14.02.2014

Drei Jahre Arabischer Frühling

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Drei Jahre Arabischer Frühling

Innerer Aufbruch und äußere Einmischungen von Hicham Ben Abdallah El-Alaoui

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Der Arabische Frühling hat die Ansichten des Westens über den Nahen Osten erschüttert. Das orientalistische Klischee, das den Arabern die Fähigkeit zur Demokratie abspricht und als beste Regierungsform für diese Region den Autoritarismus empfiehlt, wurde auf den Kopf gestellt. Und der Arabische Frühling ist noch nicht abgeschlossen. Er ist ein fortdauernder Prozess, der gerade in seine vierte Entwicklungsphase tritt.

In der ersten Phase, im gesamten Jahr 2011, breiteten sich die Hoffnungen auf staatsbürgerliche Anerkennung und ein Leben in Würde wie eine Welle aus, angetrieben von spontanen Protesten. In der zweiten Phase, 2012, passten sich die Aufstände den strukturellen Gegebenheiten und historischen Erblasten der verschiedenen nationalen Kontexte an. Auch ausländische Mächte begannen an diesem Punkt, die Konflikte in zerstörerische Bahnen zu lenken, was uns zur aktuellen Phase führt.

Im vergangenen Jahr wurden wir Zeuge einer dritten Phase, in der sich der Arabische Frühling zunehmend internationalisierte. Regionale und westliche Mächte versuchten ihre geostrategischen Interessen mit immer aggressiveren Mitteln durchzusetzen. Der konfessionelle Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten wurde zur Denkschablone in der Region; jeder Staat und jede Gesellschaft wurde in die Kategorien einer polarisierenden religiösen Identität gepresst. Ebenso vertiefte sich in vielen Ländern der ideologische Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen, bei dem beide Lager den Anspruch erheben, die beste Vision für eine politische Ordnung zu besitzen.

Gefährlich wird es, wenn solche Sichtweisen des geopolitischen Wettbewerbs, der konfessionellen Spannungen und des islamistisch-säkularen Konflikts die Eigenheiten der verschiedenen Länder überlagern und wenn lokale Akteure zu Marionetten externer Mächte werden. Für eine Wiederaneignung des Arabischen Frühlings ist es notwendig, nicht nur die Besonderheiten der nationalen Konflikte zu verstehen, sondern auch zu erkunden, wie die internationale Einmischung diese Auseinandersetzungen verstärkt und verzerrt.

Vergleicht man die Länder Syrien, Bahrain, Ägypten und Tunesien, zeigt sich ein breites Spektrum der internationalen Einflussnahme. In Syrien und Bahrain wurden die nationalen Aufstände durch Einmischung von außen zur destruktiven Farce. Ägypten ist ein unübersichtlicher Fall, hier sind demokratische Impulse durch die westliche Unterstützung autoritärer Politik geschwächt worden. Tunesien hingegen ist ein hoffnungsvolles Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit einer demokratischen Entwicklung ist hoch, weil das Land abseits der größeren geopolitischen, konfessionellen und ideologischen Kämpfe steht.

Es ist eine ernüchternde Einsicht: Je stärker der Einfluss ausländischer Akteure in einem nationalen Konflikt, desto tödlicher das Resultat. Doch in allen vier Ländern gibt es auch versteckte Hoffnungen: Überall hat der Arabische Frühling eine neue Kultur gesellschaftlicher Mobilisierung geschaffen. Die Bürger dieser Staaten haben die Macht ihrer Stimme kennengelernt, und die geöffneten Räume für politische Auseinandersetzung wieder zu verschließen, wäre mit hohen Unkosten verbunden. Die Zukunft mag unsicher sein, aber mit der alten Ordnung des autoritären Quietismus ist es vorbei.

Albtraum in Syrien

Der syrische Bürgerkrieg begann als eine soziale Rebellion der Bürger, die ihre Forderung nach Würde durch zivilen Ungehorsam untermauerten. Die extrem repressive Antwort des Regimes vermochte die ersten Demonstrationen nicht zu verhindern. Im Gegenteil, sie führte dazu, dass sich der Unmut auch in anderen Regionen ausbreitete. Es begann ein brutaler Kreislauf von Protest, Unterdrückung und neuem Protest. Was den Aufstand jedoch in einen veritablen Bürgerkrieg mit über 120 000 Toten münden ließ, waren Geopolitik und Konfessionalismus.

Syrien war schon immer ein Mosaik unterschiedlicher religiöser Traditionen und Ethnien. Doch nun sind die internen Spannungen noch dadurch verstärkt worden, dass externe Akteure die Identitätspolitik beschworen. Das Land wurde zum zentralen Faktor für die neue geopolitische Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens, die die USA, Israel, Saudi-Arabien, Katar, Jordanien, die Türkei, Russland und der Iran zeichnen. Auf dieser Karte wird alles entweder einem sunnitischen oder einem schiitischen Block zugeschlagen, alte sektiererische Begriffe, die nun benutzt werden, um die äußerst modernen und nüchtern-realistischen Interessen dieser Staaten zu bemänteln.

Das Regime von Baschar al-Assad wird der schiitischen Internationale zugeordnet, der auch die Hisbollah und der Iran angehören. Die Rebellengruppen der syrischen Opposition sind Teil des sunnitischen Lagers, wenn auch nicht alle in gleichem Maße: Ähnlich wie im Afghanistan der 1980er Jahre fehlt es auch der syrischen Opposition an Zusammenhalt und Eintracht. Die Oppositionsorgane im Ausland, die vorgeben, für alle Syrer zu sprechen, haben nur wenig Kontakt zu den vielen kämpfenden Gruppen im Syrien. Gleichzeitig hat jede Rebellenorganisation ihren eigenen ausländischen Sponsor: Die Kämpfer im Norden profitieren meist von türkischer und katarischer Hilfe, während die Kräfte im Süden des Landes Waffen und Geld aus Saudi-Arabien, Jordanien und den USA beziehen. Diese geopolitischen Verbindungen führen zu Widersprüchen. Mit ihrer Unterstützung des Militärputsches gegen die sunnitisch-islamistische Muslimbruderschaft in Ägypten haben Saudi-Arabien und seine sunnitischen Verbündeten ihr eigenes konfessionelles Etikett unterlaufen. Auch die jüngste Annäherung zwischen den USA und dem Iran passt nicht in die bipolare Sichtweise auf die Region. Israel und Saudi-Arabien fühlen sich beide von Washington im Stich gelassen und haben plötzlich gemeinsame Interessen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

In Syrien zeigt sich auch die Spannung zwischen religiösen und säkularen Kräften. Die Freie Syrische Armee pflegt ein säkulares Image, aber die meisten anderen Rebellengruppen gehören dem islamistischen Spektrum an, das von Moderaten bis zu Salafisten und Dschihadisten reicht. Zugleich sind islamistische Gruppen wie Ahrar al-Scham oder Isil (Islamischer Staat im Irak und der Levante) für Außenstehende schwer einzuschätzen, weil unsicher ist, ob sie tatsächlich ideologisch motiviert sind oder die Religion nur für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Insgesamt hat die Vielfalt der syrischen Opposition zu Uneinigkeit und internen Konflikten geführt, was dem syrischen Regime bislang trotz der massiven Zerstörungen das Überleben gesichert hat.

Der syrische Konflikt wird oft als Nullsummenspiel begriffen: Eine Schwächung des Regimes bedeutet automatisch die Stärkung der Opposition und umgekehrt. Dabei wird oft vergessen, dass es nicht allein um finanzielle Ressourcen und militärische Stärke geht. In Wahrheit ist das Hauptproblem des Assad-Regimes der Mangel an Kämpfern. Um seine militärische Schlagkraft aufrechtzuerhalten, braucht Damaskus ständige Unterstützung von iranischen Al-Quds-Brigaden, von Hisbollah-Einheiten aus dem Libanon und lokalen Schabiha-Milizen. Nachdem der Einsatz von Chemiewaffen als Option ausfällt, ist das Regime mehr denn je von seinen ausländischen Hintermännern abhängig.

In der ersten Phase des Aufstands unterstützten die Golfstaaten islamische Aktivisten, die aus syrischen Gefängnissen geflohen waren, vor allem über private Netzwerke. Heute sind internationale Kräfte viel stärker involviert. Die Al-Nusra-Front und Isil sind Ableger von al-Qaida. Saudi-Arabien verstärkt seinen Einfluss auf die Opposition, indem es eigene Gruppen ohne Al-Qaida-Verbindungen fördert. Auf der anderen Seite hat die syrische Armee eine tiefgreifende Wandlung vollzogen. Seit der Schlacht um die westsyrische Grenzstadt Kusair im April 2013 haben Al-Quds-Brigaden und die Hisbollah damit begonnen, die syrischen Streitkräfte in verstreute Milizenverbände aufzuteilen. Das passt zu den Interessen des Irans und hat zur Folge, dass sich die Armee auf kleinere Gefechte konzentrieren und das zermürbende Blutvergießen fortführen kann, ohne große konventionelle Schlachten zu schlagen.

In einer solchen Situation haben externe Mächte nicht die Absicht, sich militärisch einzumischen. Die USA können sich keinen weiteren Krieg leisten. Zudem hat Washington, dessen globale Strategien zunehmend auf Asien ausgerichtet sind, längst akzeptiert, dass sein hegemonialer Status im Nahen Osten bröckelt. Konservative in den USA fordern, dass Washington sich mit dem Patt in Syrien begnügt. So schrieb etwa der US-Militärstratege Edward Luttwak in der New York Times,1 der Westen solle beide Seiten so lange wie möglich bluten lassen, da ein Sieg des Assad-Regimes ebenso inakzeptabel sei wie einer der islamistisch geprägten Opposition.

Saudi-Arabien sähe gern den Zusammenbruch des syrischen Regimes, könnte aber auch einen zerfallenen Staat akzeptieren, der den vermeintlichen schiitischen Halbmond vom Iran bis zum Libanon schwächen würde. Auch der Iran und Russland würden sich mit einem auseinandergebrochenen Syrien zufriedengeben, das dem Regime nur noch einen Ministaat ließe. Sie haben sich zwar nicht unbedingt vom Regime abgewandt, aber zu Assad halten sie nicht mehr.

Die Aussicht auf Frieden ist gering, von Demokratie ganz zu schweigen. Die Verantwortlichen für die Gräueltaten müssen zur Rechenschaft gezogen werden, aber auch die externen Akteure müssen ihre Rolle bei der Fortsetzung des Konflikts eingestehen. Die eigentliche Tragödie besteht darin, dass der syrische Bürgerkrieg so entsetzliche Formen angenommen hat, dass sich nur wenige an die ersten Proteste erinnern, die, wie in anderen arabischen Staaten, mit der Forderung nach Würde und Freiheit begannen. Der Krieg kam erst später.

Stillstand in Bahrain

Ein weiteres Beispiel dafür, wie internationale Kräfte interne Konflikte verkomplizieren können, ist Bahrain – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Auch hier waren die ersten Demonstrationen Ausdruck des Wunsches normaler Bürger nach Würde und Mitsprache. Zeitweise beteiligte sich fast ein Fünftel der Bevölkerung daran. Dieser demokratische Aufstand wurde durch die militärische Intervention des Golf-Kooperationsrats (GCC)2 niedergeschlagen. Bezeichnenderweise haben in den letzten Jahren auch hier die konfessionellen und geopolitischen Diskurse den ursprünglichen Geist der Proteste vereinnahmt.

Während globale und regionale Mächte Syrien schnell als Land mit einem schiitischen Regime eingeordnet hatten, dem eine sunnitische Mehrheit gegenübersteht, gilt für Bahrain das Gegenteil: Dort herrscht eine sunnitische Monarchie über eine mehrheitlich schiitische Bevölkerung. Deshalb nehmen der Iran und Saudi-Arabien das Land nur als ein weiteres Schlachtfeld in ihrem Kampf um die regionale Vorherrschaft wahr, wobei für Saudi-Arabien aufgrund seiner geografischen Nähe weit mehr auf dem Spiel steht. Die vom Westen unterstützte Militärintervention entsprang zum einen dem Wunsch, Bahrain in der saudischen Einflusssphäre zu halten, und verdeutlichte zum andern, dass ein Sieg der dortigen Opposition als Erfolg für den schiitisch-islamischen Block gedeutet worden wäre.

Die Auseinandersetzung in Bahrain begann jedoch nicht als Streit zwischen den Konfessionen, schließlich gingen hier sowohl Sunniten wie Schiiten für die Demokratie auf die Straße. Erst externe Kräfte deuteten den zivilen Ungehorsam und die Forderung nach Reformen als uralten Rivalitätskonflikt mit regionalen Implikationen. Eine unbequeme Wahrheit allerdings trat deutlich zutage: Ohne die finanzielle und militärische Unterstützung des GCC hätte die Monarchie in Bahrain weder die Legitimität noch die Ressourcen, um die Stabilität des Landes zu garantieren.

Die Gelegenheit, die umstrittene Geschichte der Spannungen zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften in Bahrain durch einen demokratischen Dialog aufzuarbeiten, ist durch die Internationalisierung des Konflikts vertan worden. Im Gegensatz zu Syrien, wo die Einmischung von außen dazu geführt hat, das Land auseinanderzureißen, hat sie in Bahrain den autokratischen Status quo künstlich am Leben erhalten. Der dadurch entstandene Eindruck von Sicherheit ist so trügerisch wie unhaltbar und verdeckt die Missstände, unter denen alle Bürger Bahrains leiden.

Restauration in Ägypten

Ägypten ist besser als Syrien und Bahrain von geopolitischen Einflüssen abgeschirmt, seine innenpolitischen Akteure sind stärker und autonomer in der Gestaltung der politischen Entwicklungen. Aber auch in Ägypten sind ausländische Mächte in das gegenwärtige politische Drama verstrickt.

Im Juli 2013 wurde die von der Muslimbruderschaft geführte Regierung durch einen Militärputsch gestürzt. Eine solcher Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung kann eigentlich unter keinen Umständen geduldet werden, doch genau das taten die meisten regionalen und westlichen Mächte. Die USA und ihre europäischen Verbündeten, ebenso Saudi-Arabien, einige Golfstaaten, Jordanien und Israel begrüßten den Coup, weil sie fürchteten, die Regierung des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi nicht kontrollieren zu können.

Kurz nach der Machtübernahme des Militärs stellten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait ein Hilfspaket in Höhe von 12 Milliarden US-Dollar zur Verfügung (die jährliche US-Militärhilfe beträgt 1,3 Milliarden). Für Saudi-Arabien spielten zwei Faktoren eine treibende Rolle: das alte Misstrauen zwischen der Bruderschaft und dem saudisch-wahhabitischen Islam und die tiefsitzende Angst des autoritären Königshauses vor einer islamistisch geprägten Oppositionsbewegung im eigenen Land.

Dass so viele westliche Demokratien die Entwicklung akzeptierten, ist eine moralische Bankrotterklärung. Denn damit haben sie eine gewaltsame Machtübernahme während eines demokratischen Übergangsprozesses legitimiert – zumindest wenn die „falsche“ Seite Wahlen gewinnt. Die Wurzeln des Staatsstreichs lagen in der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation des Landes und in der öffentlichen Wahrnehmung, dass die Muslimbruderschaft inkompetent sei. Auch Mursi-Wähler mussten eingestehen, dass der Islam nicht die Lösung für weltliche Probleme wie Arbeitslosigkeit und Korruption ist. Überdies gerierte sich die Bruderschaft zunehmend autoritär und schloss andere politische Kräfte vom Regierungsgeschäft aus. Diese Inselmentalität war eine Reaktion auf den Widerstand des „tiefen Staates“, von Polizei, Justiz und Anhängern des alten Mubarak-Regimes, die sich weigerten, die Politik der Bruderschaft umzusetzen. Dieser „tiefe Staat“ entpuppte sich als der eigentlich mächtige Staat. Indem die Muslimbruderschaft versuchte, dem Druck mit aller Härte zu begegnen – Regionalgouverneure wurden ausgetauscht, Richter in den Ruhestand geschickt –, vergraulte sie potenzielle Verbündete wie Zentristen, Linke und Salafisten.

Mit dem gewaltsamen Sturz der Muslimbruderschaft verlor der Islamismus auch seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit. Die Bruderschaft war kein Zweig einer geheimen internationalen Islamistenbewegung mit revolutionärem Potenzial. Sie war eher eine menschliche Organisation mit gewöhnlichen Schwächen, die nicht einmal ein religiöses Deutungsmonopol beanspruchen konnte, da sie weder die Salafisten noch die Gelehrten der Al-Azhar-Universität3 kontrollieren kann. Tatsächlich schlugen einige Salafisten, wie die Al-Nour-Partei, einen neuen Weg ein und wurden politisch pragmatischer. Weil sie glauben, die ägyptische Gesellschaft steuere ohnehin unaufhaltsam in Richtung fundamentalistischer Glaubensgrundsätze, haben sie ihre Politik entschärft. Als Folge von alldem gibt es in Ägypten heute mehr religiöse Vielfalt und neue informelle Autoritäten, die sich abseits vom kulturellen und politischen Mainstream entwickelt haben.

Die kurze Phase, in der die Muslimbruderschaft über die Macht verfügten, war weniger eine Zeit der Islamisierung als eine der „Ikhwanisierung“ (Ikhwan: Brüder). Es ging nicht um die Durchsetzung islamistischer Prinzipien, sondern um die Kontrolle der Verwaltung. Das wurde deutlich, als die Mursi-Regierung ihre Macht mit Verweis auf ihre Legitimation (shar’iyya) und nicht durch das islamische Gesetz (shari’a) zu sichern versuchte. Insofern war die Angst des Westens davor, dass der Arabische Frühling auf eine Islamisierung des Nahen Ostens hinauslaufen würde, kaum begründet.

In Ägypten selbst wurde der Putsch des Militärs von der Tamarod-Bewegung,4 der Koptischen Kirche und säkularen Liberalen unterstützt. Doch mit deren Liberalität war es nicht weit her: Sie setzten sich für gesellschaftlichen Pluralismus und Meinungsfreiheit ein, jedoch nicht für politischen Pluralismus, denn das hätte die Einbeziehung islamistischer Kräfte bedeutet. Das Ergebnis ist: gar kein Pluralismus. Unter der Militärregierung ist die Zensur strenger als unter Präsident Mubarak, die Repression der Muslimbrüder so brutal wie zuletzt unter Nasser. An die Stelle islamistischer Rede ist ein fremdenfeindlicher Nationalismus getreten, der die Bruderschaft als Marionette ausländischer Feinde wie Syrien oder Katar diffamiert. Durch die Revolution hat sich das Regime von einer Präsidialautokratie in eine Militärdiktatur verwandelt, mit einer Wiederkehr des Kriegsrechts und legalisierter Gewalt. Es mag auch in Zukunft noch (kontrollierte) Wahlen geben, aber nur als Teil einer vorsichtigen Strategie, um die Gesellschaft zu beschäftigen und revolutionären Tendenzen die Spitze zu nehmen. Genau dies geschah bereits unter der Herrschaft des Obersten Militärrats (SCAF), der nach dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 die Macht übernommen hatte: Bis zu Mursis Amtsantritt im Juni 2012 überwachte der SCAF fünf landesweite Abstimmungen.

Mit der Niederlage der Muslimbruderschaft und dem Ende aller nennenswerten politischen Kräfte ist die Herrschaft des Militärs zur politischen Standardlösung geworden. Die Armee wird ihre Macht nicht abgeben. Nicht nur, weil sie die Unterstützung regionaler und westlicher Mächte genießt, sondern auch, weil sie sich als integraler Bestandteil der ägyptischen Gesellschaft versteht, als Grundpfeiler der Nation und als institutionelles Rückgrat des Staates.

Ein offener bewaffneter Konflikt droht nicht unmittelbar, denn in Ägypten gibt es keine ethnischen oder religiösen Spannungen wie in anderen Staaten der Region. Aber die Armee kann die alte autoritäre Ordnung auch nicht einfach wieder aufbauen, der Preis für die Unterdrückung von Protesten wäre zu hoch, die Ägypter kennen jetzt die Macht gesellschaftlicher Mobilisierung. Doch die Kluft zwischen dem säkularen und dem islamistischen Lager könnte die Gesellschaft weiter spalten, und Aktivisten der Muslimbruderschaft könnten sich dem bewaffneten Widerstand anschließen. Zur Speerspitze in einem solchen Kampf könnten die ultrakonservativen Salafisten werden.

Die Ansprüche der Ägypter an die Politik sind seit dem Sturz von Mubarak erkennbar gestiegen. Selbst den Putsch im Juli 2013 musste die Armee als demokratische Initiative darstellen, die durch ein Mandat des Volkes legitimiert war. Die Armee steht jetzt vor einer entscheidenden Frage: Will sie ein System im Mubarak-Stil, in dem General al-Sisi in die Rolle des Zivilisten schlüpft, oder folgt sie dem algerischen Modell, bei dem die Politik den Zivilisten überlassen wird, die Armee aber ein Vetorecht behält?

Lichtblick Tunesien

Am meisten Hoffnung macht der Übergangsprozess in Tunesien. Er wurde von Akteuren im Land selbst vorangetrieben, die nach Stabilität und Demokratie streben, Manipulationen von außen blieben auf ein Minimum beschränkt. Dies liegt zum Teil an dem geografischen Umstand, dass Tunesien, anders als Syrien, Bahrain oder Ägypten, kaum je Schauplatz geopolitischer Auseinandersetzungen war. Zudem herrscht in der kleinen und homogenen Bevölkerung Tunesiens kein konfessioneller Unfriede. Das größte politische Problem seit der Jasmin-Revolution von 2011 ist der Streit zwischen dem säkularen und dem islamistischen Lager. Anders als Ägypten blieb Tunesien aber von der Internationalisierung dieses Konflikts weitgehend verschont, und die führenden Kräfte des Landes waren in der Lage, auf dem Weg zur Demokratie institutionelle Kompromisse einzugehen und eine Teilung der Macht zu akzeptieren.

Die ersten freien Wahlen im Oktober 2011 gewann die islamistische Ennahda-Partei. Doch sie machte den gleichen Fehler wie die Muslimbruderschaft in Ägypten und verwechselte das ihr verliehene Mandat mit einer hegemonialen Machtposition. Innerhalb eines Jahres verschlechterte sich die politische Situation rapide, insbesondere durch Morde an einigen prominenten Oppositionellen des linkssäkularen und zentristischen Lagers. Besorgnis erregte zudem der Aufstieg militanter salafistischer Gruppierungen, die eine politische Teilhabe durch Wahlen ablehnten und mit bewaffnetem Kampf drohten.

Dank öffentlichem Druck und eigener Einsicht begriff die Ennahda, dass sie nicht allein regieren konnte. Das Resultat war eine neue Dreierkoalition mit zwei säkularen Parteien, in der keiner seine Agenda gegen die anderen durchsetzen konnte. Die linken und zentristischen Kräfte beteiligten sich an einem nationalen Dialog und erklärten sich zur Zusammenarbeit mit den Islamisten bereit, solange radikale Elemente wie die Salafisten unter Kontrolle blieben. Allen Parteien war zudem klar, dass das vorhandene Gewaltpotenzial zu weiteren Morden und zum Zusammenbruch der Rechtsordnung führen könnte. Auch war die Spaltung zwischen Säkularen und Islamisten nicht so tief wie zunächst gedacht. Die gemäßigten Islamisten waren oft kaum von ihren säkularen Gegenspielern zu unterscheiden, und viele Strömungen innerhalb des säkularen Lagers, ebenso wie die staatlichen Institutionen, bejahen einen Platz für die Religion im neuen politischen System.

Schließlich ist die tunesische Armee, anders als die ägyptische, klein und wenig politisiert. Seit 2011 hat sie sich nicht in die Politik eingemischt. Die alte präsidiale Autokratie Ben Alis basierte nicht auf dem Militär, sondern auf der Staatspartei und dem alles kontrollierenden Polizeiapparat. Der Diktator pflegte einen technokratischen Regierungsstil ohne ideologisches Fundament. Deshalb konnte die Jasmin-Revolution die Parteiführung und die Spitze des autoritären Apparats hinwegfegen und dabei einen Großteil der Verwaltung und sogar der Polizeieinheiten intakt halten. Denn die waren nicht durch eine Ideologie an das Regime gebunden.

Diese funktionierende Basis sorgte dafür, dass die Rechtsordnung in Tunesien im Übergangsprozess haltbarer und brauchbarer blieb als in anderen Ländern. Bereits unter dem alten Regime existierte ein stabiler institutioneller und rechtlicher Rahmen. Der wurde vor der Revolution zwar nicht gebraucht, weil sich Ben Ali in den letzten zehn Jahren seiner Macht nur noch um sich und seine Clique kümmerte. Aber jetzt können diese Ressourcen für eine neue Ordnung fit gemacht werden. Da das alte Regime nepotistisch und korrupt war, mag die Gefahr von autoritären Rückfällen bestehen, doch eine wirkliche Restauration des autoritären Systems ist unwahrscheinlich: Es gab einfach nichts Substanzielles, keine Ideologie, die da zu restaurieren wäre.

Der tunesische Übergangsprozess ist weder perfekt noch abgeschlossen. Die jetzt eingesetzte Übergangsregierung könnte wegen des Kräftegleichgewichts handlungsunfähig werden: Wenn keine Seite die politische Arena dominieren kann, könnte das Resultat Stillstand sein. Doch die Akteure entwickeln sich auch selbst weiter. Die Ennahda wünscht einen Rechtsstaat, der sich an religiösen Prinzipien orientiert. Andere Parteien fordern eine Rechtsordnung, bei der die Freiheit des Individuums Vorrang hat.

Immerhin haben sich alle Seiten nach langem Ringen auf eine Verfassung geeinigt, die das Übergangsparlament am 26. Januar mit großer Mehrheit angenommen hat. Für Tunesien besteht die größte Herausforderung darin, den Schwung der Revolution nicht zu verlieren und das Engagement der Tunesier aufrechtzuerhalten, während sich die durch Bündnisse und Verhandlungen entstandenen demokratischen Institutionen stabilisieren. Wenn das tunesische Experiment gelingt, würde das positiv auf die gesamte Region ausstrahlen.

Fußnoten: 1 Edvard Luttwak, „In Syria, America loses if either side wins“, New York Times, 24. August 2013. 2 Dem Golf-Kooperationsrat (GCC) gehören Saudi-Arabien, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait, Oman und Katar an. 3 Die Kairoer Universität ist ein wichtiges Zentrum des sunnitischen Islam. 4 Bekannt wurde die Protestbewegung, als sie Millionen Unterschriften für den Rücktritt Mursis sammelte. Aus dem Englischen von Jakob Horst Hicham Ben Abdallah El-Alaoui ist ein Cousin des Königs Mohammed VI. von Marokko und Wissenschaftler am Freeman Spogli Institute for International Studies der Stanford University. Im April erscheint sein Buch „Journal d’un prince banni“ (Tagebuch eines verbannten Prinzen), Paris (Grasset) 2014.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2014, von Hicham Ben Abdallah El-Alaoui