10.09.2010

Keine Sentimentalitäten mehr

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Keine Sentimentalitäten mehr

Die USA und Großbritannien überdenken ihr Verhältnis von Jean-Claude Sergeant

Der Begriff „special relations“ wird Winston Churchill zugeschrieben, der ihn erstmals in seiner berühmten Rede vom 5. März 1946 in Fulton, Missouri, verwendet haben soll.1 Aber schon vor Churchill haben Politiker die besondere Beziehung zwischen den USA und Großbritannien gewürdigt, die durch den gemeinsamen Kampf in zwei Weltkriegen noch gefestigt wurde.

Schon 1917 hatte der britische Außenminister Lord Balfour nach seiner Rückkehr von einer USA-Reise erklärt: „Unsere beiden Völker haben eine gemeinsame Wurzel“, und schloss die rhetorische Frage an: „Sind wir nicht auf ewig miteinander verbunden?“ 86 Jahre später musste Tony Blair nicht mehr den gemeinsamen genetischen Ursprung beschwören, als er im Januar 2003 vor den versammelten britischen Botschaftern betonte: „Wir sind mit den USA nicht verbündet, weil sie stark sind, sondern weil wir dieselben Werte teilen.“

Doch die „special relationship“, die von jedem neuen Premierminister als Fundament der britischen Außen- und Verteidigungspolitik gewürdigt wurde2 , hat inzwischen ihre mythische, nostalgisch verklärte Qualität eingebüßt. US-Präsident Barack Obama setzt andere strategische Prioritäten, und der neue britische Premierminister David Cameron versucht sich von dem osmotischen Verhältnis abzugrenzen, das sein Vor-Vorgänger Blair mit George W. Bush gepflegt hatte. Die Special Relationship muss also neu bewertet werden.

Diese Sonderbeziehung beinhaltet nicht nur eine enge Kooperation in Sicherheits- und Verteidigungsfragen, insbesondere bei der Geheimdienstarbeit, sie ist auch in einen umfassenderen ökonomischen und kulturellen Kontext eingebettet. Großbritannien war schon immer das bevorzugte Ziel von Direktinvestitionen aus den USA, die sich 2007 auf etwa 400 Milliarden Dollar beliefen. Von den 1 744 ausländischen Investitionsvorhaben in Großbritannien im Jahr 2008 gingen 621 auf das Konto von US-Unternehmen.3

Ähnliche Dimensionen erreichen die britischen Direktinvestitionen in den USA (2008: 454 Milliarden Dollar), und für die britischen Exporte ist der US-Markt der wichtigste Abnehmer von Waren und Dienstleistungen im Wert von etwa 70 Milliarden Pfund jährlich. Als Gordon Brown in seiner Zeit als Schatzkanzler (1997 bis 2007) den Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Eurozone immer wieder hinauszögerte, begründete er dies auch mit der engen transatlantischen Verflechtung der britischen Wirtschaft.

Als privilegierter Juniorpartner unterhält das Vereinigte Königreich im Land seines transatlantischen Verbündeten eine diplomatische Vertretung in Stärke von 417 Personen (davon 248 in Washington).4 Diese starke diplomatische Präsenz, die nur von der Indiens übertroffen wird, erklärt sich aus der zentralen Bedeutung der USA für das strategische Denken in London, aber auch aus der Vielzahl „nachgeordneter Entscheidungszentren“, der Thinktanks und Lobbygruppen, bei denen die Diplomaten sich für britische Interessen einsetzen. Entsprechend pflegt die britische Führung ihr Festhalten an der asymmetrischen Beziehung zu den Vereinigten Staaten mit der Notwendigkeit zu begründen, die US-amerikanischer Entscheidungsinstanzen zu beeinflussen.

In der Tat sind die Spitzen des Londoner Verteidigungsministeriums (MoD) und des britischen Militärs von jeher in die Entscheidungszentralen der US-Militärführung eingebunden. 2005 waren einige Beamte des MoD sogar an der Ausarbeitung der „Quadrennial Defense Review“5 beteiligt. Andere sind zum Generalstab der US-Navy in Norfolk (Virginia) abgestellt. Und angesichts von Bedeutung und Umfang des britischen Afghanistan-Kontingents (rund 10 000 Mann) war es möglich, einen britischen General zum Kommandanten der Isaf-Truppen in Südafghanistan zu ernennen.

Obwohl die enge Kooperation auf der operativen Ebene außer Frage steht, sind Zweifel angebracht, in welchem Maße London die wichtigen außenpolitischen Entscheidungen in Washington tatsächlich beeinflusst. Vor der Irak-Invasion im März 2003 bemühte sich Tony Blair vergeblich, seinen Freund Bush dazu zu bewegen, die Zustimmung der Vereinten Nationen einzuholen. Die gleiche Erfahrung machte er mit Versuchen, den Special Partner dazu zu bringen, die Lösung des Palästina-Konflikts voranzutreiben und das Kioto-Protokoll zu ratifizieren.

Nach der Wahl Barack Obamas war mit einer Neuausrichtung der anglo-amerikanischen Beziehungen zu rechnen, die auch das Ende der von Blair bereitwillig akzeptierten Rolle des treuen Vasallen bringen würde. Tatsächlich merkten die Briten sehr schnell, dass der neue Präsident den vermeintlich privilegierten Beziehungen keinen besonderen Stellenwert beimaß. Obama definierte sich selbst als „Pacific President“, dessen Hauptaugenmerk der asiatisch-pazifischen Region gilt. Seitdem Europa die sowjetische Bedrohung losgeworden ist, steht es für die USA nicht mehr im Zentrum strategischer Überlegungen. Washington hat sich damit abgefunden, dass die Europäische Union ihre Identität zunehmend auf dem Gebiet der Außen- und Verteidigungspolitik manifestieren will.

Churchills Büste verschwand aus dem Oval Office

Zwar würdigte die US-Außenministerin Hillary Clinton noch Ende Juli 2009 gegenüber ihrem britischen Kollegen David Miliband den hohen Stellenwert der Special Relationship, die sie als Faktor des Friedens, des Fortschritts und des Wohlstands „nicht nur für unsere beiden Völker, sondern für die ganze Welt“ bezeichnete. Doch die schönen Worte klangen eher nach höflichen diplomatischen Floskeln.

In London hatte man sehr wohl registriert, dass Clinton nur zwei Wochen zuvor in ihrer Rede vor dem „Council on Foreign Relations“ bei der Aufzählung der historischen Partner der USA das Vereinigte Königreich nicht ein einziges Mal erwähnt hatte. Die „Normalisierung“ der anglo-amerikanischen Beziehungen zeigt sich auch auf symbolischer Ebene: Nach seinem Einzug ins Weiße Haus ließ Obama eine Churchill-Büste, die unter seinem Vorgänger Bush das Oval Office geschmückt hatte, an die britische Botschaft zurückgehen. Und im September 2009 hatte er für ein Treffen mit Blairs Nachfolger Gordon Brown am Rande der UN-Vollversammlung ganze 15 Minuten übrig. Allem Anschein nach ist die Beziehung zu den Briten für die Obama-Regierung keine besondere mehr, sondern nur noch eine unter vielen – jenseits der Sentimentalität, die in Washington noch bis vor kurzem in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu spüren war.

Hinzu kommt, dass die alte Freundschaft immer wieder durch unvermeidliche Spannungen beeinträchtigt wird. So erregte etwa die Haftentlassung des krebskranken libyschen Lockerbie-Attentäters Mohammed al-Megrahi6 im August 2009 das Missfallen sowohl der US-Administration als auch der amerikanischen Öffentlichkeit. Premierminister Brown versicherte zwar, die Entscheidung über die Freilassung habe allein beim schottischen Justizministerium gelegen. Doch Beobachter schlossen nicht aus, dass die Entlassung al-Megrahis mit den Verträgen zu tun hatte, die den Briten künftige Öllieferungen aus Libyen sichern. Jedenfalls löste der triumphale Empfang des Attentäters in Tripolis in den USA bittere Gefühle aus. Der britische Daily Telegraph vom 25. August 2009 kommentierte die Angelegenheit folgendermaßen: „Unsere besondere Beziehung mit den USA beinhaltet ein Niveau der geheimdienstlichen Zusammenarbeit zwischen zwei souveränen Staaten, die einmalig ist. Diese Beziehung wurde heute durch die Freilassung al-Megrahis beschädigt, und durch die Weigerung der Regierung, diesen Vorgang zu verurteilen.“

Im Dezember 2009 zogen die US-Behörden die Effektivität der britischen Terrorabwehr in Zweifel, nachdem ein junger Nigerianer verhaftet worden war, der versucht hatte, ein Flugzeug auf dem Weg von Amsterdam nach Detroit in die Luft zu sprengen. Der verhinderte Attentäter soll während eines London-Aufenthalts zwischen 2005 und 2008 von dortigen dschihadistischen Zellen ausgebildet worden sein. „Das Niveau der Al-Qaida-Aktivitäten in Großbritannien wird zu einem wirklichen Problem“, kommentierte ein hoher Beamter des US-Außenministeriums.7

Den Kern der Special Relationship bilden der Informationsaustausch und die nachrichtendienstliche Kooperation. 1947 unterzeichnete London ein Abkommen über den Aufbau eines Überwachungssystems für elektronische Kommunikationssignale („Signals Intelligence“, Sigint), in das auch Kanada, Australien und Neuseeland einbezogen sind. Großbritannien sichert mit seinen Abhörstationen in Cheltenham und auf Zypern die Überwachung des europäischen Raums und des Nahen und Mittleren Ostens.8 Es beteiligt sich auch an der Beschaffung und Bearbeitung von Informationen durch „human intelligence“9 in Afghanistan oder anderen Regionen, mit denen sie durch ihre koloniale Vergangenheit enger verbunden sind. Auch der 2003 verabredete Verzicht Libyens auf Massenvernichtungswaffen wird allgemein als Erfolg des britischen MI6 angesehen. Die britischen Dienste arbeiten zwar sehr eng mit ihren Partnern in den USA zusammen, haben aber gewisse Vorbehalte, was die Methoden ihrer amerikanischen Kollegen betrifft.10

Die Verteidigung als zweiter Pfeiler der Special Relationship besteht aus einem industriellen und einem operativen Bereich. Die Entwicklung der britischen Rüstungsindustrie hängt von den strategischen Prioritäten ab, die von den politischen und militärischen Entscheidungsträgern definiert werden. Im Verteidigungsweißbuch11 von 2003 wird explizit eingeräumt, dass das britische Militär größere militärische Einsätze nur an der Seite der USA bestreiten kann. Das setzt natürlich eine perfekte Koordination im Bereich der operativen Leitung und eine umfassende „Interoperabilität“ des militärischen Geräts voraus.

Amerikanische Raketen tragen britische Atomsprengköpfe

Nach dieser Logik müsste die britische Armee eigentlich mit US-amerikanischen Waffensystemen ausgerüstet sein. Dass dem nicht so ist, zeigt die ökonomische Bedeutung der britischen Rüstungsindustrie. 2005 flossen nur 32 Prozent der britischen Rüstungsausgaben in ausländisches Gerät, und davon wiederum 80 Prozent an Anbieter, die in Großbritannien produzieren.12 Alle großen US-Rüstungsfirmen wie Boeing, Raytheon, General Dynamics, Northrop Grumman und Lockheed Martin unterhalten Filialen auf britischem Boden. Lockheed Martin leitet im Auftrag des MoD sogar das „Atomic Weapons Establishment“ (AWE) und ist damit für die Entwicklung, Produktion und Wartung der nuklearen Sprengköpfe zuständig, mit denen die D5-Raketen der vier britischen strategischen Atom-U-Boote bestückt werden.

Schon 1958 beseitigte ein bilaterales Verteidigungsabkommen13 die seit 1946 von den USA praktizierte Informationssperre im Bereich der militärischen Nukleartechnik (MacMahon-Gesetz). Das ermöglichte die Entwicklung und Produktion der britischen Atomsprengköpfe, die zunächst auf die U-Boot-gestützten Polaris-Raketen montiert wurden und später auf die 58 Trident-Raketen, die 1982 von den USA im Rahmen eines Art Leasingvertrags geliefert wurden. Die Trident werden auf der US-Marinebasis Kings Bay im Bundesstaat Georgia gewartet, und die britischen U-Boote machen ihre Abschussübungen in einer Manöverzone der US-Marine vor Florida.

Die britischen Atom-U-Boote gehören zwar offiziell zum defensiven Abschreckungspotenzial der Nato, doch für London sind sie das Fundament einer unabhängigen Verteidigung. In der Praxis ist das Abschuss- und Lenksystem der britischen Raketen identisch mit dem der U-Boot-gestützten Raketen der US-Marine. Allerdings könnten die USA den Abschuss von Trident-Raketen nicht verhindern, falls der britische Premierminister den Einsatzbefehl gäbe – was ziemlich unwahrscheinlich ist.14

Im Bereich der militärischen Ausrüstung gibt es insgesamt 22 gemeinsame Projekte; und die britische Rüstungsfirma BAE Systems ist immerhin der achtgrößte Lieferant des Pentagon. Doch die enge Kooperation kann auch zu Frustrationen führen: Die Briten warten immer noch auf die Quellcodes für den F-35 „Joint Strike Fighter“15 , ohne die sie das Kampfflugzeug nicht an die operativen Bedürfnisse der Royal Air Force und der Royal Navy anpassen kann. Die Weitergabe der Software hängt von der Ratifikation des 2007 von Bush und Blair unterzeichneten „US-UK Defense Trade Co-operation Treaty“ ab. Doch der Senat in Washington ist besorgt, dass die nach Großbritannien weitergegebene Technologie in die Hände feindlicher Drittstaaten gelangen könnte. Nach dem Vertrag, den das britische Parlament bereits angenommen hat, wären die US-Exporte nach Großbritannien von den restriktiven Bedingungen ausgenommen, die das International Traffic in Arms Regulation (Itar) für die Vergabe von Exportlizenzen vorsieht.

Großbritannien will und kann keine größeren militärischen Operationen ohne die USA durchführen, aber auch die Vereinigten Staaten sind gleichermaßen auf die Einbindung der Briten angewiesen, wenn sie das Fehlen einer völkerrechtlichen Legitimation kompensieren wollen. Ein einschlägiger Fall war 2003 die Invasion des Irak. In Afghanistan, wo die USA eine Koalition von über 40 Staaten anführen, ist das britische Kontingent vor allem in der Provinz Helmand stationiert. Dabei ist es allerdings immer wieder auf die Unterstützung durch US-Truppen angewiesen, wie das Beispiel von Musa Qala zeigt, wo die Briten vor ihrem Abzug amerikanische Verstärkung anfordern mussten. Seit Juni 2010 ist das Oberkommando für die ganze Provinz Helmand auf die US-Armee übergegangen.

Solche Beispiele bestätigen die Einschätzung, die am 5. Juni in dem Magazin The Economist zu lesen war: Der Krieg in Afghanistan sei inzwischen „eine rein amerikanische Angelegenheit, bei der die Briten nur eine nachgeordnete Rolle spielen“. Bestätigt wird dies durch die Entscheidung, die Präsident Obama und Premierminister Cameron im Juni am Rande des G-20-Gipfels in Toronto getroffen haben: Die britischen Truppen in der umkämpften Region Sangin im Norden von Helmand werden abgezogen und durch 20 000 US-Soldaten ersetzt.

Inzwischen scheint man sich auf beiden Seiten des Atlantiks mehr Gedanken über die Modalitäten eines Rückzugs aus Afghanistan zu machen als über die Frage, wie man militärisch die Oberhand erringen kann, was man zunehmend für illusorisch hält. Präsident Obama erklärte bereits Ende 2009, dass der Abzug der US-Truppen im Juli 2011 beginnen könnte. Damit brachte er aber die britischen Verbündeten in Verlegenheit, die strikt vermieden hatten, einen genauen Abzugstermin zu nennen.

Offiziell machte das Vereinigte Königreich den Abzug seines Kontingents von der Voraussetzung abhängig, dass die nationale afghanische Armee die Bevölkerung zu schützen vermag. Diese Linie bestätigte auch der neue Premier Cameron am 21. Juni vor dem Unterhaus. An diesem Tag meldete das britische Kontingent in Afghanistan sein 300. Todesopfer, was Kommentatoren zu einem Vergleich zwischen den Einsätzen im Irak und in Afghanistan herausforderte: Der Irakkrieg hatte 179 Briten das Leben gekostet, die Zahl der Opfer in Afghanistan steigt dagegen noch weiter an, während die Zielsetzung dieses Kriegs immer unglaubwürdiger wird. Vor seinem Treffen mit Obama äußerte Cameron die Hoffnung, dass der Großteil des britischen Kontingents bis 2015 zu Hause sein werde. Das hieße: noch rechtzeitig vor den nächsten Unterhauswahlen.

Die neue konservativ-liberale Regierung, die gleich einen drastischen Sparplan verabschiedet hat, ist sich bewusst, dass die britische Öffentlichkeit die hohen Opferzahlen nicht mehr lang akzeptieren wird (zumal sie proportional höher liegen als die Verluste der US-Armee). Und selbst Verteidigungsminister Liam Fox ist skeptisch, was die Fragen von Staatsaufbau und Demokratie in Afghanistan angeht. In einem Interview mit der Londoner Times sagte Fox am 21. Mai dieses Jahres: „Wir sind nicht in Afghanistan, um die Bildungspolitik eines zerfallenen mittelalterlichen Staates zu fördern. Wir sind in Afghanistan, um die britische Bevölkerung und unsere globalen Interessen zu schützen.“

Auch die insgesamt euroskeptische Orientierung der neuen Machthaber in London, die am klarsten Verteidigungsminister Fox und Außenminister William Hague repräsentieren, ist aus gegenwärtiger US-Sicht keineswegs mehr geeignet, die Position Großbritanniens als privilegierter Partner abzusichern. Eric Edelman, ein ehemaliger hoher Beamter im Pentagon, sieht die alte Generation der britischen Führung langsam aussterben. Für Edelman stirbt die alte Generation der britischen Führung langsam aus. Die neue Elite sei nicht länger der von Churchill definierten Special Relationship verhaftet, sondern richte den Blick stärker nach Europa.16 Aber zumindest im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich scheint diese Einschätzung übertrieben: Immerhin war Großbritannien eine der treibenden Kräfte bei dem Beschluss zur Auflösung der Westeuropäischen Verteidigungsgemeinschaft (WEU) im März 2010; zudem wird in der Regierung Cameron ernsthaft erwogen, aus der Europäische Verteidigungsagentur (EVA), der zentralen EU-Agentur für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, auszusteigen.

Nach Ansicht von Michael Clarke, Leiter des „Royal United Services Institute“ (Rusi), des wichtigsten Thinktanks der britischen Regierung, können die Repräsentanten Londons die Interessen ihres Landes am wirksamsten vertreten, wenn sie in Washington als Agenten des europäischen Wandels wahrgenommen werden, vor allem auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.17 US-Präsident Obama wünscht sich ein Europa, das entschlossen ist, sich selbst um seine Angelegenheiten zu kümmern, und zugleich bereit, einstimmig zu reagieren, wenn Washington via Nato an die Solidarität seiner europäischen Partner appelliert.

Die Ölkatastrophe von BP wirft ihre Schatten

David Cameron hatte noch als Oppositionschef im September 2006 angekündigt, die Beziehungen einer künftigen konservativen Regierung zu den USA würden verlässlich („solid“), aber keineswegs servil („slavish“) sein. Damit ging er schon im voraus auf Distanz zum Modell einer Interessenfusion wie in der Ära Blair/Bush. Aufmerksame Beobachter haben auch registriert, dass Cameron im Vorfeld der Unterhauswahlen vom Mai 2010 – anders als Blair bei den Wahlen von 1997 – keineswegs versucht hat, die Unterstützung des US-Präsidenten zu gewinnen. Umgekehrt dürfte man in der Umgebung Obamas noch nicht vergessen haben, dass Cameron und die britischen Konservativen im US-Wahlkampf 2008 den Republikaner John McCain unterstützt hatten. Das würde zum Teil auch die Spannungen zwischen den beiden Ländern erklären, die anlässlich der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zu Tage traten.

Ausgelöst wurde diese Katastrophe durch die Explosion einer vom britischen Energiekonzern BP betriebenen Bohrplattform, die von Obama zum „ökologischen 11. September“ erklärt wurde. Von der Öffentlichkeit stark unter Druck gesetzt, ging der US-Präsident mit dem britischen Unternehmen hart ins Gericht. BP-Chef Tony Hayward wurde vor einen Untersuchungsausschuss des US-Kongresses zitiert. Zum Ärger vieler Briten sprachen Obama und seine Mitstreiter dabei beharrlich von „British Petroleum“, obwohl das Unternehmen diesen Namen seit 2000 offiziell abgelegt hatte und seitdem das Kürzel BP mit „Beyond Petroleum“ übersetzte. Damit entstand der Eindruck, dass die Obama-Leute auf der anglophoben Klaviatur spielten, wobei sie ignorierten, dass sich die Aktien von BP zu 40 Prozent im Besitz von US-Pensionsfonds befinden.

Am 10. Juni erklärte Boris Johnson, Londoner Bürgermeister und gebürtiger New Yorker, gegenüber der BBC: „Ich finde die antibritische Rhetorik, die von den USA ausgeht, besorgniserregend. Ich glaube, dass es zu einem großen Problem für unser Land wird, wenn ein bedeutendes britisches Unternehmen in den internationalen Medien ständig heruntergemacht wird.“

Handfester waren die Besorgnisse in der Londoner City: An der Börse befürchtete man den endgültigen Absturz der BP-Aktien, dir innerhalb von 12 Wochen bereits um die Hälfte gefallen waren. Ein Zusammenbruch von BP hätte sich auch auf die Bilanzen der britischen Pensionsfonds ausgewirkt, die allesamt Aktienanteile der wichtigsten Unternehmen der Londoner Börse halten. Der Daily Telegraph titelte sogar: „Obama geht den britischen Renten an den Kragen“.

Weitere wirtschaftspolitische Differenzen traten beim G-20-Gipfel in Toronto zutage. Washington wünschte ein Abkommen, dass die Auswirkungen der strikten Sparpolitik in Deutschland und Großbritannien eindämmen sollte. Kurz zuvor hatte der neue Schatzkanzler der Regierung Cameron, George Osborne, vor dem britischen Unterhaus seinen „Notstandshaushalt“ erläutert. Mit Blick auf die Kongresswahlen im November wollten die Amerikaner vermeiden, den zarten Aufschwung durch einen zu strikten Sparkurs zu gefährden. Dagegen war das Hauptziel der Europäer, insbesondere der Briten, die Haushaltsdefizite und Staatsverschuldungen abzubauen.

Beide Seiten beharrten auf ihrer Position, was Premier Cameron aber nicht daran hinderte, sich nach seiner Rückkehr in London auf die Unterstützung der G 20 für sein Sanierungsprogramm zu berufen. Das sieht unter anderem vor, die Budgets aller Ressorts um rund 20 Prozent zu kürzen. Etwas besser dürfte der Verteidigungsetat davonkommen, aber dennoch werden die geplanten Einschnitte – wie auch die Abkehr vom „liberalen Interventionismus“ der Ära Blair – die Special Relationship unvermeidlich belasten.

Angesichts dessen dürfte Lord Douglas Hurd recht behalten. Der frühere Außenminister der Regierung John Major meinte vor dem Außenpolitischen Ausschuss des Unterhauses über die Beziehungen zu den USA: „Der Fortbestand und der Erfolg dieser Partnerschaft hängen in der Praxis davon ab, wie nützlich Großbritannien den Vereinigten Staaten als effektiver Verbündeter ist. Wir lassen uns in diesem Punkt gelegentlich von der Höflichkeit der Amerikaner täuschen, die den Anschein erwecken, als betrachteten sie die anglo-amerikanische Partnerschaft als entscheidend für die USA, was in Wahrheit nicht der Fall ist.“18

Fußnoten: 1 Diese Rede wurde berühmt, weil der neun Monate zuvor abgewählte Premierminister erstmals vom „Eisernen Vorhang“, der Europa teilt, sprach. 2 Eine Ausnahme machte nur Edward Heath, Premierminister von 1970 bis 1974. 3 „Global Security: UK-US Relations“, Bericht des Außenpolitischen Ausschusses des britischen Unterhauses, März 2010, www.publications.parliament.uk/pa/cm200910/cmselect/cmfaff/114/11402.htm. 4 Siehe Anmerkung 3. Von diesen Personen haben nur 70 Diplomatenstatus. 142 Mitarbeiter der britischen Botschaft in Washington arbeiten für das Verteidigungsministerium; außerdem sind in den USA noch 550 britische Militärs und Experten von Rüstungsunternehmen tätig. 5 Die QDR ist die alle vier Jahre vorgenommene Revision der US-Verteidigungsplanung, zusammen mit der National Security Strategy definiert sie die Militärstrategie der USA. 6 Al-Megrahi wurde im Januar 2001 von einem schottischen Sondergericht in den Niederlanden wegen des Bombenattentats auf einen PanAm-Flug am 31. Dezember 1988 zu lebenslanger Haft verurteilt. Unter den 270 Opfern des Anschlags waren 190 US-Bürger. 7 The Daily Telegraph, 16. Januar 2010. 8 Das Recht auf den Unterhalt von Abhörstationen in Zypern hat sich die ehemalige Kolonialmacht in den Verträgen über die Unabhängigkeit Zyperns von 1960 gesichert. Eine Abhöranlage liegt auf dem Territorium der britischen Militärbasis Dhekelia, eine zweite auf dem Gipfel des Troodos-Gebirges. 9 Als „human intelligence“ (Humint) bezeichnet man die Informationsbeschaffung durch Agenten vor Ort. Beim Bundesnachrichtendienst ist dafür die Abteilung „operative Aufklärung“ zuständig. 10 So William Wallace und Christopher Phillips, „Reassessing the Special Relationship“, International Affairs, 85/2 (2009), S. 274. 11 Siehe „Defence White Paper-Delivering Security in a Changing World“, merln.ndu.edu/whitepapers/UnitedKingdom-2003.pdf. 12 Es fließen also nur 5 Prozent der Rüstungsausgaben in den Kauf fertiger Systeme aus dem Ausland. Siehe „Defence Industrial Strategy“, Ministry of Defence, London, Dezember 2005, S. 29. 13 Im „Agreement for Co-operation on the Use of Atomic Energy for Mutual Defense Purpose“ geht es vor allem um Informationsaustausch zur Weiterentwicklung der Atomarsenale. 14 Brian Wicker und Hugh Beach (Hg.), „Britain’s Bomb: What Next?“, London 2006, S. 192. 15 Der F-35 ist ein unter der Leitung von Lockheed Martin entwickelter Tarnkappenbomber. Ursprünglich (2006) hatte das MoD geplant, 138 dieser Flugzeuge zu kaufen. 16 Siehe Eric Edelman „A special relationship in jeopardy“, The American Interest, Juli/August 2010, www.the-american-interest.com/article-bd.cfm?piece=827. 17 Nachzulesen in: „Global Security: UK-US Relations“ (Anmerkung 3). 18 Siehe die Aussage von Douglas Hurd in „Global Security: UK-US Relations“ (Anmerkung 3), S. 83.

Aus dem Französischen von Jakob Horst

Jean-Claude Sergeant ist emeritierter Pro- fessor der Universität Sorbonne-Nouvelle, Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2010, von Jean-Claude Sergeant