Vielfalt und Vertrauen
Einwanderer gefährden den sozialen Zusammenhalt, behaupten Konservative in Großbritannien seit 100 Jahren. Die Migrationsgeschichte beweist das Gegenteil von Kenan Malik
Die größte Moschee Westeuropas wurde vor gut zehn Jahren im Südlondoner Stadtteil Morden eingeweiht. Allein im Gebetsraum der Ahmadiyya-Muslim-Gemeinde können sich 4 500 Gläubige niederlassen; insgesamt gibt es Platz für 10 000 Besucher. Schon während der Bauzeit war die Bait ul-Futuh („Haus der Siege“) Anlass heftiger Auseinandersetzungen.
Für den Journalisten David Good-hart1 ist die Moschee das Symbol schlechthin für die Zumutungen, denen die britische Nation fortwährend ausgesetzt ist. Auf dem Gelände der heutigen Moschee stand früher eine Abfüllanlage der Expressmolkereien, die dem Bezirk rund um Morden, dem London Borough of Merton, ein paar hundert Arbeitsplätze und jede Menge Milchflaschen bescherte – für Goodhart der Inbegriff der guten alten „homogenen“ englischen Gesellschaft.
Nun lagen allerdings zwischen der Schließung der Molkerei 1992 und dem Baubeginn der Moschee sieben Jahre. In dieser Zeit hatte sich die ehemalige Molkerei offenbar in eine Rauschgifthöhle verwandelt. Man könnte über diesen Ort also auch eine ganz andere Geschichte erzählen: Eine Molkerei, die pleitegegangen war und ein paar hundert Arbeitskräfte auf die Straße setzen musste, kam nach und nach zum Drogenumschlagplatz herunter, bis sich die Londoner Muslime des Gebäudes annahmen, durch umfangreiche Baumaßnahmen neue Arbeitsplätze schufen und insgesamt zu einer Aufwertung des Stadtteils beitrugen.
Die Kritiker der Einwanderung verbreiten jedoch lieber eine andere Version. In ihren Augen kommt der Moschee nicht das Verdienst zu, ein altes Gewerbegebäude vor der Verwahrlosung gerettet und die Kriminalität eingedämmt zu haben, sie symbolisiere vielmehr nur den Niedergang liebgewonnener Traditionen.
Die Geschichte der Bait-ul-Futuh-Moschee – und ihre Umdeutung zu einer Geschichte über den Kulturverlust in Großbritannien – führt zum Kern der aktuellen Einwanderungsdebatte. Über kaum ein anderes Thema wird gegenwärtig so viel und erbittert gestritten wie über die Zuwanderung. Allerdings geht es dabei weniger um die Fakten als um deren angebliche Auswirkungen. Einwanderung ist zum Inbegriff der Auflösung lokaler Gemeinschaften geworden, sie steht für Identitätsverlust, für schwindendes Zugehörigkeitsgefühl und für die nicht hinnehmbaren Zumutungen des gesellschaftlichen Wandels.
Für David Goodhart hat die ausufernde Zuwanderung „ein England voller mysteriöser und unvertrauter Welten geschaffen“. Und er zitiert einen Mann aus Morden mit den Worten: „Wir haben diesen Ort an andere Kulturen verloren. Er ist nicht mehr englisch.“
Goodharts Buch über den „britischen Traum“ und die gescheiterte Zuwanderungspolitik seit 1945 geht auf einen Aufsatz mit dem Titel „Zu verschieden?“ zurück, den Goodhart bereits 2004 in der von ihm herausgegebenen Monatszeitschrift Prospect veröffentlicht hat. Die Linksliberalen müssten sich, so Goodhart damals, endlich dem „wachsenden Dilemma“ stellen, dass zu viel Einwanderung, insbesondere in den Wohlfahrtsstaaten, den gesellschaftlichen Zusammenhalt untergrabe. Wir müssten uns entscheiden – entweder Zuwanderung oder Zusammenhalt. Der Artikel löste zwar scharfe Proteste aus, doch sein Grundgedanke, dass zu viel Zuwanderung die gesellschaftliche Solidarität untergrabe, ist über die Jahre schon fast zu einem Gemeinplatz geworden.
Dieselbe Behauptung steht auch im Zentrum von Paul Colliers Buch „Exodus“.2 Der Professor für Ökonomie und Public Policy an der Blavatnik School of Government und Kodirektor des Oxford Centre for the Study of African Economies beschäftigt sich seit Langem mit Fragen der Armut und Gerechtigkeit. In „Exodus“ versucht er die Auswirkungen der Aus- beziehungsweise Einwanderung auf die Gesellschaften der Aufnahme- und der Herkunftsländer auszuloten. Sein Fazit: Zu viel Migration ist für beide Seiten schädlich. Sie entziehe den armen Ländern wichtige Humanressourcen – Stichwort Braindrain – und unterminiere die Stabilität der reichen.
Fremd wie Arsen im Brot
Wie Goodhart hält auch Collier die ökonomischen Ängste in den Aufnahmeländern für weitgehend unbegründet. Doch auch er beharrt darauf, dass zu viel Vielfalt gesellschaftliche Probleme verursachen könne und Werte wie gegenseitige Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft und die Akzeptanz von Umverteilung zerstöre.
Beide Autoren beziehen sich auf den US-Soziologen Robert Putnam, der gezeigt hat, dass mit zunehmender Diversität in einer Gesellschaft das soziale und politische Engagement ihrer Mitglieder schwindet – sie gehen seltener zur Wahl, leisten weniger ehrenamtliche Arbeit, spenden weniger für wohltätige Zwecke und haben weniger Freunde. Am erstaunlichsten jedoch war Putnams Entdeckung, dass die Menschen in besonders bunt zusammengewürfelten Gemeinden nicht nur den Mitgliedern anderer ethnischer Gruppen, sondern auch denen ihrer eigenen Gruppe mit mehr Misstrauen begegnen.
Putnams Untersuchungen dienen Einwanderungskritikern schon seit Längerem als Beleg für die zersetzenden Wirkungen der kulturellen Vielfalt auf den sozialen Zusammenhalt. Neuere Studien weisen jedoch in eine andere Richtung. Zuletzt hat Patrick Sturgis, Leiter des National Centre for Research Methods in Southampton, die Beziehung zwischen Vielfalt und Vertrauen in London untersucht und den genau entgegengesetzten Zusammenhang festgestellt.
Sobald die Wissenschaftler die soziale und wirtschaftliche Benachteiligung der Befragten mit in den Blick nahmen, zeigte sich nämlich eine positive Korrelation zwischen ethnischer Vielfalt und gesellschaftlichem Zusammenhalt, das heißt, je heterogener eine Gesellschaft ist, umso stärker sind die sozialen Bindungen.
Doch auch damit ist noch nichts erwiesen. Denn ein Kernproblem solcher Studien liegt darin, dass sie nicht mehr sind als eine Momentaufnahme. Vielfalt ist aber nichts Statisches, sondern sie verändert sich ebenso wie unsere Reaktion auf sie.
Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurden wir zu Zeugen einer ganzen Reihe von Phänomenen, wie dem Niedergang vieler sozialer Bewegungen, dem Aufstieg der Identitätspolitik, der vermeintlichen Atomisierung der Gesellschaft und dem Verlust des Glaubens an universelle Werte – Entwicklungen, die allesamt zu einer Desillusionierung und einem Gefühl sozialer Anomie geführt haben. Womöglich liegt das eigentliche Problem nicht so sehr in der Diversität selbst als vielmehr in dem politischen Umfeld, in dem wir darüber nachdenken. Putnams Studie und den Auslassungen von Einwanderungskritikern wie Goodhart und Collier fehlt das Gespür für den historischen Kontext.
Tatsächlich ist die Angst vor den Zuwanderern fast so alt wie die Zuwanderung selbst. Wenn Arthur Balfour seinerzeit gelesen hätte, wie David Goodhart die Entstehung eines „England voller mysteriöser und unvertrauter Welten“ beklagt, eines England, das „nicht mehr englisch ist“, er hätte ihm fraglos zugestimmt. Balfour war Premierminister, als Großbritannien 1905 die ersten Einwanderungsgesetze verabschiedete, die sich vor allem gegen europäische Juden richteten. Ohne ein solches Gesetz, so Balfour, werde das künftige Britannien womöglich dieselben Gesetze, dieselben Institutionen und dieselbe Verfassung haben, „doch sein Nationalcharakter wird nicht mehr derselbe sein, es wird nicht der Nationalcharakter sein, den wir uns für unsere Nachfahren in kommenden Zeiten wünschen“.
Zwei Jahre zuvor hatte die Royal Commission on Alien Immigration (als „aliens“ wurden im frühen 20. Jahrhundert sowohl Ausländer als auch Juden bezeichnet) ihre Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass die Neuankömmlinge „gemäß ihren eigenen Traditionen, Sitten und Gebräuchen“ leben könnten und dass „dem englischen Stamm […] die schwächlichen, kränklichen und verderbten Schösslinge Europas aufgepfropft“ würden.
Die Angst vor einer unkontrollierten jüdischen Einwanderung und das Gefühl, „dieses Land an andere Kulturen verloren zu haben“, traten in der damaligen Diskussion deutlich zutage. „In Whitechapel und Mile End sind es unendlich viele“, behauptete ein Zeitgenosse, der 1903 vor der Royal Commission aussagte. „Diese Gegenden Londons könnte man genauso gut Jerusalem nennen.“ Und der konservative Parlamentsabgeordnete Major Sir William Eden Evans-Gordon griff zu einer außergewöhnlichen Metapher: „Zehn Gran Arsen in tausend Laib Brot bleiben unbemerkt und unschädlich“, erklärte er vor dem Parlament, „aber dieselbe Menge in einem Laib kann eine ganze Familie töten, die davon isst.“
Ein halbes Jahrhundert später gehörte die jüdische Community zur kulturellen Landschaft Großbritanniens. Dieselben Argumente, die zuvor gegen die Juden ins Feld geführt worden waren, richteten sich nun gegen die neue Welle von Einwanderern aus Südasien und der Karibik. Ein Bericht des Colonial Office von 1955 griff Balfours Bedenken wieder auf: „Eine große farbige Gemeinschaft, die zu einem sichtbaren Merkmal unseres gesellschaftlichen Lebens wird, könnte die Vorstellung von jenem England oder Britannien schwächen, die den Menschen englischer Abstammung überall im Commonwealth teuer ist.“
Befürchtungen wurden laut, die Zuwanderung sei unkontrollierbar. „Der Kern des Problems ist die Menge, die wachsende Menge“, erklärte der populäre konservative Politiker Enoch Powell in seiner umstrittenen Rede vom 20. April 1968 in Birmingham; unterschiedliche Immigrantengruppen und ihre Nachfahren würden sich in ganzen Vierteln, Städten und Landstrichen Englands festsetzen.
Knapp zehn Jahre später, am 27. Januar 1978, gab Margaret Thatcher ihr berüchtigtes Fernsehinterview, in dem sie erklärte, in Großbritannien gäbe es „schrecklich viele“ („an awful lot“) schwarze und asiatische Einwanderer; die Menschen seien wirklich sehr besorgt, dass „dieses Land von Menschen anderer Kulturen regelrecht überschwemmt“ werde.3
So wie die Juden wurden schließlich auch die Einwanderer der Nachkriegszeit im Laufe der Jahre als Teil des kulturellen Lebens in Großbritannien akzeptiert – mit der Einschränkung, dass dieser Prozess bei den Letzteren mit noch mehr Zähneknirschen verbunden war und dass den Muslimen unter ihnen diese Anerkennung oft verwehrt blieb.
Dieselben Argumente, die einst gegen die Juden und dann gegen die Einwanderer aus Südasien und der Karibik vorgebracht wurden, werden heute gegen Muslime im Allgemeinen oder Osteuropäer ins Feld geführt. Etliche Autoren und Journalisten, wie der Kanadier Mark Steyn, die italienische Schriftstellerin Oriana Fallaci, die britische Journalistin Melanie Phillips oder der US-amerikanische Autor Christopher Caldwell, warnen eindringlich davor, dass die muslimischen Einwanderer die Grundfesten der westlichen Zivilisation zerstören könnten.
Der Titel von Caldwells Buch, „Reflections on the Revolution in Europe: Immigration, Islam, and the West“4 ist eine Verneigung vor Edmund Burkes berühmter Streitschrift „Reflections on the Revolution in France“ (1790) und bringt zugleich die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Nachkriegsimmigration ebenso dramatische Auswirkungen haben wird wie der Zusammenbruch des Ancien Régime 1789. Insbesondere in der muslimischen Zuwanderung sieht Caldwell eine Form der Kolonisierung. „Seit seiner Ankunft vor einem halben Jahrhundert hat der Islam viele europäische Bräuche, überlieferte Vorstellungen und staatliche Strukturen, mit denen er in Berührung kam, zerstört oder zumindest zu Anpassungen oder Rückzugsgefechten genötigt.“ Der Islam „verbessert oder bereichert die europäische Kultur nicht; er ersetzt sie.“
Für Caldwell besteht zwischen den Einwanderern aus Europa vor dem Zweiten Weltkrieg und den außereuropäischen Einwanderern der Nachkriegszeit ein wichtiger Unterschied, der darin besteht, dass „die Immigration aus benachbarten Ländern nicht so beunruhigende Fragen aufwirft wie: Wie gut werden sie zu uns passen? Wollen sie sich wirklich assimilieren? Und vor allem: Wem gilt ihre Loyalität?“ In Wahrheit wurden jedoch genau dieselben Fragen bereits in Bezug auf die innereuropäischen Einwanderer vor dem Krieg gestellt. „Die Vorstellung, die europäischen Immigranten seien leichter assimiliert worden, ist ein Mythos“, stellt der britische Historiker Max Silverman klar.
Während des gesamten 20. Jahrhunderts wurde praktisch jede Einwanderungswelle – ob von Iren und Juden nach Großbritannien, Italienern und Nordafrikanern nach Frankreich oder Katholiken und Chinesen nach Amerika – stets von der Behauptung begleitet, die Zuwanderer seien einfach zu viele und kulturell zu andersartig, und sie würden die soziale Stabilität und Kontinuität des Gastlandes aushöhlen. Sobald die nächste größere Einwanderungswelle einsetzte, erschien die vorangegangene gerade noch verkraftbar, die neue jedoch nicht.
Vor diesem Hintergrund sind die Ängste der vielen Zuwanderungskritiker zu verstehen, die immer wieder behaupten, die Zuwanderung bringe Europa in große Gefahr. Dabei wärmen sie nur die alten Ängste wieder auf, die bisher jede Einwanderungswelle begleitet haben.
Allerdings findet die heutige Debatte in einem neuen historischen Kontext statt. Als Premierminister Balfour vor den Auswirkungen der jüdischen Immigration warnte, gab es ein starkes, im Wesentlichen rassistisch und imperialistisch geprägtes Nationalbewusstsein. Die Feindseligkeit gegenüber den Einwanderern diente zum Teil der Verteidigung dieses nationalen Selbstbilds.
Die heutige Fremdenfeindlichkeit entspringt hingegen diffusen Verlustängsten und einer gefühlten Auflösung kollektiver Wertvorstellungen. Hinzu kommt die wachsende Kluft zwischen Elite und Allgemeinheit und die Loslösung der großen Parteien von ihrer alten Wählerschaft in der Arbeiterklasse. Mit dem Ergebnis, dass die „im Stich gelassenen“ (Goodhart) weißen Arbeiter die Zuwanderung als „Verlust“ erleben, sei es „ganz direkt, weil sie in einem Stadtviertel leben, das sich rasant verändert hat, oder indirekt, weil dieselben Marktkräfte, die auch die Neuankömmlinge herbeigerufen haben, die Kultur und die Institutionen der Arbeiterklasse hinweggefegt haben“.
Der Wandel der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse, die Auflösung ihres Klassenbewusstseins und ihrer solidarischen Bindungen, die Tatsache, dass die Arbeiterschaft kaum noch eine politische Stimme besitzt – all das sind reale Probleme. Aber ihre Ursache ist nicht die massenhafte Zuwanderung, sondern ein umfassenderer ökonomischer und politischer Wandel. In den 1950er und 1960er Jahren, als die erste Welle von Nachkriegsimmigranten Großbritannien erreichte, herrschte Vollbeschäftigung, damals gab es einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat und mächtige Gewerkschaften.
Angst vor Katholiken und Chinesen
Heute ist die industrielle Basis in Großbritannien so gut wie verschwunden, die Wirtschaft dereguliert, die Arbeitervereine haben sich aufgelöst, der Wohlfahrtsstaat bröckelt an allen Ecken und Enden, die Gewerkschaften sind entmachtet, die Labour Party hat ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung weitgehend gekappt, und alle Vorstellungen von einer auf Klasseninteressen beruhenden Politik werden nur noch belächelt. Als Folge davon hat sich die Solidarität, die einst zwischen den Mitgliedern der Arbeiterklasse bestand, aufgelöst, und viele Menschen fühlen sich alleingelassen und von der Politik ausgeschlossen.
Obwohl die Einwanderung praktisch keinen Einfluss auf diese Entwicklung hatte, ist sie das Brennglas, durch das viele Menschen diese Veränderungen wahrnehmen. Schuld daran ist zum einen die öffentliche Diskussion, in der Linke wie Rechte die Zuwanderung als Problem, ja sogar als Gefahr darstellen. Zum anderen kommt hinzu, dass die treibenden Kräfte der Globalisierung und die internen Streitigkeiten in der Labour Party nur schwer zu durchschauen sind, während man den Nachbarn aus Bangladesch oder Jamaika täglich vor Augen hat. So kommt es, dass viele ihren allgemeinen Frust auf die Einwanderer übertragen und diese nicht als Bereicherung ihres Alltags wahrnehmen können, sondern nur als Hemmschuh betrachten.
Dabei muss selbst David Goodhart zugeben, dass der soziale und ökonomische Wandel die Traditionen der Arbeiterklasse so oder so hinweggefegt hätte. Man fragt sich, warum die Einwanderung bei dieser Diskussion dann überhaupt eine Rolle spielt, und ist umso fassungsloser darüber, mit welcher Besessenheit das Thema verfolgt und auch dann noch als Problem empfunden wird, wenn die Vernunft es längst besser weiß.
Beispielhaft zeigt sich diese Besessenheit an Paul Colliers erwähntem Buch „Exodus“. Darin führt der Autor alles und jedes – von der Kriminalität über die jüngsten Steuersenkungen und die wachsende Marktgläubigkeit bis hin zu den Unruhen in London im Jahr 2011 – auf „die deutliche Zunahme kultureller Diversität infolge der Einwanderung“ zurück. Statt jedoch seine Thesen mit Zahlen zu belegen, beteuert Collier nur, er wolle mit seinen Anekdoten, in denen die Einwanderung das soziale Kapital zu untergraben scheint, nicht eine bestimmte Position stärken. Aber warum erzählt er sie dann? Sein Buch liest sich in weiten Teilen wie der Versuch, eine vorgefasste Meinung durch die passenden Geschichten zu untermauern.
Goodhart und Collier stellen die Behauptung auf, in linksliberalen Kreisen sei Einwanderung zu einem Tabuthema geworden. Erlaubt sei lediglich, die weit verbreitete Ausländerfeindlichkeit zu beklagen. In Wirklichkeit wird jedoch die Vorstellung, dass die Zuwanderung an allen sozialen Übeln Europas schuld sei, viel seltener infrage gestellt als die Immigration selbst.
Nach der Tragödie von Lampedusa im Oktober letzten Jahres, als ein Boot voller Migranten im Mittelmeer versank und mehr als 300 Menschen starben, war die Betroffenheit unter Europas Politikern groß. Aber kaum jemand wollte zur Kenntnis nehmen, dass die Tragödie kein reiner Unglücksfall war, sondern die grausame und logische Konsequenz der europäischen Grenzpolitik. Seit über drei Jahrzehnten baut die EU wie panisch an der Festung Europa und gibt hunderte Millionen Euro für die Kontrolle ihrer Außengrenzen aus, um unliebsame Gäste von ihren Küsten fernzuhalten.
Seit 1988 sind vermutlich mehr als 20 000 Migranten bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, gestorben, zwei Drittel von ihnen sind im Mittelmeer ertrunken. Und worin bestand die Reaktion der europäischen Nationen? Sie haben die Festung Europa weiter ausgebaut und Fischer, die ertrinkende Migranten retteten, wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung vor Gericht gestellt.
Die hysterische Angst vor der Immigration hat uns schon so die Köpfe vernebelt, dass Migranten nicht mehr als lebende, atmende Menschen wahrgenommen werden, sondern als Treibgut, das von Europas Stränden ferngehalten werden muss. Die Festung Europa hat nicht nur den Kontinent, sondern auch unsere Herzen eingemauert und mit ihnen die Menschlichkeit in Europa.