arbeitsunfalls bekommt er 560 Pfund im Monat. Jim raucht eine Zigarette nach der anderen. Er zieht die Vorhänge zurück und zeigt nach draußen. „Da drüben war die Metallfabrik. 8 000 Arbeiter. Direkt dahinter haben 3 000 Leute Autoteile zusammengeschweißt. Dahinter ist noch ein Stahlwerk. 7 000 Arbeiter entlassen. In den 70er und 80er Jahren sind alle nach Asien und Osteuropa.“ Doherty selbst hat sein Leben lang in einer Branche gearbeitet, die keine Krise kennt: beim Abriss. „Ich habe ganze Viertel plattgemacht, Ghettos, wo früher Arbeiter gewohnt haben und wo sie neue Ghettos für ihre arbeitslosen Kinder hingestellt haben. Ich habe ganze Montagehallen abgerissen. Das war mein Leben.“
Rund um Jims Haus stehen die Ruinen der postindustriellen Welt. Viertel, in denen die wenigen übrig gebliebenen Läden vergittert sind und Gegensprechanlagen haben, wo das Drogengeschäft blüht und Gangs ihr Unwesen treiben. Vor einigen Jahren gründete Jim einen Verein, die Gallowgate Family Support Group. 30 Vereinsmitglieder greifen Familienangehörigen von Drogensüchtigen finanziell und moralisch unter die Arme. „In den letzten zehn Jahren haben wir hier 5 000 von unseren Jungs beerdigt. Meine beiden Söhne waren mehr als 25 Jahre heroinabhängig. Jetzt versuche ich meine Enkel zu retten.“
Ian Duncan Smith, ehemaliger Chef der Konservativen, der 2004 das Centre for Social Justice, einen Thinktank zur Armutsbekämpfung, gegründet hat, fragte einmal, „wie er in Vierteln wie Parkhead wieder konservative Wähler gewinnen könnte“, erinnert sich Doherty. „Ich habe ihm geantwortet, solange Margaret Thatcher am Leben ist, wird die Konservative Partei in diesen Vierteln keine einzige Stimme bekommen. Ich bin ein gottverdammter Linker, auch wenn ich mit Duncan Smith verkehre. Er mag ja eine ehrliche Haut sein, aber meine Stimme kriegt er nie.“
Derweil boomt in Glasgow der Markt für Luxusgüter. „Alle großen Marken eröffnen hier Filialen: Rolex, Ralph Lauren, Versace. Glasgow ist nach London die größte Shoppingmetropole Großbritanniens“, erzählt Summera Shaheen, der das Juweliergeschäft Diamond Studio gehört. Anfang März gründete sie „Love Luxury Glasgow“, eine Art Unternehmerverband der Luxusbranche. Als wir die WHO-Studie erwähnen, verzieht sie das Gesicht. „Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Kunden die Menschen treffen, von denen Sie reden, ist sehr gering. Die meisten gefährlichen Gebiete befinden sich außerhalb der Stadt. Außerdem haben die Glasgower bekanntlich ein großes Herz. Allein in dieser Woche gibt es drei Wohltätigkeitsveranstaltungen in der Stadt.“
Noch nie gab es in einer britischen Regierung so viele Schwerreiche wie in der neuen Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten – 18 von 23 Mitgliedern des „Sparkabinetts“ sind Millionäre.10 Nach der Verkündung des striktesten Sparplans, der den Briten je auferlegt wurde, werden sie von ihrem Reichtum zweifellos etwas abgeben.