In der zweiten digitalen Phase
Daten versus Kommunikation von Felix Stalder
Seit Edward Snowdens Enthüllungen der umfassenden Überwachung (fast) aller Kommunikation lässt es sich nicht mehr leugnen: Die Internetrevolution befindet sich in ihrer gegenrevolutionären Phase. In den 1990er Jahren war sie angetreten, um durch Dezentralisierung, Kooperation und Transparenz neue Möglichkeiten individueller und kollektiver Autonomie zu schaffen. Heute nehmen Bestrebungen Überhand, die eben gewonnene Freiheit durch neu ausgerichtete Kontrollmechanismen wieder einzufangen und zu neutralisieren. Standen in der ersten Phase die Möglichkeiten der Kommunikation im Fokus, sind es in der zweiten Phase das Sammeln und Auswerten von Daten.
Es ist eine Eigenart digitaler Technologie, dass jede Handlung, die wir durch sie und mit ihr ausführen, gleichzeitig auf zwei Ebenen stattfindet, auf der menschenlesbaren Ebene der Kommunikation und der maschinenlesbaren Ebene der Daten. Auch wenn Kommunikation und Daten gemeinsam entstehen, könnten ihre sozialen Möglichkeiten kaum unterschiedlicher sein. Vereinfacht gesagt: Kommunikation ist der sinnhafte Austausch zwischen Menschen, ausgerichtet auf Verständigung. Dabei sollten die Formen und Inhalte nicht übermäßig standardisiert sein. Sie sollten Unerwartetes, Abweichendes, Einmaliges enthalten, denn werden sie zu formelhaft, schwindet die Aufmerksamkeit und die Kommunikation bricht ab.
Der Austausch hat auch immer ein horizontales Moment. Eine Person spricht mit einer anderen. Auch wenn Kommunikation in allerlei hierarchische und vermittelnde Instanzen eingebaut ist, so versuchen doch immer Sprecher Zuhörer zu erreichen. Das macht sie im Kern offen. Der Sprecher muss sich zumindest überzeugen können, dass der Zuhörer auch zuhört, und das macht diesen, im Ansatz, selbst zum Sprecher. Kommunikation also ist im Ansatz transparent. Der Zuhörer muss verstehen, was der Sprecher sagt. Die kommunizierenden Akteure müssen sich irgendwie begegnen, was aber auch zu Konflikten führen kann. Entsprechend ist gute Kommunikation immer plural und dezentral. Auch unter den Bedingungen der Massenmedien ist Vielfalt ein hohes Gut, das wesentlich zur Qualität der gesellschaftlichen Kommunikation beiträgt.
In der ersten Phase des Internets wurden nun alle diese Eigenschaften der Kommunikation extrem erweitert. Die neuen Technologien ermöglichten es, horizontale, dezentrale, offene und transparente Kommunikationsformen im einem noch nie dagewesenen Umfang zu realisieren. Neue Organisationsformen entstanden, die sich durch Freiwilligkeit und Partizipation auszeichneten, auf Basis umfassender, für alle zugänglicher, meist archivierter und damit referenzierbarer Kommunikationsflüsse. Flexible, einbeziehende, offene Strukturen, die bisher nur in kleinen Gruppen funktionierten, wurden auf viel größere übertragen. Die „Community“ – eine Gruppe Gleichgesinnter die sich freiwillig zusammenschließt, um kollektiv zu handeln – wurde der Leitbegriff dieser Phase. Communitys schufen Freie Software, Wikipedia, die Remix-Kultur1 , die Occupy-Bewegung und unzählige neue Räume kollektiven Handelns, quer durch das ganze gesellschaftliche Spektrum.
Daten sind anders. Sie sind, wieder etwas vereinfacht, die Domäne der Maschinen. Dazu müssen sie hochgradig standardisiert sein. Widersprüchlichkeiten und Abweichungen sowie inkompatible Klassifikationen und Formatierungen müssen unter allen Umständen vermieden werden. Der Wert der Daten liegt in ihrer Einheitlichkeit, nur dadurch können sie analysiert werden. Daten sind ihrem Wesen nach vertikal. Sie entstehen auf einer anderen Ebene als die Ereignisse, die sie hervorbringen.
Bei jedem Telefongespräch fallen beim Netzanbieter Daten an – wer mit wem spricht, wo die Personen sich aufhalten, wie lange das Gespräch dauert und so weiter –, unabhängig vom Inhalt des Gesprächs und ohne Zutun der Telefonierenden. Das macht es überaus einfach, die Daten unter Verschluss zu halten, denn sie entstehen unsichtbar für die Handelnden. Was danach mit ihnen geschieht, wie sie ausgewertet werden, das steht in keiner für den Einzelnen nachvollziehbaren Verbindung zu seinem eigenen Tun.
Datensätze gewinnen mit zunehmender Größe an Wert. Das löst eine starke Tendenz der Zentralisierung aus, zumal es komplex und teuer ist, riesige Datenmengen zu verwalten. Es ist eine Eigenart digitaler Daten, dass sie problemlos ihren Aggregatzustand wechseln können. Mussten wir einst Karten in verschiedenen Maßstäben kaufen, die jeweils fixe Sichtweisen boten, können wir heute bruchlos von der galaktischen Perspektive auf den gesamten Planeten zum „Street View“ auf einzelne Gassen zoomen. Datenzentralisierung und Aggregation bedeuten heute nicht mehr Informationsverlust, sondern freies Skalieren von einer Sichtweise zur anderen. Insofern sind mehr Daten immer besser als weniger Daten. Es gibt keine natürliche Grenzen der Sammelwut.
Das Symbol dieser zweiten Phase ist nicht mehr die Community, sondern das Datencenter – eine Blackbox mit industriellen Dimensionen, kapitalintensiv, komplex und opak. Das Datencenter brachte die Cloud hervor, in der unsere Daten verschwinden, um allgegenwärtig zu werden; die Personalisierung, die uns verspricht, den Kommunikationsüberfluss in den Griff zu bekommen; es ermöglicht das „Profil“, das zunehmend bestimmt, wie wir uns durch Welt (offline und online) bewegen können, und es brachte den „großen Bruder“ zurück, jene allwissende Obrigkeit, von der wir glaubten, wir hätten sie hinter uns gelassen.
Aus großen Datenbeständen lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die auf der Ebene der Kommunikation gar nicht existieren. Es lassen sich Muster erkennen und Wahrscheinlichkeiten zukünftigen Handelns ermitteln. Darauf werden Strategien aufgebaut, um diese Wahrscheinlichkeiten zu manipulieren. Das können freundliche, unterstützende Eingriffe sein, die dem Nutzer jene Dinge, die er von sich aus machen möchte, erleichtern und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sie gelingen. Das können aber auch repressive Eingriffe sein, die es den Menschen schwerer machen oder sie gar daran hindern, ihre Pläne umzusetzen.
Eine Blackbox, komplex und opak
Repression ist aber die Ausnahme. Mit großen, gut organisierten Datenmengen lassen sich Menschen steuern, ohne dass ihnen diese Steuerung bewusst wird. Die Polizei wird nur im Notfall, wenn alles andere versagt hat, losgeschickt. Die Daten bieten die Grundlage dafür, die Umgebung, in der Menschen handeln, vorzustrukturieren, bevor sie handeln. Dadurch wird der Eindruck der individuellen Freiheit erhalten, obwohl die Freiheit nur noch darin besteht, aus Optionen auszuwählen, die ein anderer aus eigennützigen Motiven bereitgestellt hat. Amazon, der große Onlinehändler, wird nie ein Buch empfehlen, das er nicht im Angebot hat.
In der Folge entsteht ein neues Machtgefälle zwischen denen, die Zugang zu den Daten und damit den entsprechenden Wissensvorsprung besitzen, und denen, die auf der Ebene der Kommunikation verharren müssen. Unterm Strich kommt heraus, dass zwar die Kommunikationsmöglichkeiten extrem ausgeweitet wurden, Kommunikation als solche aber an Bedeutung verliert. Sie dient zunehmend nur noch als Anreiz, Daten zu produzieren. Facebook interessiert sich nicht für Kommunikation. Wäre Facebook nicht um sein Image besorgt, würde es sich aus dem, worüber und wie sich seine Nutzer unterhalten, ganz heraushalten. Denn egal was ausgetauscht wird, alles generiert verwertbare Daten.
Die Gewichtsverschiebung von der Kommunikation zu den Daten ist keineswegs auf das Internet beschränkt. In unseren zunehmend postdemokratischen Gesellschaften kommuniziert Macht nicht mehr, sie managt, möglichst ohne wahrgenommen zu werden. Und wenn sie spricht, spricht sie am liebsten in Zahlen. Das folgenreichste Projekt der EU im letzten Jahrzehnt ist eine Zahl: 3 Prozent Obergrenze bei der Neuverschuldung.
Um an dieser Situation etwas zu ändern, müssen wir uns nicht nur Gedanken über neue Gesetze, sondern auch über Strukturen machen, die der Kommunikation wieder Gewicht verleihen. Grundsätzlich müssen wir dahin kommen, dass zentral gesammelte Daten offengelegt werden, damit die Gesellschaft als Ganzes von den Erkenntnissen, die sich daraus gewinnen lassen, profitieren kann. Daten, die nicht offen sein sollten, weil sie etwa die Privatsphäre betreffen, sollten möglichst dezentral verwaltet werden.
Auf die Offenlegung großer Datenbestände der öffentlichen Hand zielt die Open-Data-Bewegung. Sie fordert nicht nur, dass der Zugang zu relevanten Daten frei zu sein hat, sondern auch dass diese in menschenlesbarer Form vorgelegt werden, da sonst größere Datenmengen nicht effizient analysiert und genutzt werden können. Diese Daten sollen dann als Grundlage einer neuen öffentlichen Kommunikation dienen und staatliches Handeln für die Bürger transparenter machen. Bisher ist diese Bewegung leider noch zu sehr auf nützliche, aber harmlose – meist kommunale – Datensätze fokussiert. Da wäre noch einiges mehr möglich.
Andere Projekte zielen auf die Vermeidung von zentral anfallenden Daten ab, solche wie „Mailpile“, das vor Kurzem eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne abgeschlossen hat. Es will nicht nur das dezentrale Betreiben avancierter Webmail-Services erleichtern, sondern baut auch von Anfang an eine Verschlüsselung ein, damit niemand mitlesen kann. Ebenso könnten lokale Mesh-Netzwerke2 es erheblich erschweren, mit einem Schlag große Mengen an Kommunikation in Daten zu verwandeln. Das alles wird nicht einfach, denn trotz aller öffentlich ausgetragener Differenzen sind die Ziele und Methoden der großen Anbieter wie Facebook und Google nicht sehr verschieden von denen der Geheimdienste. Der Ausgang des Krieges zwischen Daten und Kommunikation steht noch nicht fest, aber ohne angepasste, demokratische Infrastrukturen, online und offline, wird die Kommunikation unterliegen.