Fünfjähriger in Handschellen
An New Yorker Schulen wird die Polizei zum Hausherrn von Chase Madar
Die letzten zwanzig Jahre haben die USA mit dem Versuch, den Sicherheitsproblemen an Schulen mit polizeilichen Maßnahmen beizukommen, ausreichend Erfahrungen gesammelt: New York City mit dem größten Schulsystem des Landes und fast 1,1 Millionen Schülerinnen und Schülern ist ein lehrreiches Beispiel für das groteske Versagen einer Politik der „harten Hand“.
1998 verlagerte die Stadtverwaltung die Verantwortung für die Sicherheit von der Schulbehörde zur New Yorker Polizei, das heißt, gegenüber den mittlerweile rund 4 500 Sicherheitsbeauftragten sind nicht die Direktoren an den betroffenen Schulen weisungsbefugt, sondern ausschließlich das New York Police Department. Diese Maßnahme trug zur Aura der Unerbittlichkeit des damaligen Bürgermeisters Rudy Giuliani bei, und auch der gegenwärtige Bürgermeister, Mike Bloomberg, poliert damit gern sein Image als Verfechter von Recht und Ordnung auf.
Seit die New Yorker Polizei für die Schulsicherheit zuständig ist, vermelden Polizei und Schulbehörde alljährlich eine stetig sinkende innerschulische Kriminalitätsrate, die sie natürlich auf ihre harsche Sicherheitspolitik zurückführen. Durch den großzügigen Einsatz von Metalldetektoren und die massive Polizeipräsenz habe die Zahl der Verbrechen in den 22 gefährlichsten Problemschulen, den sogenannten Impact Schools, deutlich gesenkt werden können. Doch in Wirklichkeit sind diese Statistiken so stark frisiert, dass sie kaum jemanden überzeugen. Laut einem Bericht des Rechnungshofs1 aus dem Jahr 2007 beispielsweise wurden zahlreiche Gewaltakte gar nicht erst offiziell gemeldet.
Polizei und Schulbehörde haben den Bericht des Rechnungshofs postwendend bestritten, doch die Gewerkschaft der Lehrer, der Verband der Rektoren und Teamsters Local 237, die Ortsgruppe jener mächtigen Gewerkschaft, zu der auch die Vertreter der „School Safety Agents“ gehören, pflichteten der Kritik lautstark bei. Obschon Schulen nach wie vor zu den sichersten Orten für junge Leute zählen, hat die „harte Hand“ nicht zu einer Verringerung der Kriminalität geführt, die wesentlich über den Rückgang der Kriminalität in der Stadt hinausginge.
Die Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen hat jedoch ein völlig neues disziplinarisches System geschaffen, wodurch die meist nur rudimentär ausgebildeten Sicherheitskräfte an vielen Schulen zur höchsten Autorität wurden. In disziplinarischen Fragen setzen sie sich regelmäßig über Lehrer und Schulleitung hinweg, mit dem Ergebnis einer neuen Form von Gewalt und Chaos: Am 17. November 2006 legte ein Wachmann zwei Vierjährige in Handschellen, weil sie den Mittagsschlaf verweigerten.2
Am 17. Januar 2008 führte ein Sicherheitsbeamter einen unbotmäßigen Fünfjährigen in Handschellen ab und brachte ihn zur Zwangsbegutachtung in eine psychiatrische Klinik.3 Senator Eric Adams meinte, man solle in solchen Fällen anstelle von Metallhandschellen doch besser auf Klettverschlussbänder zurückgreifen – und das war noch eine der liberalsten Stellungnahmen, die dazu aus Regierungskreisen zu hören waren. Doch sind dies nur die spektakulärsten Fälle.
Selbst die Polizeistatistiken, deren Veröffentlichung auf dem Rechtsweg erzwungen wurde, belegen, dass zwischen 2005 und 2007 rund 309 Schüler für strafrechtlich unbedeutende Vergehen wie unbefugtes Betreten des Schulgeländes und Herumlungern festgenommen wurden.4 Gewöhnliche Unbotmäßigkeiten von Jugendlichen, die ehedem durch Nachsitzen oder einen Gang zum Direktor geahndet wurden, werden heute wie echte Straftaten behandelt.
Aber nicht nur Schüler, auch Lehrer und sogar Rektoren werden von den mit neuer Machtfülle ausgestatteten Sicherheitsleuten ihrer Freiheit beraubt: Am 9. Oktober 2007 wurde eine besonders begabte Schülerin der East Side Community High School in Manhattan eingesperrt, weil sie zu einer Besprechung mit ihrem Lehrer das Schulgebäude einige Minuten zu früh betreten hatte. Als der Rektor dazwischenging, wurde auch er in Handschellen abgeführt. Für Ernest Logan, den Vorsitzenden des Rektorenverbands, sind die Schlagzeilen über die Festnahmen von Pädagogen nur „die Spitze des Eisbergs“. Aus Furcht vor Repressalien seitens der Schulbehörde beklagen sich verdiente Schulleiter und Lehrer nur noch hinter vorgehaltener Hand über die Willkür der einfältigen Sicherheitskräfte, die oft nur wenig älter sind als die Schüler.
Die zentrale Frage lautet: Welche Akte sind in einer Schule als Straftaten anzusehen? Alle sind sich darin einig, dass der Einsatz von Feuerwaffen und Messern streng bestraft werden und gegebenenfalls strafrechtliche Konsequenzen haben muss. Aber soll man dieselben Maßstäbe, die für Erwachsene auf öffentlichem Straßenland gelten, auch auf Zwölfjährige auf dem Schulhof anwenden? „Soll man Johnny ins Gefängnis stecken, weil er Joey die Nase blutig gehauen hat?“, fragt der Gewerkschafter Logan. Die Polizei und ihre Sicherheitsabgesandten in den Schulen neigen dazu, alles gleich als Straftat zu behandeln. Der Soziologe und Fachmann für schulische Disziplinarmaßnahmen Jeffrey Sprange von der Universität Oregon fasst die überraschenden Resultate der drakonischen Sicherheitspolitik bündig zusammen: „In dem Moment, wo man die Polizei in die Schule bringt, verdreifacht sich die Kriminalitätsrate.“
Für viele ist der Metalldetektor am Schuleingang zum Stein des Anstoßes geworden. Tatsächlich findet man die umstrittenen Metalldetektoren fast ausschließlich in den innerstädtischen Arbeiterbezirken und so gut wie nie in den bürgerlichen Vororten. Laut der offiziellen Version der New Yorker Schulbehörde werden Metalldetektoren auf rein freiwilliger Basis installiert. Dagegen berichten Schulleiter, dass selbst auf Schulen mit niedriger Kriminalität in dieser Hinsicht ein enormer Druck ausgeübt wird.
Doch wie Giuliani und Bloomberg nur zu gut wissen, werfen theatralische Gesten der Verbrechensbekämpfung völlig unabhängig von ihren Resultaten meistens eine üppige Dividende ab. Welche negativen Auswirkungen die erbarmungslose und willkürliche Anwendung polizeilicher Gewalt auf die Fähigkeit von Jugendlichen hat, sich Normen der Selbstdisziplinierung anzueignen und einen rationalen Umgang mit Autoritäten einzuüben, lässt sich indes nur erahnen.
Die eigentliche Tragik des drakonischen New Yorker Schulregimes besteht darin, dass bewährte Alternativen völlig an den Rand gedrängt werden. In dem im Juli 2009 veröffentlichten Bericht eines Zusammenschlusses von gemeinnützigen Interessengruppen werden sechs Oberschulen aus Arbeiterbezirken vorgestellt, die sich für eine humane Sicherheitspolitik entschieden haben. Dieser neue Bericht mit dem Titel „Sicherheit in Würde“ (Safety with Dignity), den ich mitverfasst habe, belegt, dass diese Modellschulen deutlich bessere Ergebnisse erzielen als die schwer bewachten Nachbarschulen.5 „Wenn man nicht will, dass die Schüler sich wie Verbrecher verhalten, darf man sie nicht wie Verbrecher behandeln“, sagt Tabari Bomani, seit vielen Jahren Lehrer an der Bushwick Community High School in Brooklyn.
In den Modellschulen werden disziplinarische Entscheidungen ausschließlich von Lehrern, Tutoren und der Schulleitung gefällt. Die Rektoren sind gegenüber den Sicherheitskräften, die hier im Wesentlichen nur noch als Türsteher fungieren, nach wie vor weisungsbefugt. Die Strafen für Vergehen gegen die Schulordnung entsprechen jeweils der Schwere der Übertretung, niemand wird in Handschellen abgeführt oder den Strafverfolgungsbehörden überstellt. Die Schüler haben bei der Gestaltung der Schulordnung ein Mitspracherecht. Auf Treffen und Versammlungen wird bewusst eine Gesprächskultur des wechselseitigen Respekts und der Selbstdisziplin gepflegt und eingeübt.
Die demografische Zusammensetzung der Schüler an diesen Schulen ist mit jener der polizeilich überwachten Problemschulen weitgehend identisch. Ein großer Prozentsatz der Schüler lebt unter der Armutsgrenze und stammt aus Migrantenfamilien, in denen kein Englisch gesprochen wird. Dennoch schneiden diese Schulen, die nur höchst zurückhaltend durch Polizeikräfte überwacht werden, auf allen Ebenen besser ab als die Hochsicherheitsschulen. Es kommt dort nicht nur seltener zu gewalttätigen Zusammenstößen, Verhaftungen und Schulverweisen, sondern sie erzielen auch bessere Lernerfolge – mehr Schulabschlüsse, weniger Schulabbrüche. Alle Daten dieser vergleichenden Untersuchung stammen von der Schulbehörde der Stadt New York.
Bezeichnenderweise haben alle Modellschulen diese Ergebnisse ohne Metalldetektoren erreicht. „Ich glaube, dass Metalldetektoren einen nur in falscher Sicherheit wiegen“, meint Felice Lepore, Rektorin der Urban Assembly School for Careers in Sports in der South Bronx. „Wenn jemand eine Waffe in ein Gebäude schmuggeln will, findet er immer Mittel und Wege, dies zu tun. Und welche Botschaft vermittelt man eigentlich den Kindern, die jeden Morgen diese Prozedur durchlaufen müssen? Wenn ich mit Kollegen aus anderen Schulen spreche, habe ich den Eindruck, dass man damit von Anfang an Spannungen schafft.“6 Lepore stand früher selbst in New Jersey im Polizeidienst – im Unterschied zu den meisten Befürwortern der intensiven polizeilichen Überwachung an Schulen.
Es gibt auch bessere Alternativen
Die tragische Unzulänglichkeit von Metalldetektoren zeigte sich übrigens am 28. März 2008, als an der Paul Robeson High School in Crown Heights, Brooklyn, trotz voll funktionsfähiger Scanner ein Schüler durch Messerstiche lebensgefährlich verletzt wurde.7
Doch selbst die Columbine High School in Littleton, Colorado hat nach dem Amoklauf von 1999, bei dem fünfzehn Menschen starben und zwei Dutzend weitere verletzt wurden, keine Scanner installieren lassen. Littleton ist ein wohlhabender Vorort von Denver, der sich diese Technologie zweifellos leisten könnte, doch offenbar glauben die Mittelschichtseltern dieser Stadt nicht, dass es die Lernatmosphäre verbessert und Gewalt verhindert, wenn man ihre Kinder wie Kriminelle behandelt. Dem würden natürlich auch viele New Yorker Familien zustimmen, aber Schwarze und Latinos aus der Arbeiterklasse verfügen nicht über das politische Gewicht wohlhabender Vorstadtbürger, um sich gegen die kontraproduktive Politik der „harten Hand“ zur Wehr zu setzen.
Im Grunde unterscheiden sich die „alternativen“ Disziplinarmaßnahmen der sechs in dem Bericht herausgestellten Modellschulen nur wenig von den alltäglichen Praktiken einer durchschnittlichen Sekundarschule in einem durchschnittlichen bürgerlichen Vorort. Trotz der großen Erfolge solcher Ansätze scheint sich die New Yorker Schulbehörde darauf zu versteifen, dass die alternative Praxis in mehrheitlich von Schwarzen oder Latinos bewohnten Vierteln nicht funktionieren würde.
Das New Yorker Experiment ist nachweislich fehlgeschlagen und dürfte bald seinem Ende entgegengehen. Da die Kriminalität in der Stadt seit fünfzehn Jahren abnimmt, verringert sich auch die politische Rendite von solchen Gesten des harten Durchgreifens, und der Anblick von Fünfjährigen in Handschellen ist Bildungspolitikern zunehmend peinlich. Verschiedene gemeinnützige Lobbyorganisationen und jugendliche Aktivisten haben die öffentliche Meinung gegen übermäßige Polizeipräsenz in Schulen mobilisiert, und die Medien der Stadt haben damit begonnen, sich mit den Missständen zu beschäftigen, auch wenn die notorisch autokratische und kritikresistente Schulbehörde weiterhin Scheuklappen aufsetzt.
Der größte Bündnispartner bei der Reform der schulischen Sicherheit dürften jedoch die massiven Sparmaßnahmen sein, die der wirtschaftliche Abschwung erzwungen hat. Die menschenwürdigen Alternativen zur Hochsicherheitspolitik an den Schulen kosten nämlich nur einen Bruchteil dessen, was für Metalldetektoren, Polizeibrigaden, Gerichtsverfahren und kostspielige Vergleiche mit inhaftierten Schülern und Erziehern ausgegeben wird.
Dennoch wird es Jahre dauern, bis Erzieher und Gemeinwesen die Oberhoheit über die Disziplin an den Schulen von der Polizei zurückerobert haben werden, und selbst bescheidene Maßnahmen, wie die, die rund 4 500 Sicherheitskräfte an den Schulen einer zivilen Beschwerdestelle zu unterstellen, werden von der Stadtregierung auf die lange Bank geschoben. Die Lehre aus den Erfahrungen in New York ist jedoch eindeutig: Hat man die Polizei erst in der Schule, bekommt man sie schwer wieder hinaus. Die Politiker in Europa, die mit solchen Plänen liebäugeln, sollten es sich zweimal überlegen, ehe sie diesen Weg einschlagen.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Chase Madar arbeitet als Bürgerrechtsanwalt in New York.