Der richtige Pass
In der Einwanderungslotterie von Benoît Bréville
Ende Oktober vergangenen Jahres berichtete die französische Tageszeitung L’Équipe über das Viertelfinale der Europameisterschaften im Tischtennis: „Bei den Frauen verlor die zweifache niederländische Europameisterin Li Jiao (2007 und 2011) gegen die Portugiesin Fu Yu. Diese wird im Halbfinale der Schwedin Li Fen gegenüberstehen, der besten Europäerin auf der Weltrangliste (Platz 11). Das andere Halbfinale wird vollständig deutsch sein und zwischen Shan Xiaona und Han Ying ausgetragen werden.“1
Wenn es um den Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit geht, sind nicht alle Ausländer gleich: Spitzensportler, reiche Unternehmer oder hochqualifizierte Einwanderer haben sehr viel bessere Aussichten, einen neuen Pass zu erhalten, als mittellose Flüchtlinge.
Die diskrete, von Nützlichkeitskriterien geleitete Einbürgerung steht im offenen Widerspruch zu dem Geist, der bei der Erfindung der Staatsbürgerschaft im Europa des 19. Jahrhunderts Pate stand. Als ein Zeichen der Souveränität symbolisierte der Pass damals die Übertragung des „Monopols der legitimen Fortbewegungsmittel“2 von Privatpersonen auf die öffentliche Gewalt.
Standesamtliche Aufgaben waren während des Ancien Régime Aufgabe der Kirche; wenn ein Leibeigener oder Sklave an einen anderen Ort wollte, musste er die Erlaubnis seines Herrn beziehungsweise Eigentümers einholen, eine Schifffahrtsgesellschaft konnte Passagiere ohne weitere Begründung abweisen und so weiter. Die Geburt der Nationalstaaten in Zeiten globaler Migrationsströme ging mit dem Willen einher, darüber zu entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht, wer ein- und ausreisen darf und wer nicht. So kam es zu der rechtlichen Unterscheidung zwischen Ausländern und den Mitgliedern der jeweiligen nationalen Gemeinschaft. Letztere konnten Rechte wie unter anderem das Wahlrecht, Bewegungsfreiheit, diplomatischen Schutz, die Ausübung öffentlicher Ämter in Anspruch nehmen und mussten dafür Pflichten wie zum Beispiel Wehrdienst und Steuern ableisten.
Um diese Unterscheidung vornehmen zu können, haben nach und nach alle Länder ein Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen, dessen wichtigste Variablen bis heute Bestand haben: Geburtsort und familiäre Abstammung im Fall der Staatsangehörigkeit bei Geburt, Ehestand und Wohnort beim Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung. Die Gewichtung dieser Parameter richtet sich nach der Zusammensetzung, die ein Staat seiner Bevölkerung geben möchte, also der Art und Weise, welchen Zuschnitt er seiner politischen Gemeinschaft geben will.
In der Haager Konvention von 1930 (einer der wenigen internationalen Vereinbarungen zum Staatsangehörigkeitsrecht) heißt es: „Es steht jedem einzelnen Staate zu, durch seine Gesetzgebung zu bestimmen, wer seine Staatsangehörigkeit besitzt.“
Ende des 19. Jahrhunderts standen sich in Europa zwei Staatsbürgerschaftskonzepte gegenüber. Das erste – französische und einschließende – beruhte auf einem Rechtsanspruch. „Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volke“,3 heißt es in der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789. Daran anknüpfend hat Ernest Renan 100 Jahre später seinen politischen Begriff der Nation entwickelt und diesen der „Politik der Rassen“ entgegenstellt.4
Das zweite – deutsche und ausschließende – Staatsbürgerschaftskonzept hat Johann Gottlieb Fichte 1808 in seinen „Reden an die Deutsche Nation“ definiert. Bei Fichte ist die Nation eine ethnische Gemeinschaft, der ein „eigenthümlicher deutscher Geist“ innewohne.
Die unterschiedlichen Varianten des Staatsangehörigkeitsrechts wurden lange Zeit mithilfe dieses Gegensatzes interpretiert. Die Verfassungsstaaten wandten das Geburtsortprinzip (ius soli) an, die Kulturnationen beriefen sich auf das Abstammungsrecht (ius sanguinis). Tatsächlich ist das Staatsbürgerschaftsrecht aber immer das Produkt der Migrationsgeschichte, der politischen, rechtlichen und demografischen Entwicklung sowie diplomatischen Beziehungen eines Staats.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts sind die diesbezüglichen französischen Gesetze zweimal geändert worden. Während des Ancien Régime galt das Prinzip des Treueids, eine wohldosierte Mischung aus feudaler Leibeigenschaft und Geburtsortprinzip. Franzose war, wer in Frankreich geboren wurde und die Autorität des Souveräns anerkannte.
Dieses Prinzip war in Europa über mehrere Jahrhunderte hinweg vorherrschend, wurde jedoch – als Relikt der Monarchie – von den französischen und amerikanischen Revolutionären verworfen. Um den Bruch mit der alten Ordnung sichtbar zu machen, leitete der napoleonische Code Civil im Jahr 1804 die Staatsbürgerschaft bei Geburt von der Abstammung ab. Das französische ius sanguinis – es wurde 1811 von Österreich, 1831 von Belgien, 1836 von Spanien, 1842 von Preußen und 1865 von Italien übernommen – war das Gegenstück zum britischen ius soli, das in einigen ehemaligen Kolonien des britischen Empire bis heute zur Anwendung kommt: Indien, Pakistan, Neuseeland.
Frankreich beschloss 1889, Großbritanniens Beispiel zu folgen und zum Geburtsortprinzip zurückzukehren, allerdings nicht, weil man das Konzept der Nation plötzlich geändert hätte, sondern um auf zwei Herausforderungen zu reagieren: Das angeblich für die Niederlage im Krieg von 1870/71 gegen Preußen verantwortliche „demografische Defizit“ sollte aufgeholt und die Ausländer in die nationale Gemeinschaft (und damit auch in ihre Streitkräfte) integriert werden. Schließlich waren die in Frankreich geborenen Kinder seit Mitte des Jahrhunderts eingewanderten Belgier, Italiener, Schweizer und Deutschen nach dem geltenden ius sanguinis keine französischen Staatsbürger. Ihre Zahl war – bei einer Gesamtbevölkerung von 40 Millionen – von 380 000 Personen im Jahr 1851 auf eine Million im Jahr 1881 angewachsen.
Das auf sein Abstammungsrecht fixierte Deutschland, das erst spät zu einem Einwanderungsland wurde, machte Ende des 20. Jahrhunderts die gleiche Erfahrung. Die Zahl der Ausländer stieg beständig an: 1998, zwei Jahre vor der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, lebten 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland und damit doppelt so viele wie in Frankreich, wo die Migrationsströme durchaus vergleichbar waren. Aus diesem Grund haben die meisten Einwanderungsländer früher oder später das ius soli in Ergänzung zum Abstammungsprinzip eingeführt, so zum Beispiel Italien, Spanien, Portugal, die USA, Kanada, Australien, Südafrika, Brasilien oder Argentinien.
Die Länder Nord- und Südamerikas, in denen ein enger, historisch gewachsener Zusammenhang zwischen Staatsgründung und Migration besteht, wenden ein Geburtsortprinzip mit ausgeprägter Inklusion an: Hier kann jedes Kind die Staatsangehörigkeit des Landes erhalten, in dem es geboren wurde.
Europa ist in dieser Frage restriktiver (siehe nebenstehende Grafik): In Frankreich, Dänemark und Italien, wo ein „modifiziertes Geburtsortprinzip“ gilt, muss man die Volljährigkeit abwarten und einen „dauerhaften“ Aufenthalt nachweisen, um den Zweitpass zu erhalten. Es sei denn, ein Elternteil ist in Frankreich geboren. Dann erhält das Kind die Nationalität bereits bei der Geburt. Es handelt sich um ein „doppeltes Territorialrecht“, wie es auch in Luxemburg, Österreich oder Spanien gilt. Die europäische Erfahrung hat gezeigt, dass durch massive Zuwanderung ein Druck aufgebaut wird, das Staatsbürgerrecht zu lockern, dem sich Demokratien nicht lange widersetzen können.
Gleichwohl halten zahlreiche – mehr oder weniger demokratische – Einwanderungsstaaten in Asien und Afrika am Abstammungsprinzip fest, was ursprünglich auch eine Reaktion auf den Kolonialismus gewesen sein mag. Das in den französischen und britischen Kolonialreichen vorherrschende Geburtsortprinzip hatte zu einer Hierarchisierung der Bevölkerungsgruppen geführt. Obwohl die „Indigenen“ die Staatsangehörigkeit der Schutzmacht besaßen, waren sie keine Bürger; sie genossen nicht die gleichen Rechte wie die im kolonialen Mutterland lebenden Menschen.
Nach Erlangung der Unabhängigkeit ersetzten daher die neuen afrikanischen Staaten das Geburtsortprinzip durch das Abstammungsrecht – um ein grenzüberschreitendes Zusammengehörigkeitsgefühl in den Ländern zu erzeugen, in denen die Grenzen von den Kolonialmächten künstlich und ungeachtet lokaler Realitäten gezogen worden waren.
Wo Ausländer keine Haare schneiden dürfen
Im Gegensatz zu diesem ursprünglichen Ziel dient das ius sanguinis oft dazu, die Integration der Ausländer zu verhindern und ihre rechtliche Benachteiligung aufrechtzuerhalten. In unterschiedlichem Maße benachteiligen alle Staaten der Welt ihre Ausländer – vor allem, indem sie ihnen bestimmte soziale Ansprüche verwehren.
In Frankreich dürfen sie zum Beispiel bestimmte Berufe nicht ausüben, wie beispielsweise Zeitungsherausgeber, Gastwirt oder Wachschutzunternehmer, in Thailand können sie weder Frisör noch Buchhalter oder Reiseführer werden. In Vietnam und in Kambodscha haben Ausländer keinen Zugang zu Grundeigentum. Mit dem Abstammungsrecht wird dieser Status dann von Generation zu Generation weitergegeben.
In manchen Staaten mit geringer Auswanderung ist das ius sanguinis zeitlich beschränkt. So bekommt das im Ausland geborene Kind einer Kanadierin nur dann die Staatsbürgerschaft seiner Mutter, „wenn es der ersten im Ausland geborenen Generation angehört“.5 Die Staatsangehörigen vieler Länder mit hoher Auswanderung (unter anderem China, Philippinen, Vietnam, Haiti, Thailand, Algerien, Marokko, Mali, Senegal) können ihre Nationalität hingegen an ihre gesamte Nachkommenschaft vererben, was das Entstehen von Auslandsgemeinden stark begünstigt.
Die bezogen auf die Bevölkerung größte Diaspora der Welt hat Haiti: 3 Millionen der 10 Millionen Haitianer leben außerhalb der Insel, und es gibt sogar eine eigenes Ministerium für Auslandshaitianer. Dank des uneingeschränkten Abstammungsrechts bleibt die Verbindung zwischen dem Herkunftsland und seinen im Ausland lebenden Staatsangehörigen erhalten, wodurch die Bereitschaft zu Rücküberweisungen steigt und sich Einwanderungsnetzwerke sowie transnationale Partnerschaften bilden können.
Das ius sanguinis kann auch sexuell diskriminieren. In den meisten arabischen Staaten (siehe Artikel von Warda Mohamed auf Seite 23) sowie in Burundi, Swasiland, Nepal oder Surinam können Frauen ihre Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder oder Ehemänner weitergeben. In Pakistan, der Zentralafrikanischen Republik, Guatemala, Malaysia und Thailand gilt diese Beschränkung nur für die Weitergabe der Nationalität an den Ehemann. Auch die westlichen Staaten haben lange Zeit verhindert, dass Frauen ihre Staatsangehörigkeit weitergeben konnten. Erst 1973, vier Jahre nach Mexiko, hat Frankreich diese Beschränkung abgeschafft und war damit immer noch früher dran als Deutschland (1979), Italien, Spanien (beide 1983) oder Belgien (1984).
Während in der arabischen Welt der Trend zur Gleichstellung der Frau noch auf sich warten lässt, ist er in Subsahara-Afrika schon seit etwa zwei Jahrzehnten zu spüren. 1992 ließ die botswanische Anwältin Unity Dow die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüfen, das sie daran hinderte, ihre Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weiterzugeben, obwohl der US-amerikanische Ehemann und Vater der Kinder seit mehr als zehn Jahren im Land lebte.
Nach drei Jahren Kampf urteilte das Berufungsgericht zu ihren Gunsten: „Die Zeiten, in denen die Frauen wie Vieh behandelt wurden und nur existierten, um den Launen und Wünschen der Männer zu gehorchen, sind längst vorbei.“ Daraufhin haben andere afrikanische Länder wie Burkina Faso, Elfenbeinküste, Äthiopien, Mali oder Niger den gleichen Weg eingeschlagen. Zuletzt hat Senegal im Juni 2013 die Gleichstellung von Männern und Frauen im Staatsbürgerrecht verankert.
Während die sexuelle Diskriminierung also allmählich auf dem Rückzug ist, besteht die rassistische oder ethnische Diskriminierung in vielen Ländern weiter. In Liberia, das 1847 von freigelassenen Sklaven gegründet wurde, können nur Kinder „schwarzer Abstammung“ die Staatsangehörigkeit erhalten, in Malawi nur Kinder, von denen mindestens ein Elternteil „Bürger von Malawi“ und „afrikanischer Rasse“ ist. Die nigerianische Verfassung drückt die Rassenbevorzugung subtiler aus: Hier ist die Staatsbürgerschaft auf jene Kinder beschränkt, „von denen mindestens ein Eltern- oder Großelternteil zu einer autochthonen Gemeinschaft Nigerias gehört oder gehörte“.
In einer Welt, in der also die einen Länder ausschließlich das Abstammungsrecht und die anderen eine Kombination aus Abstammungs- und Geburtsortsrecht anwenden, können manche Menschen zwei Staatsangehörigkeiten anstreben. Wer zum Beispiel als Kind libanesischer Eltern in Buenos Aires zur Welt gekommen ist, kann zugleich die argentinische Nationalität – auf Grundlage des ius soli – und die libanesische – kraft des ius sanguinis – beanspruchen. Ein in Beirut geborenes Kind argentinischer Eltern hingegen kann die libanesische Staatsangehörigkeit nicht erhalten. Manche Länder wie Aserbaidschan, die Zentralafrikanische Republik oder Japan lehnen die doppelte Staatsangehörigkeit strikt ab und bürgern Menschen, die die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes beantragt haben, kurzerhand aus.
Doppelstaatsbürger sind neuerdings beliebt
Über ein Jahrhundert lang haben die meisten Regierungen der Welt die doppelte Staatsangehörigkeit ihrer Bürger nach Möglichkeit verhindert. Der doppelte Treueid galt einst als Einfallstor für Verrat, Spionage und umstürzlerische Tätigkeiten. US-Präsident Theodore Roosevelt bezeichnete sie als eine „offensichtliche Widersinnigkeit“. Dieses Misstrauen war nicht zuletzt der geopolitischen Instabilität geschuldet. Wo sollten binationale Personen ihren Militärdienst leisten? Auf welcher Seite würden sie im Verteidigungsfall in den Krieg ziehen? Noch 1963 erklärte die Europäische Menschenrechtskonvention es zum Ziel, „die Fälle von Mehrstaatigkeit zu verringern“.
Inzwischen lässt fast die Hälfte der Länder den einst beargwöhnten Status des Doppelstaatsbürgers zu, dem die Fähigkeit zugesprochen wird, international Einfluss zu nehmen. „Die zweieinhalb Millionen aus dem Ausland stammenden Franzosen, von denen die Hälfte die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, bilden ein dichtes und vielfältiges Netz von Unternehmern, Projektleitern, Geschäftsleuten, Beratern und Lehrern, die für unseren Außenhandel und unsere ‚Soft Power‘ unverzichtbar sind“, schreibt etwa die französische Senatorin Joëlle Garriaud-Maylam.6
Die westlichen Einwanderungsländer spürten als Erste, dass sich der Wind zu drehen begann. Da das Phänomen ohnehin nicht zu verhindern war – kein Staat ist verpflichtet, einem anderen den Verlust oder den Erwerb der Nationalität einer Person mitzuteilen –, begannen sie die doppelte Staatsbürgerschaft anzuerkennen: Großbritannien 1949, Frankreich 1973, Kanada 1976 und so weiter. Afrika zog in den 1990er Jahren nach. Nach Erlangung der Unabhängigkeit hatten die neuen Staaten zunächst in einem klaren Bruch mit den Kolonialregimen die doppelte Staatsbürgerschaft verboten: Jeder sollte sich entweder zu dem neuen Staat oder zur alten Kolonialmacht bekennen.
Doch mit der innerafrikanischen und internationalen Migration veränderte sich die Situation. Aufgrund des Entscheidungszwangs riskierten die Auswanderungsländer, ihre Bürger an die Einwanderungsländer zu verlieren und die Verbindungen zu ihrer Diaspora zu kappen. Deshalb breitete sich die doppelte Staatsangehörigkeit nach und nach auf dem Kontinent aus, so dass die Länder, die sie akzeptieren (Angola, Benin, Burkina Faso, Dschibuti, Mali, Nigeria, Algerien) oder an eine ausdrückliche Genehmigung knüpfen (wie Ägypten oder Eritrea), inzwischen in der Mehrheit sind.7
Jahr für Jahr gaben weitere Länder ihren Kampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft auf: Schweiz 1992 (doppelte und mehrfache Staatsbürgerschaft), Deutschland 2000 (bis 2014 mit der Optionspflicht für Nicht-EU-Bürger, sich spätestens ab dem 23. Lebensjahr für ein Land entscheiden zu müssen), Belgien 2010, Haiti 2011, Niger 2012. Dieser weltweite Trend erklärt sich aus einer Vielzahl geopolitischer, ökonomischer und technologischer Faktoren, die über das Phänomen der Migration hinausreichen. Das Ende des Kalten Kriegs und die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit gingen mit einer Befriedung der zwischenstaatlichen Beziehungen einher: Mit der abnehmenden Kriegsgefahr verflog auch die Sorge um die Loyalität der Bürger – das Hauptargument gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.
Hinzu kommt, dass das Reisen und die Kommunikation schneller und billiger geworden sind. Anders als die Migranten des 19. Jahrhunderts, die die Verbindung zu ihren Landsleuten zu Hause kaum aufrechterhalten konnten, kommunizieren die Auswanderer des 21. Jahrhunderts täglich über Telefon und Internet mit ihren Familien. Sie besuchen sie in den Ferien oder kehren im Ruhestand wieder in ihr Geburtsland zurück. Die Beziehung zwischen den Migranten und ihrer Herkunftsnation ist enger geworden und damit ist auch das Interesse gewachsen, die ursprüngliche Nationalität zu behalten.
Der Jurist Peter Spiro von der Temple University in Philadelphia hält die doppelte Staatsbürgerschaft für „eine irreversible Folge der Globalisierung“8 , die US-Soziologin Saskia Sassen sieht sie als Instrument der „partiellen Entwertung der auf dem Nationalstaat gründenden Souveränität“9 . Doch in China, Japan, der Ukraine, dem Iran, Thailand, Myanmar, Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten existiert sie nach wie vor nicht. Andere Länder tolerieren sie nur in bestimmten Fällen. In Dänemark oder den Niederlanden ist sie nur für Flüchtlinge oder solche Einwanderer vorgesehen, deren Herkunftsländer die Aufgabe ihrer Staatsangehörigkeit verbieten.
Verbote oder Beschränkungen der doppelten Staatsbürgerschaft können sich in ein Hindernis für Einbürgerungen verwandeln. Von Deutschland bislang noch zur Aufgabe ihrer Staatsangehörigkeit gezwungen, verzichten viele der zwischen Rhein und Oder lebenden Türken auf die Einbürgerung, auch weil sie fast die gleichen Rechte wie die Einheimischen genießen. Deutschland verzeichnet daher eine der niedrigsten Einbürgerungsraten10 der westlichen Welt, hinter den USA, Australien, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Spanien und der Slowakei.11
Im Allgemeinen entscheiden zwei Kriterien darüber, wer eingebürgert werden kann: der frühere, gegenwärtige oder zukünftige Wohnort und der Ehestand, der in einigen Ländern die erforderliche Aufenthaltszeit verringert. Anders als die Herkunftsnationalität, die automatisch verliehen wird – bei Neugeborenen reicht es, wenn diese die entsprechenden Kriterien erfüllen –, ist der spätere Erwerb einer Staatsangehörigkeit zum Teil der puren Willkür unterworfen. In Frankreich zum Beispiel muss man, um einen Einbürgerungsantrag zu stellen, seit mehr als fünf Jahren im Land leben, Französisch beherrschen, über ausreichende Einkünfte verfügen und ein lupenreines polizeiliches Führungszeugnis besitzen. Hat man aber das Pech, Vietnamese zu sein, muss man damit rechnen, dass der Antrag abgelehnt wird – auch wenn man all diese Bedingungen erfüllt.
Über die Einbürgerungsregelungen nimmt der Staat Einfluss auf die Zusammensetzung der Bevölkerung. So ist die Zahl der Einbürgerungen in Frankreich zwischen 2010 und 2012 (bei unveränderter Qualität der Anträge) von 95 000 auf weniger als 50 000 zurückgegangen. Die Zahl ist deutlicher niedriger als in den USA (600 000 Einbürgerungen pro Jahr auf 300 Millionen Bürger), aber immer noch beträchtlich. Senegal, das 12,5 Millionen Einwohner zählt, hat in den vergangenen 50 Jahren nur 12 000 Ausländern seine Staatsangehörigkeit gewährt. Und in China waren den Volkszählungsdaten von 2000 zufolge von 1,2 Milliarden Staatsangehörigen gerade einmal 941 eingebürgert.
Viele westliche Länder, in denen die Einbürgerung als Zeichen gelungener Integration gilt, erleichtern diese durch entsprechende gesetzliche Regelungen. So ist die erforderliche Aufenthaltsdauer auf dem amerikanischen Kontinent ebenso wie in Europa eher niedrig angesetzt – zwei Jahre in Bolivien und Argentinien, drei in Uruguay, vier in Brasilien und Kanada, fünf in Peru, Chile, Mexiko und den USA. In Europa sind es in Bulgarien drei Jahre und in Belgien, Frankreich, Großbritannien oder Polen fünf Jahre. Deutschland setzt einen „rechtmäßigen Aufenthalt“ von immerhin acht Jahren voraus.
Die höchsten Anforderungen in Europa stellen Lichtenstein (30 Jahre), die Republik Andorra (25), die Schweiz (12) und Luxemburg (10). Außerhalb von Europa sind die Arabischen Emirate (30 Jahre), Katar (25) und das Sultanat Brunei (20) am strengsten. In diesen Ländern profitiert eine kleine Minderheit vom großen nationalen Reichtum – Petrodollars, Erdgas oder einem Niedrigsteuersystem –, den sie nur ungern teilen würden.
In Katar waren 2013 beispielsweise 80 Prozent der insgesamt 1,9 Millionen Einwohner des Landes Ausländer, die zum größten Teil aus Bangladesch, Indien, dem Iran und dem Irak stammen. Die Ausländer werden strikt auf Abstand von der nationalen Gemeinschaft gehalten und haben weder ein Anrecht auf die Erdgaseinnahmen des Landes noch auf den Mindestlohn. Sie dürfen sich nicht gewerkschaftlich organisieren und ihre Arbeitserlaubnis kann jederzeit aufgehoben werden. Die kleine Golfmonarchie hat keinerlei Interesse daran, die Immigranten einzubürgern. Die Staatsangehörigkeit wird nur an ausgewählte Ausländer verliehen, die dem Land einen „Dienst“ geleistet haben oder leisten könnten. So wurde der somalische Mittel- und Langstreckenläufer Mohamed Suleiman 1992 zum ersten Katarer, der eine olympische Medaille gewann, der zu Said Saif Asaad umgetaufte bulgarische Gewichtheber Angel Popow holte die zweite.
Aufgrund von besonderen sprachlichen, historischen, kulturellen oder ethnischen Verbindungen und um eine Homogenität ihrer Bevölkerungen sicherzustellen, gewähren manche Länder anderen Staaten Vorzugsbehandlungen. In den Arabischen Emiraten beispielsweise können Immigranten aus Katar oder Dubai schon nach drei Jahren die Staatsangehörigkeit erlangen, während es bei Einwanderern aus anderen arabischen Ländern sieben, bei solchen aus Staaten jenseits der arabischen Welt 30 Jahre sind. Auch Bahrain unterscheidet zwischen „Nichtarabern“ (25 Jahre) und „Arabern“ (15).12 In Israel werden grundsätzlich Juden bevorzugt: Aufgrund des „Rückkehrrechts“ kann sich jeder Angehörige dieser Religionsgemeinschaft im Land niederlassen und die Staatsangehörigkeit erlangen, wenn er die Absicht erklärt, bleiben zu wollen.
Einige europäische Staaten begünstigen im Rahmen einer sogenannten erleichterten Einbürgerung ebenfalls bestimmte Nationalitäten. Dank eines 1969 unterzeichneten Abkommens haben Island, Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland untereinander ihr eigenes System entwickelt. So muss ein finnischer Einwanderer nur zwei Jahre in Dänemark gelebt haben, um dänischer Staatsbürger werden zu können. Bei Immigranten aus anderen Staaten hingegen sind es sieben Jahre. Spanien sieht Sonderbedingungen für lateinamerikanische, portugiesische, philippinische und andorranische Staatsangehörige sowie die Nachkommen sephardischer Juden vor (zwei Jahre Aufenthalt anstelle von zehn). Frankreich bevorzugt die Bürger aus ihren ehemaligen Kolonien, die vor deren Unabhängigkeit geboren sind, sowie deren Kinder.
Ethnische Präferenzen kommen manchmal nur indirekt zum Ausdruck. Während des gesamten 20. Jahrhunderts kam es in den meisten asiatischen Ländern zu starken Auswanderungsbewegungen: Japaner wanderten nach Brasilien aus, Koreaner nach China, Vietnamesen nach Frankreich und so weiter. Ihre Nachkommen haben – aufgrund von Einbürgerungen, binationaler Ehen und des Geburtsortprinzips – schließlich andere Nationalitäten angenommen. Seit den 1980er Jahren versucht die Mehrzahl dieser Länder ihre im Ausland lebenden „ethnischen Gemeinschaften“ zur Rückkehr zu bewegen, indem sie ihnen problemlos Aufenthaltsgenehmigungen erteilen, welche dann wiederum nach einiger Zeit den Weg zur Einbürgerung ebnen.
Österreicher werden mit 4 Millionen Euro
Und doch sind nicht alle Pässe gleich. Ein New Yorker Unternehmer, der schnell zu einem Geschäftspartner nach Paris reisen muss, um einen Vertrag abzuschließen, braucht dafür nicht mehr als zwölf Stunden einzuplanen – und ist damit im Vorteil gegenüber seinem Konkurrenten aus Botswana, der einen Visumsantrag stellen, Bearbeitungsgebühren bezahlen und sich mehrere Tage gedulden muss, bis er – wenn er Glück hat – den kostbaren Sesam-öffne-dich erhält.
Anstatt sich selbst mit dem Papierkram herumzuschlagen, kann er sich allerdings auch an eine auf „Staatsbürgerschaftsplanung“ (citizenship planning) spezialisierte Kanzlei wenden, die ihm zu einem zweiten Pass verhilft. „Wir erledigen die Behördengänge in ihrem Auftrag schnell und effizient“, preist sich die Kanzlei Henley & Partners an, einer der Pioniere auf diesem Feld.
Neben dem ius soli und dem ius sanguinis kommt bisweilen auch das ungeschriebene ius pecuniae zur Anwendung, das den Reichen aus dem globalen Süden über das Unglück ihrer Geburt hinweghilft. Gut betuchten Kunden, die von der Reisefreiheit in der EU profitieren wollen, kann Henley & Partners eine sehr einfache Lösung anbieten: So gewährt etwa Österreich im Rahmen des Programms „Staatsangehörigkeit gegen Investitionen“ jeder Person, die mehr als 4 Millionen Euro im Land anlegt, innerhalb von 18 Monaten die Staatsbürgerschaft.13 Im Gegensatz zu gewöhnlichen Einwanderern müssen reiche Antragsteller keinerlei Nachweise erbringen, dass sie seit mindestens zehn Jahren in Österreich wohnen, Deutsch sprechen und ihre frühere Staatsangehörigkeit aufgegeben haben.
Vom österreichischen Modell inspiriert und mit Verweis auf die Krise modifizieren immer mehr EU-Länder ihre Gesetzgebung, um ausländischen Investoren Aufenthaltstitel zu gewähren. Jeder Staat hat seinen eigenen Tarif, in Ungarn sind es 250 000 Euro, in Griechenland 300 000, Italien verlangt 500 000, Portugal eine Million und die Niederlande 1,25 Millionen.14 Nach einigen Jahren können sich die reichen Migranten dann um die Staatsangehörigkeit des Landes ihrer Wahl bemühen. Ihrem Antrag wird eine wohlwollende Prüfung gewiss sein.