Katastrophe am Blauen Nil
An einem Morgen im Mai 2012 wurde das Dorf Gabanit am Fuß der Ingessana-Hügel im sudanesischen Bundesstaat Blauer Nil (an-Nil al-azraq) Ziel eines Angriffs der Armee. Aus einem Antonow-Luftfrachter wurden mehrere handgebaute Bomben abgeworfen – Fässer voller Sprengstoff und Metall, die aus dem Laderaum rollten. Danach schoss die Artillerie blindlings in das Dorf und auf die umliegenden Hügel, wohin sich die Rebellen des bewaffneten Arms der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung (Sudan People’s Liberation Movement/Army-North, SPLM/A-N) zurückgezogen hatten.
Als die Infanterie ins Dorf einmarschierte, feuerte sie auf alles, was sich bewegte. Die Bevölkerung floh in Panik. Wer zu langsam oder zu schwach war, wurde erschossen oder verbrannte bei lebendigem Leib in den Häusern, die die Armee angezündet hatte. Sieben Monate später stand vom ganzen Dorf nur noch die Schule: Sie wurde zur Militärbasis umfunktioniert. Sogar die Moschee lag in Trümmern.
Die ganze Trockenzeit hindurch wiederholten sich solche Massaker in der gesamten Region. Dorf um Dorf in den Ingessana-Hügeln wurde dem Erdboden gleichgemacht und die Bevölkerung vertrieben. Zurück blieb verbrannte Erde. Awedallah Hassan, 28, hat den Angriff gegen sein Dorf Khor Jidad überlebt. Er zählt zu den rund 120 000 Bewohnern des Bundesstaats Blauer Nil, die in den Flüchtlingslagern von Maban in der jungen Republik Südsudan untergekommen sind. In einem Zelt aus Ästen und Planen vor der Sonne und dem staubigen Wind geschützt, berichtet Hassan ruhig und ohne sichtbare Gemütsregung: „Die Soldaten kamen mit sechs Lastern und zwanzig Geländewagen. Sie nahmen das gesamte Vieh mit, alles Übrige brannten sie nieder.“
Seit mehr als drei Jahren herrscht Krieg in Blauer Nil, und er droht in Vergessenheit zu geraten. Wie im nahen Bundesstaat Südkordofan kämpfen auch in Blauer Nil Regierungstruppen gegen die bewaffneten Rebellen der SPLM/A-N, die traditionellen Verbündeten der Regierungspartei im Südsudan. Der Konflikt begann im Juni 2011, als die Abspaltung und Unabhängigkeit des Südsudan bevorstand.1 Khartum stellte damals der Regierung des Südsudan ein Ultimatum für den Abzug der SPLM/A-N aus den Bundesstaaten Südkordofan und Blauer Nil, die zum Norden gehören. Kurz danach versuchte die sudanesische Armee die SPLA/A-N in Südkordofan zu entwaffnen. Das war der Beginn eines neuen Bürgerkriegs. Keine drei Monate später hatte sich der Konflikt auf Blauer Nil ausgedehnt.
Die Kämpfer der SPLA/A-N, die sich zu diesem Zeitpunkt zufällig nördlich der neuen Landesgrenze zwischen den beiden sudanesischen Staaten befanden, sagten sich daraufhin offiziell vom Süden los und wurden zur eigenständigen Rebellengruppe. In Südkordofan konnten sie seither große Landgewinne verzeichnen. Die weniger gut vorbereiteten Gruppen in Blauer Nil mussten hingegen die strategisch wichtige Stadt Kurmuk und die Ingessana-Hügel bald aufgeben. Seither kontrollieren sie nur noch einen kleinen Landstrich nahe der Grenze zum Südsudan.
Die Fahrt vom Südsudan in die Rebellengebiete von Blauer Nil führt durch eine trostlose Landschaft. Hat man die unsichtbare Grenze hinter sich, säumen Akazien und Gestrüpp die Piste. Abgesehen von einigen Rebellenlagern und einem Trupp junger Männer in Uniform, die auf der Straße marschieren, ist von menschlichem Leben nicht viel zu sehen. Eine Schule an der Straße zwischen dem Grenzposten Guffa und dem weiter nördlich gelegenen Dorf Samari trägt deutliche Spuren der Antonow-Bombardierung. Unterrichtet wird hier schon lange nicht mehr, aber innen hängen noch ein paar Kinderzeichnungen an der Wand. Sie zeugen von Kriegstraumata: zwei Männer, die auf einen Zivilisten feuern, ein Geköpfter unter einem Helikopter.
Bombardement mit explodierenden Fässern
Auf der Flucht vor den nahezu täglichen Bombardierungen durch die sudanesische Luftwaffe suchte die Bevölkerung Schutz in der Savanne. Unter den Bäumen, abseits der Straßen, leben die Vertriebenen vom Jagen und Sammeln – und von Rationen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), die aus den Lagern in Maban hierhergeschmuggelt werden. Manche Leute bekunden ihre Verzweiflung, indem sie demonstrativ die giftige Gop-Wurzel hochhalten – sie wird nur dann einigermaßen genießbar, wenn man sie einen ganzen Tag auskocht.
Khartum verweigert humanitären Organisationen den Zutritt zu den Rebellengebieten; die Folge sind Massenflucht und der Zusammenbruch der ohnehin kaum vorhandenen Infrastruktur. Im Staat Blauer Nil gibt es keine einzige Schule oder Krankenstation mehr, obwohl dort noch immer Zehntausende Zivilisten leben. Unter den Folgen leiden vor allem die Schwächsten: jene, die zurückgelassen wurden, weil sie behindert sind oder zu alt; jene, die auf dem Weg in die Lager jenseits der Grenze durch Hunger oder Erschöpfung umkommen; und die Kinder, die bei den Bombardierungen verwundet wurden und in den Armen ihrer Eltern sterben, ehe sie ärztliche Hilfe bekommen.
In den Flüchtlingslagern im Südsudan schildern uns die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ihr Dilemma: Nur ein paar Dutzend Kilometer trennen sie von den gefährdeten Vertriebenen, die in Blauer Nil geblieben sind. Aber die Staatsgrenze verhindert, dass Hilfe auch zu ihnen gelangt. Keiner will das Risiko eingehen, womöglich zur Zielscheibe der Antonows zu werden. In Südkordofan erhalten die Menschen ein wenig Unterstützung von Hilfsorganisationen, die bereit sind, das Wagnis einer Fahrt vom Südsudan her einzugehen. Doch Blauer Nil, von den Medien vergessen, hat dieses Glück nicht.
Dass Khartum jede humanitäre Hilfe blockiert, legt die Vermutung nahe, dass die Bevölkerung durch Hunger und Terror aus den Rebellengebieten vertrieben werden soll: eine Strategie, die das sudanesische Regime bereits im Darfur-Konflikt seit 2003 und im zweiten Bürgerkrieg (1983 bis 2005) in den Regionen an der Grenze zum Süden anwendete. Dagegen setzen sich die Rebellen zur Wehr, indem sie auf den Nachschub an Menschen und Material zurückgreifen, der am leichtesten zugänglich ist: die Flüchtlingslager. Weil Blauer Nil keinen strategischen Rückzugsraum bietet, weichen sie auf die Region Maban aus. In der Stadt Bunj, unweit der Lager, herrscht ein Kommen und Gehen von Gruppen junger Männer, bewaffneter und unbewaffneter, in schmutzstarrenden Pick-ups – eine improvisierte Tarnung gegen die Antonows. Bunj dient den Rebellen als logistische Basis, dort nutzen sie die informellen Handelswege, die Maban und Äthiopien mit Yabus verbinden, einer Stadt im Süden von Blauer Nil und wichtigster Stützpunkt der SPLM/A-N.
In den Lagern ist die Machtposition der Rebellen völlig offensichtlich. Malik Agar, der Chef der SPLM/A-N, organisiert allmonatlich Versammlungen, bei denen die lokalen Chefs aufgefordert werden, Kämpfer zu stellen. Erst wurden nur Freiwillige angeworben, seit November 2012 aber, heißt es, würden Zwangsrekrutierungen vorgenommen. Deserteure und solche, die für den Kampf bestimmt wurden und sich weigern, werden nachts von Bewaffneten verschleppt. Jeden Monat kommen Lastwagen in die Lager, um eine „Revolutionssteuer“ in Form von Lebensmitteln und Geld zu erheben. Die UNHCR-Mitarbeiter, die solche Machenschaften zu dokumentieren versuchten, erhielten Drohungen, und die Flüchtlinge, die bereit sind, gegenüber Fremden offen darüber zu sprechen, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.
Doch für die Rebellen besteht angesichts der durch die Abspaltung des Südsudan entstandenen Situation kaum eine Chance, die Stadt Kurmuk, ihre historische Bastion am Blauen Nil, zurückzugewinnen. Die Zentralregierung hat ihre militärischen Anstrengungen dort eingeschränkt und konzentriert sich stärker auf die Front in Kordofan. 2011 hat sich die SPLM/A-N mit den drei wichtigsten Rebellengruppen in Darfur zur Sudanesischen Revolutionären Front (SRF) zusammengeschlossen. Seither weitet sie ihren Zermürbungskrieg in Kordofan aus. Die Kämpfe haben inzwischen sogar den Bundesstaat Nordkordofan erreicht, ein Bollwerk der Zentralmacht. Zugleich steckt der Sudan in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise, weshalb die Loyalität in den Randgebieten bröckelt. Ein Marsch der Rebellen auf die Hauptstadt ist dennoch unwahrscheinlich, eher zeichnet sich eine „Somalisierung“ des Landes ab.
Auch der Südsudan implodiert. Im Dezember trat Präsident Salva Kiir Mayardit uniformiert im nationalen Fernsehen auf und bezichtigte seinen ehemaligen Stellvertreter– und langjährigen Rivalen – Riek Machar des versuchten Staatsstreichs. Der floh in einem Boot aus der Hauptstadt und stellte sich an die Spitze bewaffneter Rebellen, die für kurze Zeit die strategisch wichtige Stadt Bor eroberten, 200 Kilometer nördlich von Juba. Sie sicherten sich die Kontrolle über einen Großteil des Bundesstaats al-Wahda („Einheit“) und legten damit 20 Prozent der nationalen Erdölförderung lahm. Seither bekämpfen sich die beiden Lager in mehreren wichtigen Städten; 500 000 Menschen sind auf der Flucht.
In diesem internen südsudanesischen Konflikt setzte die SPLM/A-N auf Neutralität. Doch die Flüchtlinge aus Kordofan und Blauer Nil haben bei einer Destabilisierung ihres Aufnahmelandes viel zu verlieren. Al-Jundi, ein Flüchtling in Maban, meint: „Wenn es nicht anders geht, sind die Leute bereit, nach Blauer Nil zurückzukehren.“
Sein Fatalismus scheint angebracht. Die internationale Staatengemeinschaft ist überfordert und hält sich heraus. Der UN-Sicherheitsrat, dem der Konflikt zwischen dem Süden und dem Norden vor einiger Zeit sehr wohl Sorgen machte,2 konzentriert sich jetzt auf die Krise im Südsudan. Auch die internationalen Vermittler unter der Ägide der Afrikanischen Union haben ihre Bemühungen, das Regime von Khartum und die SPLM/A-N an den Verhandlungstisch zu bringen, aufgegeben. Ein für Dezember geplantes Treffen wurde wieder abgesagt. Die offizielle Begründung – der Tod von Nelson Mandela – konnte kaum über die mangelnde Begeisterung für eine weitere Verhandlungsrunde hinwegtäuschen, die sowieso zum Scheitern verurteilt scheint. „Die Vermittler haben bewiesen, dass sie nicht in der Lage sind, zwei Probleme gleichzeitig zu bearbeiten“, meint Jérôme Tubiana, Sudanexperte bei der International Crisis Group. Die Konflikte in Südkordofan und Blauer Nil gelten als zweitrangig und fallen nun unter den Tisch: ein Glücksfall für Khartum, das nun bei der Ausweitung seiner Militäroffensiven freie Hand hat.
Die aktuellen Lage zeigt, dass der Ansatz, die Krisenherde im Sudan getrennt voneinander zu betrachten, gescheitert ist.3 Die Konflikte in Blauer Nil und Kordofan, die Darfur-Krise und die Selbstherrlichkeit Khartums werden von der internationalen Gemeinschaft seit zehn Jahren als unterschiedliche Probleme behandelt, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Dabei haben alle sudanesischen Konflikte einen gemeinsamen Ursprung: die wirtschaftliche, politische und kulturelle Dominanz einer kleinen Elite über die großen Randgebiete des Landes. Der Autonomiestatus, den der Süden Khartum 2005 abtrotzte – zu einer Zeit, als die brutale Niederschlagung des Aufstands in Darfur ihren Höhepunkt erreichte –, hätte mit landesweiten Bemühungen um Demokratisierung einhergehen müssen.
Doch angesichts des Widerstands der Führungen in Khartum und Juba gegen eine pluralistische Öffnung opferten die Vermittler damals die Demokratisierung einer kurzfristige Stabilisierung und optierten für die Abspaltung des Südens. Erst allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass es einer globalen Anstrengung bedarf, um die Krisen des Sudan zu lösen. Und ohne demokratische Öffnung wird der Frieden eine ferne Hoffnung bleiben.
Jean-Baptiste Gallopin