CIA im rechtsfreien Luftraum über Europa
von Giulietto Chiesa
Vor vier Jahren wurde in den europäischen Medien heftig über die These des US-amerikanischen Politologen Robert Kagan diskutiert. Mit seiner Theorie von der Spaltung des Westens in Mars und Venus, in ein machtorientiertes Amerika und ein pazifistisch schwächelndes Europa, schrieb Kagan im selbstgewissen Ton der amerikanischen Neokonservativen den Europäern ins Stammbuch, sie würden sich, indem sie an den alten „liberalen“ Werten des Rechtsstaats festhalten, „außerhalb der Geschichte“ stellen.
Kagan sprach als „Revolutionär“, denn als solche verstehen sich die Verfechter des „Projekts für ein neues amerikanisches Jahrhundert“ gegenüber den Vertretern des „alten Europa“, wie Donald Rumsfeld sie abschätzig genannt hat. Die einzige Supermacht, die auf unserem Planeten existiert, ist nicht mehr bereit, sich von allgemein anerkannten Regeln binden zu lassen. Sie will vielmehr ein neues System von Regeln durchsetzen, die von einem einzigen Machtzentrum diktiert werden. Der Beginn dieser „imperialen Revolution“ datiert vom 11. September 2001.
In den letzten Monaten hatte ich als Mitglied des „Nichtständigen Ausschusses des Europäischen Parlaments (EP) zur behaupteten Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen“1 häufig in Washington zu tun. Dort bekommen die europäischen Besucher ständig zu hören, der 11. September habe die Änderung der in der Welt geltenden Regeln unumgänglich gemacht. Nach den Worten Dan Frieds, des Leiters der Europaabteilung im State Department, stehen die USA vor einer „nie gekannten Bedrohung“. Deshalb müsse jedermann zur Kenntnis nehmen, dass das geltende Rechtssystem „mit der bis dato unbekannten Kampfform, die dieser Krieg mit sich bringt, unvereinbar ist“2 .
Unsere Delegation wurde immer wieder darauf verwiesen, wie sehr sich die öffentliche Diskussion in Europa grundsätzlich von der in den USA unterscheide: In Europa gehe man davon aus, dass auch ein mutmaßlicher Terrorist das Recht auf ein geregeltes Verfahren und einen Anwalt habe. Für die Mehrheit der US-Bürger dagegen habe die Sicherheit absolute Priorität.
In Europa wird Folter zweifellos als illegal erachtet, denn sie ist durch nichts zu rechtfertigen und im Übrigen für die Ermittlungen nutzlos. In den USA läuft die öffentliche Debatte, selbst in den anspruchsvollen Massenmedien, ganz anders. Einflussreiche Autoren formulierten haarspalterische Argumente und Differenzierungen, um Folter unter „bestimmten Umständen“ zu rechtfertigen. Auf derselben Linie behaupteten Mitglieder der Regierung wie Rumsfeld und Cheney, aber auch hohe Beamte verschiedener Ministerien, die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte sei „unakzeptabel“, wenn es sich um mutmaßliche Terroristen handle. Konservative Juristen – unter ihnen der heutige Justizminister Alberto Gonzáles – entwickelten neue Kategorien wie die des „feindlichen Kämpfers“, dem als „Komplizen des Terrorismus“ keinerlei Rechte zustehen, auch dann nicht, wenn ihm diese durch völkerrechtliche Konventionen garantiert sind.
Manche Rechtsbrüche gelten US-Politikern als legitim
Diese Auffassung hat inzwischen der Supreme Court mit seiner Entscheidung vom 7. Juli 2006 verworfen. Dem wird sich auch das Pentagon fügen müssen, das noch bis vor kurzem die Gefangenenlager von Guantánamo Bay und die Praxis der „extraordinary renditions“ (Verschleppung in – der Folter verdächtige – Drittstaaten)3 als rechtmäßig verteidigt hat.
Auch der Demokrat Robert Wexler, Abgeordneter aus Florida im US-Repräsentantenhaus, wendet sich unwirsch gegen die These, die „extraordinary renditions“ seien als staatlicher Terrorakte anzusehen: „Auch wenn wir illegale Dinge tun, wenn wir Gewalt anwenden – und ich weiß, dass es sich manchmal um schreckliche Dinge handelt –, kann man uns keineswegs auf dieselbe Stufe stellen wie Terroristen.“
Hier wird die Tendenz deutlich, Abu Ghraib, Folter, außergerichtliche Verschleppungen und andere Verstöße gegen die Menschenrechte als Arbeitsunfälle oder mindere Kollateralschäden zu definieren. Und die sollen auf keinen Fall gerichtlich verfolgt werden; andernfalls wäre der Spielraum für die Frontkämpfer gegen den internationalen Terrorismus ungebührlich eingeengt.
Als Präsident Bush am 13. November 2001 die militärischen Sondergerichte autorisierte, schrieb der erzkonservative Kolumnist William Safire, damit habe der Präsident „diktatorische Vollmachten“ erhalten.4 Diese Militärsondergerichte können aufgrund von Informationen, über die der Präsident der USA verfügt, über Ausländer richten, die direkt oder indirekt an Operationen teilgenommen haben, die sich gegen die USA richten oder die ökonomischen und politischen Interessen der USA erheblich beeinträchtigen.
Dabei muss die Schuld des Verhafteten nicht bewiesen werden, und die Habeas-Corpus-Klausel ist außer Kraft gesetzt. Die Anklagepunkte müssen dem Angeklagten nicht mitgeteilt und dem Angeklagten kann ein rechtlicher Beistand verweigert werden. Das Gericht muss nicht öffentlich tagen und kann Beweise und Geständnisse benutzen, die in normalen Gerichtsverfahren nicht verwertbar wären, weil sie etwa unter Folter erzwungen wurden. Das Gericht kann die Todesstrafe auch dann verhängen, wenn es nicht „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus“ von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist. Ein Todesurteil kann mit Zweidrittelmehrheit gefällt werden, muss also nicht einstimmig ausfallen wie bei einem regulären Gericht, und schließlich hat der Angeklagte keine Berufungsmöglichkeit.
Nachdem der Supreme Court am 29. Juni diese Militärgerichte für illegal erklärt hat, muss die Regierung zusammen mit dem Kongress einen neuen rechtlichen Rahmen für diese „Sondergerichte“ finden.
Was die Geheimgefängnisse betrifft, so wissen wir, dass neben denen außerhalb Europas (in Afghanistan, Syrien, Marokko, Ägypten usw.) noch weitere an unbekannten Orten existieren. Unbekannt ist etwa der Ort, an dem seit 2003 Chalid Scheich Mohammed und Ramsi Binalshibh inhaftiert sind, die mutmaßlichen Organisatoren der Anschläge des 11. September.5
Die Haltung der Vereinigten Staaten ist ohne einen Blick auf die Nato-Verträge nicht zu verstehen. Am 4. Oktober 2001 forderte Washington in Brüssel, als Antwort auf den 11. September den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikpakts zu erklären.6 Dieser war im Jahr 1999 in Washington so umformuliert worden, dass sich die Nato heute als eine „Präventions“-Allianz definiert, deren Aktionsradius über die Mitgliedsstaaten hinaus die ganze Erde umfasst.
Im Oktober 2001 machten die europäischen Nato-Partner den USA weitgehende Zusagen im „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“, deren genauer Wortlaut bis heute nicht bekannt ist.7 Diese Zusagen bezogen sich unter anderem auf die Überlassung von mehr Informationsdaten sowohl bilateral als auch im Nato-Rahmen, die Bereitstellung bestimmter Transportmittel, die für die „direkte Unterstützung der Operationen gegen den Terrorismus gebraucht werden“, eine generelle Überflugerlaubnis für Maschinen der USA und anderer Bündnispartner „im Zusammenhang mit Operationen gegen den Terrorismus entsprechend den Abkommen für den Luftverkehr und den nationalen Verfahrensregeln“ und „die Gewährung des Zugangs zu Häfen und Flughäfen für die USA und die anderen Alliierten, insbesondere zum Zweck der Betankung“.
Mit diesem Dokument haben jene Mitgliedsländer der Europäischen Union, die zugleich Nato-Mitglieder sind, den USA von vornherein all die Zugeständnisse gemacht, die in den späteren Untersuchungen über die Geheimgefängnisse und die rechtswidrigen Flüge der CIA in Europa und anderswo ans Licht kamen.
Aus dem Bericht von Dick Marty für den Europarat und aus den Untersuchungen des erwähnten CIA-Sonderausschusses geht eindeutig hervor, dass die europäischen Staaten nicht etwa „Opfer US-amerikanischer Machenschaften“ waren, sondern in unterschiedlichem Ausmaß „freiwillig mitgemacht haben“. Das ist der eigentliche Grund, warum die europäischen Regierungen und die EU-Behörden unter verschiedenen Vorwänden ihre Kooperation bei den Untersuchungen des Europarats verweigert oder wenig glaubwürdige Dementis abgegeben haben. Das gilt zumal für die Regierungen von Polen und von Rumänien, die besonders im Verdacht stehen, an geheimen Orten auf ihrem Territorium Gefangene untergebracht zu haben, die von der CIA aus verschiedenen Ländern verschleppt worden sind.
Einer Weiterführung der Untersuchung widersetzten sich im Europäischen Parlamente vor allem Teile der rechten Fraktion, und hier vor allem Abgeordnete aus Polen, den baltischen Staaten, Großbritannien und Deutschland. Sie behaupten, die beiden Ausschüsse des Europarats und des Europaparlaments hätten bis jetzt keinerlei unwiderlegbare Beweise für die Verwicklung der Regierungen (oder anderer nationaler Behörden) in die „extraordinary renditions“ präsentiert. Einige Abgeordnete gingen sogar so weit, den USA für ihren „großen Beitrag“ zur Sicherheit Europas zu danken.
Beweise für 30 Entführungsfälle liegen bereits vor
Der nichtständige Ausschuss des EP hat diese Position allerdings zurückgewiesen und mit einer Mehrheit von 25 (von Sozialisten, Liberaldemokraten und Grünen) zu 14 Stimmen bei 7 Enthaltungen die Verlängerung der Untersuchungsarbeit um weitere sechs Monate beschlossen.
Die Arbeit des Ausschusses ist schon jetzt weit über bloße Vermutungen und Indizien hinausgekommen. Zum Beispiel sind 1 080 Flüge der CIA zwischen dem 11. September 2001 und Ende 2005 von europäischen Flugplätzen aus genau dokumentiert. Und es gibt klare Beweise dafür, dass die illegalen Transporte über vierzehn Länder gelaufen sind, darunter Deutschland, Schweden, Italien, Belgien und Spanien. Zwei Länder (Polen und Rumänien) hatten – für einen noch nicht eindeutig geklärten Zeitraum – illegale Gefängnisse für mutmaßliche Terroristen zur Verfügung gestellt. Bei alledem handelt es sich um Verstöße gegen Artikel 6 des EU-Vertrags und gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte.
Für mindestens dreißig Entführungsfälle mit anschließender „rendition“ liegen inzwischen Beweise vor. Nur in einem einzigen Fall hat die (italienische) Staatsanwaltschaft vollständige Ermittlungen durchgeführt, wobei gegen 22 CIA-Agenten, die in Mailand den Imam Abu Omar nach Ägypten entführt haben, Haftbefehl erlassen wurde. Auch in diesem Fall bleibt freilich noch zu klären, bis zu welchem Grad die Regierung in Rom beteiligt war.
Die Zeugenaussagen der Entführten, der Gefolterten, ihrer Anwälte und zahlreicher Vertreter von NGOs und nicht zuletzt von hohen europäischen und US-Beamten haben dazu beigetragen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Das gilt für die Deportation der beiden Ägypter Mohammed al-Zary und Ahmed Giza aus Schweden nach Ägypten wie für Abu Omar und Maher Arar, einen kanadischen Staatsbürger, der in New York verhaftet, über den römischen Flughafen Ciampino nach Amman geschafft und dann zehn Monate lang in einem syrischen Gefängnis gefoltert wurde. Es gilt auch für den deutschen Staatsbürger Khaled El Masri, der in Mazedonien festgenommen und dann nach Afghanistan verschleppt wurde, wo er ebenfalls gefoltert wurde.
Die Untersuchungen gehen weiter. Eines aber ist jetzt schon sicher: Viele europäische Regierungen haben sich hinter dem Rücken ihrer Wähler wie Satellitenstaaten der USA verhalten. So weit ist es gekommen: Wir sind wieder zurück in der Zeit der „begrenzten Souveränität“, nur dass der Boss heute nicht Leonid Breschnew heißt, sondern George W. Bush.