Nomaden der Gemüsefelder
Die Landwirtschaft im Libanon beschäftigt vor allem Saisonarbeiter aus Syrien von Lucile Garçon und Rami Zurayk
Kaum steigt die Sonne über die Kämme des Antilibanon, geben in den behelfsmäßigen Lagern in der Bekaa-Ebene wie jeden Morgen die Sirenen das Signal zum Aufbruch. Männer, Frauen und Kinder strömen aus den Zelten und klettern mit ihren Proviantsäcken voll mit Brot, Käse und gekochten Kartoffeln auf die Ladeflächen der Pick-ups. Unter das lange, abgetragene Gewand haben sie mehrere Schichten Kleidung gezogen, auf dem Kopf tragen sie die Kufiya, die traditionelle Kopfbekleidung der Fellachen und Beduinen in der Levante und im Bekaa-Tal. Wie ihre Vorfahren leben sie von den Früchten der Erde. Aber sie sind Nomaden eines anderen, neuen Typs.
Im zwischen den beiden Gebirgszügen eingebetteten Schwemmland der Bekaa-Ebene, die mehr als 40 Prozent des libanesischen Staatsgebiets ausmacht und seit der Antike als fruchtbare Kornkammer galt, wird gegenwärtig hauptsächlich Obst und Gemüse angebaut. Eine eigene staatliche Agrarpolitik gibt es nicht; stattdessen bemüht sich der Staat, einen privaten Wirtschaftssektor zu fördern, der Investoren anlockt und auf Exporte abzielt, vor allem mit Blick auf Jordanien und die Golfstaaten.
Diese Strategie führte zu einem großflächigen Gemüseanbau mit den Methoden der intensiven Landwirtschaft. Der Wechsel der Jahreszeiten spielt bei dieser Produktionsweise praktisch keine Rolle mehr, die Tomaten wachsen sommers wie winters im Gewächshaus. Seit den 1980er Jahren schießen mit Frühjahrsbeginn stattdessen Zelte aus dem Boden, deren Wände nicht aus den traditionellen gegerbten Häuten, sondern aus zusammengenähten Jutesäcken und Plastikplanen bestehen, recycelte Werbeträger, auf denen die Logos von Kaffeeröstern mit Werbesprüchen für Textilmarken konkurrieren. Schon seit Generationen kommen die Syrer über den Antilibanon herüber. Während sie früher aber kamen, um im Bekaa-Tal ihr Vieh zu weiden, sind Herdenwanderungen heute kein Thema mehr: In einem durch und durch monetarisierten und im Kräftespiel der internationalen Konkurrenz gefangenen Wirtschaftssystem erzwingen heute der Geldbedarf der vielen Einzelnen und die Sorge der Unternehmen um Wettbewerbsfähigkeit die Migration.
Die Logik des Wettbewerbsvorteils, die früher zum Beispiel die Textilindustrie bewog, ihre Fabriken aus den Vereinigten Staaten und Europa nach Asien auszulagern, trifft heute auch landwirtschaftliche Unternehmen. Sie importieren Arbeitskräfte aus Ländern, die arm an Kapital, aber reich an Arbeitskraft sind.1 Zwischen Syrien und dem Libanon funktionieren die Gesetze des zwischenstaatlichen Handels bemerkenswert hürdenfrei.2 Ihre räumliche Nähe und die ungewöhnliche Durchlässigkeit der gemeinsamen Grenze, eine künstliche koloniale Erfindung der 1920er Jahre, erleichtern die Zirkulation von Arbeitskräften, die wenig kosten und von der Lebensmittelindustrie nach Belieben aus Lagern rekrutiert werden.
Niemand singt mehr Erntelieder
Wie in Europa, wo der „gesetzliche Mindestlohn für Ausländer einen Höchstlohn darstellt“3 , ist das, was ein Landarbeiter im Libanon verdienen kann, aus syrischer Sicht ein sehr attraktives Einkommen: In der Bekaa-Ebene ist der Lohn für einen nach Mindesttarif bezahlten Arbeitstag viermal so hoch wie in Raqqa.4 Die Syrer, die mit der ganzen Familie kommen, leben in Lagern mit etlichen hundert Bewohnern. Manche bleiben ein paar Monate, andere viele Jahre – so lange, bis man das Geld beisammen hat, um ein Heim zu gründen, ein Unternehmen auf die Beine zu stellen, Ackerland zu kaufen oder für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen, während die Söhne den zweijährigen Militärdienst ableisten.
Die Syrer werden meist als ungelernte Arbeiter beschäftigt; und in der Lebensmittelindustrie wechseln zwar die jeweils anfallenden Arbeiten von Tag zu Tag, aber deren Charakter bleibt sich mehr oder weniger gleich: Ob Wein, Oliven oder Gurken – man bückt sich und pflückt oder liest auf. Die Bewegungen sind nicht abwechslungsreicher als in der Fabrik: Entladen eines Lastwagens, Eindosen, Verpacken in Kartons, Beladen des Lastwagens. Im Herbst wie im Frühjahr zieht man die gleichen Gummihandschuhe an, um Erbsen zu pflücken oder die Erde von den Zwiebeln zu wischen, und man trägt die Kufiya, um sich vor der Sonne und den Pestiziden zu schützen. Naifa, eine 52-jährige Arbeiterin, klagt über die Eintönigkeit. Man kann nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache sein. „Es gibt so viele Lieder, vor allem Erntelieder, aber dass heute noch jemand singt, kann man sich kaum noch vorstellen.“ Statt der traditionellen Gesänge tönt heute die Musik aus dem Fernseher und dem Handy.
Im November werden im Bekaa-Tal die Kartoffeln geerntet, und das muss schnell gehen. Ein Landwirt ruft an und fordert Arbeiter für seine drei Hektar Land an. Daraufhin lädt ein „Schawisch“ 70 Leute auf den Anhänger seines Pick-ups. Der Landwirt hat sich zwei Traktoren geliehen, deren Eigentümer seine Lastwagen kommen lässt und die Arbeiter zur Verfügung stellt. Schawische, meist Syrer, sind Mittelsmänner, die Makler dieses Arbeitsmarkts, um die man nicht herumkommt, wenn die Ernte eine umfangreiche oder auch sehr rasche Mobilisierung verlangt. Papiere braucht es dafür nicht: Ein Fahrzeug und ein Mobiltelefon mit den Kontaktdaten der Eigentümer reichen. Den Arbeitern garantiert der Schawisch den Einsatz und einen Platz zum Leben, den Arbeitgebern hingegen eine interessante Rendite, indem er die Kosten für etwaige Arbeitsunfälle trägt und für gute Tagesleistungen sorgt.
Abu Tamer, Schawisch seit rund 15 Jahren, bietet dank rationeller Arbeitsteilung maximale Effizienz. Die Ernte im eigentlichen Sinn erledigen die Frauen: Sie folgen den Ackerfurchen und sammeln die Kartoffeln in ihr zu einem Sack geschürztes Kleid. Die Männer kontrollieren: Sie achten darauf, dass die Frauen keine Zeit und keine Frucht verlieren. Dieselbe Verteilung bei den Kindern: Die Mädchen füllen die Produkte in Plastiksäcke, während die Jungen mit Nadel und Faden die Reihen ablaufen und sie mit ein paar Stichen zunähen.
Manche Arbeitgeber, die ihre Leute selbst anwerben, setzen zur Produktionssteigerung auf die Stückzahlen. Bei Mandeln zum Beispiel wird pro Steige gezahlt. In den Verpackungsbetrieben oder Kühlhallen, von denen aus die Erzeugnisse nach Jordanien und in die Golfstaaten exportiert werden, berechnet sich der Lohn für die Arbeit nach der Menge der auf die Lastwagen verladenen Ware: Bei Ali Fayyad Tarschischi, einem weithin bekannten Kartoffelhändler im Bekaa-Tal, ist eine Tonne Gemüse einen Dollar wert.
In der Tabakherstellung wird der Lohn pro Schnur der aufgefädelten getrockneten Blätter berechnet. Nach den Stunden, die es dauert, die Blätter einzeln zu pflücken, nehmen die Arbeiter sie in Kisten mit nach Hause und lassen sie trocknen. Die ganze Familie wird eingespannt, um sie aufzufädeln. Als die Arbeit vorbei ist und man auf die Ankunft des Grundbesitzers wartet, gibt ein Vater in Tarayya seinem jüngsten, fünfjährigen Kind Geld für seine Küsse; die älteren Kinder werden für ihre Geschicklichkeit entlohnt. Für die Münze bekommt man im Laden eine Tüte Chips.
An einem zehnstündigen Arbeitstag mit lediglich einer halbstündigen – unbezahlten – Mittagspause verdient man selten mehr als 8 000 Libanesische Pfund (LBP), das sind etwa 4 Euro. Die Landwirte im Bekaa-Tal zahlen rund 10 000 LBP pro Person, das ist weniger als der Durchschnittsverdienst im Süden des Landes, der 25 000 LBP beträgt. Zudem zahlen sie den Arbeitslohn an den Schawisch aus, der wiederum von jedem einzelnen Tagesverdienst 1 500 bis 2 000 LPB einbehält. Manche Arbeiter bekommen gar nichts, weil sie eine beim Schawisch aufgelaufene persönliche oder familiäre Schuld abtragen müssen. Rad und seine Angehörigen beispielsweise zahlen die Operation der Mutter, die im vergangenen Jahr im Krankenhaus von Damaskus war, mit monatelanger Arbeit ab: 1,5 Millionen Syrische Pfund (24 000 Euro) für einen Bandscheibenvorfall. Sobald die aus Syrien mitgebrachten Reserven aufgezehrt sind, müssen die Arbeiter bei den lokalen Lebensmittelhändlern so lange anschreiben lassen, bis ihnen ihr Lohn ausgezahlt wird.
Herdfeuer mit Plastik und alten Schuhen
Wenn gegen 15 oder 16 Uhr das Tagwerk der Warscheh (Arbeitsgruppe) beendet ist und die Jungen die letzten Säcke verschließen, wird den Frauen erlaubt, die zu kleinen, beschädigten oder vom Traktor zerstückelten Kartoffeln aufzuklauben, die dann im Lager gekocht werden: auf einem Feuer aus Plastik, alten Schuhen und leeren Joghurtbechern vom Straßenrand, denn in der ganzen Umgegend findet sich kein Feuerholz. Anschließend wird, sofern vorhanden, Wasser zum Duschen und Wäschewaschen erhitzt. Die Bewohner entrichten eine Jahresgebühr an den Schawisch, der die Bodenpacht für das Lager an den Grundbesitzer abführt, Dieselöl für den Generator kauft und die Wasserversorgung sicherstellt.
In Hillaniyeh, wo es keinen einzigen Brunnen gibt, sorgt der Schawisch leider nicht immer dafür, dass die Zisterne in der Mitte des Lagers gefüllt ist, und nachdem er letzten Monat nach Syrien gefahren ist, wettern die Arbeiter: „Er kann sich solche Reisen hin und zurück leisten, ist ja klar, oder?“ Die übergeordnete Stellung des Schawisch in der Hierarchie lässt sich ebenso an seinem Leibesumfang ablesen wie an dem Kitsch, der sein Zelt schmückt, und dessen gehobener Ausstattung: Hifi-Anlage, Satellitenfernseher und Wasserpfeifen. Fawaz und seine Brüder, die sich die 30 Euro für die Reise nicht leisten können, bewachen das Zelt, solange er fort ist.
Die gewöhnlichen Zelte bestehen aus zwei Räumen ohne Fenster, mit Nylonmatten auf dem blanken Erdboden, insgesamt nicht einmal 20 Quadratmeter groß. Den Abort draußen verhüllen alte Teppiche, eine enge Kabine um ein Loch im Boden, das von einer Keramikschüssel bedeckt wird. Wenn das Loch voll ist, wird ein neues an anderer Stelle gegraben. Zwischen den Zelten bleiben manchmal Tierkadaver tagelang liegen, der Müll wird einfach an den Rand der Siedlung gekippt. Nicht nur ist die Unterbringung unwürdig, die Lager sind auch überbelegt, was zwangsläufig zu Spannungen führt. Die ohnehin vielköpfigen Familien wachsen mit den Neuankömmlingen von zu Hause, an die 20 Menschen leben dann unter ein und demselben Zeltdach – das heißt, am Beginn des Frühlings jede Hoffnung auf Intimität zu begraben. Auch wenn Erfindergeist hier und da den Alltag verbessert, herrschen generell beklagenswerte Lebensbedingungen, weit unterhalb des von den Vereinten Nationen festgelegten Mindeststandards.5
Havra, seit 1984 in Ali Nahri ansässig, spricht indes über das Lager wie über ein kleines Paradies: „Es fehlt uns hier doch an nichts!“ Zwei Läden importieren die Waren für den nötigsten Bedarf billig aus Syrien. Sie seien arm, doch man könne immerhin Ziegen und Hühner halten. Wenn man sich mit den Landwirten einigt, darf man nach der Ernte auf den Feldern Schafe weiden lassen und Wiesenchampignons sammeln. Man frisiert sich vor einem zerbrochenen Rückspiegel und isst an einem umgedrehten Düngereimer, aber „kennen Sie viele Leute, die zum Frühstück Kaffee mit Ziegenmilch trinken können?“ In den meisten Lagern besteht die Ernährung allerdings vorwiegend aus Brot – in Taybe zählt der Schawisch täglich vier Säcke für eine zehnköpfige Familie ab – und Kartoffeln: Meschuyeh, mit Zwiebeln zu batata masluqa verarbeitet oder auch zu Kischk-Suppe, die man sogar zum Frühstück isst.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der UN zählt den Beruf des Landarbeiters zu den „3D jobs“: „disgusting, degrading, dangerous“ – ekelhaft, entwürdigend und gefährlich. Zu einem Besuch im Lager gehören unweigerlich auch die Zelte der Opfer: des Mannes, dem ein Traktor den Fuß abgerissen hat, der Frau, der von einem Mulchgerät die Schulter zerfetzt wurde. Ein erhebliches Risiko ist zudem der weitgehend ungeschützte Kontakt mit giftigen Chemikalien, die Hautkrankheiten und Atembeschwerden verursachen. Darüber hinaus zieht die unnatürliche Körperhaltung, zu der die Erntetätigkeiten zwingen, Muskel-Skelett-Erkrankungen nach sich, vor allem bei Frauen, die sich am meisten hocken, knien und bücken müssen. Sie leiden unter Rücken- und Knieschmerzen und wegen der immergleichen Bewegungen unter Sehnenscheidenentzündungen in den Händen.6
So etwas wie Urlaub gibt es nicht: Zwar erlaubt der Ramadan eine gewisse Lockerung des Tagesablaufs, aber Feiertage sind im Kalender der modernen Landwirtschaft nicht vorgesehen. Sogar an Aid, dem Festtag des Fastenbrechens, lässt der Besitzer der Tabakfelder seine Gäste allein, um die Kinder von Abu Hussein, der seit gut 20 Jahren in Tarayya wohnt, zur Arbeit zu fahren.
Manche Männer denken daran, fortzugehen, nach Beirut oder vielleicht nach Zypern, und sich Arbeit auf dem Bau oder irgendetwas anderes zu suchen; andere hegen den ehrgeizigen Traum, die Feldarbeit eines Tages hinter sich zu lassen und selbst Schawisch oder Händler zu werden. Ali zum Beispiel zahlt seit zwei Jahren zusätzliche Miete für ein Extrazelt und lagert darin Kartoffeln, die er in der Erntezeit billig ersteht. Wenn die Preise am höchsten sind, vertreibt er mit zwei Geschäftspartnern Saatkartoffeln; die größeren Kartoffeln lässt er außerhalb der Saison von den Frauen am Straßenrand verkaufen. Trotz bislang negativer Bilanz gibt er die Hoffnung nicht auf, demnächst als Geschäftsmann zu reüssieren.
Verglichen mit anderen Agrarregionen der Welt scheint der Industrialisierungsgrad der Bekaa-Ebene geradezu lachhaft; dasselbe gilt für die Produktivität: Während etwa in der andalusischen Ebene die Folienfelder auf einer Fläche von 32 000 Hektar jedes Jahr 3 Millionen Tonnen Obst und Gemüse für multinationale Konzerne produzieren, liefern die 300 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in der Bekaa-Ebene nur knapp eine Million Tonnen. Die Lage der Arbeiter ist darum aber nicht beneidenswerter: Sie müssen nicht nur die gleichen Härten hinnehmen wie rumänische Arbeiter in Griechenland, Uiguren auf den chinesischen Baumwollfeldern und Afrikaner in Italien, sie sind darüber hinaus noch Zielscheibe eines Hasses, der von der sensiblen geopolitischen Lage geschürt wird. Neben dem ethnischen Ressentiment von Leuten, die zwar am liebsten keine Syrer einstellen würden, weil sie „das Gesicht des Libanon verändern“, es dann aber doch tun, denn „Syrer sind eben billig“, sind sie Gegenstand einer besonderen Feindseligkeit: Seitdem Damaskus 2005 seine Truppen abgezogen hat, werden Syrer wiederholt Opfer von Attentaten im Libanon – wie im Dezember 2009, als in Deir al-Ahmar im Norden des Libanon ein Bus mit 25 syrischen Arbeitern beschossen und ein 17-Jähriger getötet wurde.
Aus dem Französischen von Barbara Schaden
Lucile Garçon ist Forschungsingenieurin für nachhaltige Entwicklung und Landwirtschaft. Rami Zurayk ist Professor und stellvertretender Dekan der Fakultät für Landwirtschaft und Ernährungswissenschaft an der Amerikanischen Universität von Beirut.