Die kirgisische Krankheit
Wie aus einem politischen Konflikt ein ethnischer wurde von Vicken Cheterian
Ein Sturm der Gewalt hat in Kirgistan Tod und Verwüstung verbreitet. Bei Zusammenstößen zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und Oppositionellen starben im April dieses Jahres 84 Menschen, mehr als tausend wurden verletzt. Daraufhin verließ der damalige Staatspräsident Kurmanbek Bakijew das Land und floh ins benachbarte Kasachstan. Als Mitte Mai bei Demonstrationen im südkirgisischen Dschalalabad Anhänger und Gegner Bakijews aufeinandertrafen, gab es erneut zwei Tote und zahlreiche Verletzte. Am verheerendsten waren die Kämpfe zwischen Usbeken und Kirgisen im Juni in der zweitgrößten Stadt Osch. Bei Pogromen starben nach offiziellen Angaben 275 Menschen, andere Quellen sprechen von mehr als 2 000 Toten und 400 000 Flüchtlingen.
Manche werten nun die Rückkehr der Flüchtlinge und die Volksabstimmung vom 27. Juni über die neue Verfassung1 als Zeichen der Beruhigung. Aber man sollte sich keine Illusionen machen. Die Ereignisse im Juni haben gezeigt, dass der Konflikt vor dem Hintergrund einer tiefen sozialen Krise nun nicht mehr durch politische Rivalitäten ausgetragen wird, sondern entlang der ethnischen Grenzen. Wie tief die Gräben zwischen Usbeken und Kirgisen inzwischen sind, zeigt sich auch in den immer neuen und gegensätzlichen Erklärungen für die Gewaltakte in Osch. Die offiziellen kirgisischen Darstellungen geben mal den Anhängern von Expräsident Bakijew die Schuld, mal ist von ausländischen Söldnern die Rede, die zur Destabilisierung der Übergangsregierung eingesetzt worden seien. Geheimdienstchef Keneschbek Duschebajew beschuldigte den Präsidentensohn Maxim Bakijew, Kämpfer der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) angeheuert zu haben, um das Land ins Chaos zu stürzen – die IBU unterhält Verbindungen zu al-Qaida und den Taliban2 . Viele Kirgisen meinen, die beiden Volksgruppen sollten sich einfach vertragen und die Vergangenheit vergessen; den Usbeken gehe es wirtschaftlich gut und sie hätten keinen Grund für ihre Klagen.
Natürlich sehen die Usbeken das ganz anders. Sie fühlen sich als die Opfer der Gewaltakte, und Behauptungen von Morden durch „usbekische Extremisten“ weisen sie strikt zurück. Sie könnten erst vergessen, wenn der Gerechtigkeit Genüge getan sei. Obwohl viele in ihre Wohnviertel in Osch und die umliegenden Dörfer zurückgekehrt sind, bleibt die Furcht vor Übergriffen – und vor Polizei und Militär. Die hatten sich dem wütenden Mob angeschlossen und auf Usbeken geschossen, wie Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen und russischer wie westlicher Medien bestätigen.
Die Usbeken waren Opfer, und sie werden weiterhin verfolgt – ebenso wie Menschenrechtler, die sich um Aufklärung bemühen, oder Journalisten, die über die Beteiligung der Armee schreiben.3 Der Menschenrechtsaktivist Asimschan Askarow wurde verhaftet, der „Organisation von Massenunruhen“ beschuldigt und nach Angaben von Amnesty International in der Haft misshandelt. Tolekan Ismailowa, Leiterin der NGO „Citizens Against Corruption“ in Bischkek, musste das Land verlassen, nachdem sie wegen ihrer Recherchen in Osch Todesdrohungen erhalten hatte. Die gegensätzliche Bewertung der Ereignisse im Juni, die usbekenfeindliche Haltung der kirgisischen Polizei und das in der usbekischen Bevölkerung vorherrschende Gefühl, ungerecht behandelt zu werden – all das garantiert weitere Unruhen in Kirgistans Süden.
In den Medien war häufig vom „sowjetischen Erbe“ und der langen „Tradition der Gewalt“ die Rede, um die Kämpfe in Südkirgistan zu erklären. Tatsächlich kam es schon vor zwanzig Jahren, am 4. Juni 1990, in Osch und Usgen zu Zusammenstößen zwischen Kirgisen und Usbeken, bei denen hunderte Menschen ihr Leben ließen. Damals zeigten sich internationale Organisationen ebenfalls besorgt über die zunehmenden Spannungen im fruchtbaren Fergana-Tal in Zentralasien – Folgen des Zerfalls der Sowjetunion, neuer Staatsgrenzen und der Konkurrenz einer wachsenden Bevölkerung um die Ressourcen Wasser und Land4 .
Das Erbe der Sowjetära
Danach blieb die Region von Gewaltexzessen verschont. Nachdem Moskau als Schlichter nicht mehr infrage kam, fanden die Volksgruppen im Süden Kirgistans ihre eigene Formel für einen postsowjetischen Konsens: Die Kirgisen dominierten die staatliche Verwaltung, und die Usbeken behielten ihre ertragreichen Ländereien und ihre führende Rolle im Handel. Aber durch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung scheiterte dieser Kompromiss schließlich: Nachdem die staatlichen Subventionen ausblieben und die Industriekombinate der Sowjetära abgewickelt waren, hatten viele Kirgisen kein Einkommen mehr. Die einsetzende massive Landflucht führte in Städten wie Osch und Dschalalabad zu Problemen, weil die dortige Wirtschaft in den Händen der Usbeken war.
In den letzten Jahren nahmen die politischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gemeinschaften deutlich zu. Askar Akajew, 15 Jahre lang (1990–2005) Staatspräsident Kirgistans, stammte aus dem Norden, bemühte sich aber um einen Ausgleich zwischen Kirgisen und Usbeken im Süden. Damit war es vorbei, als Bakijew durch die „Tulpenrevolution“ 2005 an die Macht kam. Er nahm Partei für die Kirgisen, daraufhin stellten auch die Usbeken politische Forderungen. Vor allem Kadyrschan Batyrow, ein reicher Geschäftsmann und früheres Parlamentsmitglied, dem die private „Universität der Völkerfreundschaft“ in Dschalalabad gehört, etablierte sich als Sprecher der usbekischen Seite. Wiederholt forderte er die Anerkennung des Usbekischen als offizielle Amtssprache.
Der Sturz Bakijews im April 2010 beendete das labile Gleichgewicht endgültig. Im Mai besetzten einige hundert Anhänger Bakijews vierundzwanzig Stunden lang die Stadtverwaltung von Dschalalabad. Sie wurden von usbekischen Gegendemonstranten unter der Führung von Batyrow vertrieben, die danach zu Häusern der Familie des gestürzten Präsidenten weiterzogen und diese niederbrannten. Im Mai starben wieder zwei Menschen bei Zusammenstößen in Dschalalabad und Dutzende wurden verletzt. Was als politischer Streit zwischen Anhängern und Gegnern des Regimes begonnen hatte, entwickelte sich so zum ethnischen Konflikt. Und es brauchte nur einen lächerlichen Auslöser, den Streit zwischen zwei Jugendbanden in Osch, um ganz Südkirgistan in Brand zu setzen.
Noch im Mai verstanden sich die Anhänger Batyrows als Unterstützer der Übergangsregierung in Bischkek. Aber dann mussten sie feststellen, dass ihnen die Regierung keinen Beistand leistete, als Polizei und Armee auf usbekische Demonstranten schossen. Das lag nicht allein an der fehlenden Kontrolle der Regierung über die Sicherheitskräfte, sondern auch an den durch die ethnischen Konflikte veränderten politischen Realitäten im Land. Der Rauch über Osch hatte sich noch nicht verzogen, als die Übergangsregierung mit den Vorbereitungen für das Verfassungsreferendum begann und sich um das Schicksal der Gewaltopfer nicht weiter kümmerte. Tatsächlich fehlt es Bischkek an politischem Handlungsspielraum: Das Land ist bankrott, und die Ereignisse 2005 und 2010 haben gezeigt, dass ein paar tausend Demonstranten die Regierung stürzen können.
Nur einen Tag nach den Gewaltexzessen im Juni bat die neue Übergangsregierung unter Rosa Otunbajewa Russland um militärische Unterstützung. Aber in Moskau war man zu einer direkten Intervention in Kirgistan nicht bereit, obwohl es bereits ein Jahr vor den Ausschreitungen Gespräche über die Einrichtung eines russischen Militärstützpunkts bei Osch gegeben hatte. Vermutlich erinnerte sich die Führung in Moskau an das Jahr 1990, als schon einmal russische Truppen in dieser Region eingegriffen hatten, um ethnische Auseinandersetzungen zu beenden. Damals musste sich die „Zentralmacht“ von allen Seiten vorwerfen lassen, die Konflikte selbst zu schüren, um einen Vorwand für den Einmarsch zu haben.
Heute könnte die Stationierung russischer Truppen in Südkirgistan tatsächlich neue Gewalt auslösen. Zudem steht jede fremde Macht, die sich von der instabilen kirgisischen Regierung zu einer Intervention bewegen lässt, vor dem gleichen Problem: Spätestens beim nächsten Regimewechsel in Bischkek stünde die Präsenz der ausländischen Truppen infrage.
Die UN, die OSZE und zahlreiche Einzelstaaten haben inzwischen die Entsendung einer internationalen Untersuchungskommission gefordert, um die Ursachen der Gewalt zu ergründen. Nach dem Sturz der Regierung und den Unruhen in Bischkek am 7. April waren diese Forderungen schon einmal erhoben worden. Aber es bleibt fraglich, wie viel politische Entschlossenheit die internationale Gemeinschaft in diesem Fall aufbringt: Eine genaue Untersuchung der Rolle der kirgisischen Polizei und des Militärs könnte unerwünschte Ergebnisse bringen und einen hohen innenpolitischen Preis fordern.
Das Angebot der OSZE, „Polizeikräfte“ nach Südkirgistan zu schicken, hat die Führung in Bischkek bereits abgelehnt, vermutlich um Russland nicht zu verärgern. Außerdem verschärfen die jüngsten Gewaltexzesse Kirgistans wirtschaftliche Probleme. Das Land war stets von ausländischer Hilfe abhängig. Das Image eines von ethnischen Konflikten zerrütteten Bürgerkriegslands trägt nicht gerade zum Zufluss weiterer Zahlungen bei.
Nur ein Land hat sowohl ein Interesse als auch die Möglichkeiten, in Kirgistan zu intervenieren: Usbekistan. Das Regime in Taschkent gebietet über 100 000 Soldaten (Kirgistan über nur 12 000) und unterhält überall entlang der Grenze Militärstützpunkte. Die Usbeken in Kirgistan zu schützen, wäre jederzeit ein guter Vorwand für militärisches Eingreifen gewesen. Aber der usbekische Präsident Islam Karimow vertrat den Standpunkt, die Konflikte seien von „dritten Mächten“ inszeniert worden, und machte klar, dass sein Land sich nicht einmischen werde. Mit der ersten Flüchtlingswelle aus Kirgistan kamen 80 000 bis 100 000 Menschen nach Usbekistan, für die man Lager errichtete. Als die Ausschreitungen im Nachbarland vorüber waren, wurden sie sofort zurückgeschickt.
Für die usbekische Zurückhaltung gibt es mehrere Gründe: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzte man in Taschkent auf eine Ideologie der Nationalstaatlichkeit, eine Kommandoaktion zur Rettung der Usbeken in Osch hätte dazu schlecht gepasst. Überdies stammt die usbekische politische Führungsschicht vor allem aus Samarkand und Taschkent und hegt tiefes Misstrauen gegenüber den politischen Gruppierungen im Fergana-Tal. In Taschkent verdächtigt man die südkirgisischen Usbeken schon lange, radikale islamistische Gruppen zu unterstützen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang der sozialistischen Systeme kamen im Osten vielfach nationalistische Kräfte an die Macht – mit schlimmen Folgen, wie im Kaukasus oder auf dem Balkan. Im Kaukasus konnte dieser Nationalismus noch als revolutionäre Kraft gelten, als Allianz der oppositionellen Intelligenzija, die es verstand, die Massen zu mobilisieren und die Nomenklatura der Sowjetära zu entmachten. Aber im früheren Jugoslawien gelang es der alten Elite, den neuen Nationalismus für die eigene Machterhaltung zu instrumentalisieren. In beiden Fällen kam es zu Kriegen, die hunderttausende Menschenleben forderten und Millionen aus ihrer Heimat vertrieben. Die Folgen sind bis heute nicht abzuschätzen.
Was in Osch geschehen ist, könnte der Auslöser für eine neue usbekische Nationalbewegung sein. Und da die Usbeken etwa die Hälfte der Bevölkerung Zentralasiens ausmachen und mit starken Minderheiten in vielen angrenzenden Ländern vertreten sind, könnten die Grenzen in dieser Region demnächst infrage gestellt werden. Und warum sollte sich der usbekische Nationalismus nicht nach dem Vorbild Afghanistans mit einer islamistischen Ideologie verbinden?5 So sind die Ereignisse in Osch vielleicht sehr viel mehr als ein unbedeutender Konflikt zweier Volksgruppen in einer entlegenen Weltgegend. Und die Großmächte hätten ein begründetes Interesse, die Entwicklungen in dieser Region ein wenig ernster zu nehmen.
Aus dem Englischen von Edgar Peinelt
Vicken Cheterian ist Journalist und Autor von „War and Peace in the Caucasus: Russia’s Troubled Frontier“, New York (C. Hurst & Co. Publishers) 2009.