Wegzoll, Schutzgeld, Schmuggel
In Afghanistan verdienen die Taliban immer mit von Louis Imbert
Für Hadschi Mohammed Schah war es eine Pleite. Der Bauunternehmer hatte im vergangenen Jahr mit dem Bau einer Straße bei Kundus im Norden Afghanistans begonnen. Das Geld dafür, 63 600 Euro, kam von der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB). Der 25 Kilometer lange Abschnitt sollte es den Bauern aus dem Bezirk Schahar Dara erleichtern, ihre Waren zum Markt in der Provinzhauptstadt zu bringen.
Doch dann erschien gleich zu Beginn der Bauarbeiten beim Ältestenrat des Bezirks, dem Auftraggeber von Mohammed Schah, ein Vertreter der Taliban und forderte eine Abgabe. Um sicherzustellen, dass die Straße gebaut werden konnte, flossen 13 900 Euro an die Taliban. Kurz darauf kam ein zweiter Abgesandter, auch er wurde bezahlt. Dem dritten Geldeintreiber mussten die Ältesten erklären, dass die Kasse leer ist. Und so musste Mohammed Schah eines Tages im März 2010 bei der Rückkehr zur Baustelle erleben, dass ein Trupp Bewaffneter nicht nur zehn seiner Maschinen in Brand gesteckt, sondern auch die Arbeiter als Geiseln genommen hatte. Der finanzielle Verlust belief sich auf 176 000 Euro, die Versicherung hat bis heute noch nicht gezahlt.
Mohammed Omar, Gouverneur der Provinz Kundus, kann nicht genau sagen, was bei der Sache schiefgelaufen ist: Die Ältesten haben entweder nicht genug gezahlt oder die falschen Leute geschmiert. Seine fatalistische Schlussfolgerung: „Die Taliban machen hier, was sie wollen. Sie töten, sie foltern, und sie erpressen Schutzgeld nach Belieben.“ Der Gouverneur kennt das Ausmaß des Erpressungssystems, das sein Gegenspieler, der „Schattengouverneur“ von Kundus, aufgezogen hat. Die Taliban fordern Abgaben bei fast allen Bauvorhaben in der Region: bei Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäusern. An jedem Beitrag zum Wiederaufbau Afghanistans bereichern sich die Taliban.
Die Antwort auf die Frage, wie Taliban-Führer Mullah Omar seine Kriegskasse füllt, besteht häufig nur aus einem Wort: Opium. Laut einem Ende 2009 vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) veröffentlichten Bericht macht das Drogengeschäft allerdings nur 10 bis 15 Prozent der Taliban-Einkünfte aus.1
„Das meiste Geld stammt aus Abgaben, die vor Ort erhoben werden“, meint Kirk Meyer, der die „Afghan Threat Finance Cell“ (ATFC)2 in der US-Botschaft in Kabul leitet. „Wie viel von den Gewinnen aus dem Opiumanbau in Helmand3 in die ärmeren Provinzen fließt, wissen wir nicht. Im Übrigen leben die Taliban von den Geldern zweifelhafter Hilfsorganisationen und von Entführungen. Auch schmuggeln sie Zedernholz und Chromerz über die Grenze nach Pakistan.“
Der 32-jährige Abdul Kader Modschaddedi ist Ingenieur und stammt aus einer einflussreichen Familie. Sein Onkel Sibghatullah Modschaddedi war 1992 der erste Staatspräsident Afghanistans nach dem Sturz des kommunistischen Regimes und ist derzeit Präsident des Oberhauses (Meschrano Dschirga) in Kabul. Abdul Kader leitet derzeit den Bau einer sieben Kilometer langen Straße am Fuß der Berge in der Provinz Laghman. Natürlich lässt er seine Baumaschinen bewachen. Allerdings haben nur die Hälfte der Wachmänner eine Art Uniform, die andere Hälfte ist traditionell gekleidet und trägt ausnahmslos Vollbart. Der Grund ist einfach: Diese Leute werden von der örtlichen Taliban-Führung gestellt, zum Pauschalpreis von 52 000 Euro für die gesamte Dauer der Arbeiten. „Das ist fast umsonst“, meint Abdul Kader Modschaddedi mit einem Lächeln. „Wenn ich 100 Wachleute beschäftigen muss, kostet mich das 16 000 Euro im Monat. Mit den Taliban sind es nur 8 000, und die Baustelle ist wirklich sicher.“
Vier oder fünf Überfälle hat es zwar gegeben, aber seit sechs Monaten ist alles ruhig. Der Provinzgouverneur zeigt sich begeistert, und die Amerikaner, die das Projekt über eines ihrer „Provincial Reconstruction Teams“ finanzieren (ein militärisches Programm, um „die Herzen der Afghanen zu gewinnen“), halten sich heraus.
Die kleine Baustelle in Laghman ist kein Einzelfall. Wali Mohammed Rasuli, bis vor vier Monaten stellvertretender Bauminister, rechtfertig das System: „Ich habe zweimal zwei Stunden lang mit Präsident Hamid Karsai darüber gesprochen. Wenn wir die Straßen bauen, fördern wir damit Handel und Verkehr, das verbessert automatisch die Sicherheitslage. Wir zahlen doch schon längst an die Taliban. Diese Heuchelei muss ein Ende haben!“ Aber der jetzige Bauminister will davon so wenig wissen wie die internationalen Geldgeber. Der offizielle Linie ist: Wir zweigen nichts an die Aufständischen ab.
Opfer der Schutzgelderpressungen werden vor allem die lokalen Zulieferer des US-Militärs. Jeden Monat sind zwischen 6 000 und 8 000 Lastwagenkonvois unterwegs, um die etwa 200 Militärstützpunkte in Afghanistan mit allem zu versorgen, was für die Kriegführung notwendig ist: Munition, Treibstoff, Büromaterial, Toilettenpapier, Fernsehapparate.4 Der gigantische Nachschub wird großenteils von Privatunternehmen bewältigt, und zwar auf der Basis des „Host Nation Trucking“-Vertrags, der im März 2009 vom US-Verteidigungsministerium mit zivilen Dienstleistern geschlossen wurde. Das Auftragsvolumen beläuft sich auf 2,16 Milliarden US-Dollar oder 16,6 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts 2009. Ein Sprecher der internationalen Afghanistan-Schutztruppe Isaf erklärt dazu: „Das Netzwerk der Subunternehmer ist uns unbekannt. Ob die was an die Taliban zahlen, um sicher durchzukommen, wissen wir nicht. Wir stecken Milliarden in dieses Geschäft, da ist es schon möglich, dass ein paar Millionen bei den Aufständischen landen.“
Sarghuna Walisada ist die einzige Frau, die in Afghanistan ein Transportunternehmen leitet. Ihr Büro ist mit Möbeln aus den 1970er Jahren ausgestattet, sie empfängt die Besucher unverschleiert. Natürlich weiß sie, dass die Amerikaner unter großem Druck stehen. Und sie weiß auch, dass sie nicht für die Verluste aufkommen, wenn ein Konvoi unterwegs angegriffen wird. „An wen soll man also zahlen, an die Polizei, die Aufständischen, die Taliban?“ Die Antwort gibt sie selbst: „Das ist mir völlig egal. Was zählt, ist, dass die Lastwagen durchkommen.“ In manchen Fällen kann man sogar auf bewaffnete Begleiter verzichten: „Wozu sollten wir die brauchen? Die Taliban sorgen für unsere Sicherheit.“
„Natürlich zahlen wir an die Taliban“, meint auch Ghulam Abas Ayen, der Vorsitzende der größten Lastwagenfahrergewerkschaft des Landes. „Wir werden schlicht und einfach erpresst. Manche Sicherheitsfirmen verlangen 2 000 Dollar pro Container für eine Strecke von ein paar hundert Kilometern. Bei solchen Preisen könnte ohne weiteres die Hälfte des Geldes am Ende bei den Taliban landen.“
Und wie verständigt man sich über die Durchfahrtsrechte? Jedenfalls nicht in direkten Verhandlungen mit dem Gegner, versichert Juan Diego Gonzales: „Mein Chef wünscht nicht, dass ich direkt mit den Stammesführern in Helmand spreche.“ Der ehemalige US-Soldat arbeitet heute für die private afghanische Sicherheitsfirma White Eagle.
Nachschub für die Isaf unter dem Schutz der Taliban
„Wir haben Kontaktleute, die uns vor Ort das Wachpersonal besorgen“, erzählt Gonzales. „Manchmal werden die Konvois sogar direkt von einem Stammesführer oder dessen Sohn begleitet. Man kann dann nur hoffen, dass sie keine engen Verbündeten der Taliban sind.“ In vielen Gebieten wechseln die Machtverhältnisse ständig. Um im Geschäft zu bleiben, darf man sich nicht nur auf die Zusagen eines einzigen Warlords verlassen, denn niemand kann allein die Sicherheit der Lieferungen garantieren.
Gonzales hat also immerhin die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Partner zu wählen. Das gilt für andere Strecken nicht, wie ein afghanischer Mitarbeiter der australischen Firma Tac Force erläutert: „Es gibt ernste Probleme, wenn man versucht, auf eigene Faust durchzukommen. Wer nicht die Zustimmung des lokalen Kriegsherrn einholt, riskiert sein Leben.“ Um den „richtigen“ Machthaber im jeweiligen Gebiet ausfindig zu machen, vertraut Tec Force auf die Empfehlungen des afghanischen Innenministeriums.
Der zurzeit mächtigste Herr der Straßen nennt sich Ruhullah. Kein Vertreter der US-Armee hat ihn jemals zu Gesicht bekommen. Ruhullah ist um die vierzig. Unter dem Ärmel seines traditionellen Gewands blitzt eine Rolex hervor. Gemeinsam mit den Brüdern Popal, den Eigentümern der Firmengruppe Watan und Cousins von Präsident Karsai, kontrolliert Ruhullah einen wichtigen Abschnitt der Fernstraße Nr. 1, die von Kabul über Kandahar in den paschtunischen Süden des Landes führt. Auf dieser Strecke sind die Lastwagen üblicherweise in Konvois von 300 Fahrzeugen unterwegs, begleitet von 400 bis 500 privaten Sicherheitskräften. Dieser Aufwand erhöht die Transportkosten für einen Containers nach Kandahar auf bis zu 1 200 Euro.
Ein Bericht des US-Repräsentantenhauses kommt zu dem Schluss, dass Ruhullah und seine westlichen Geschäftspartner mit der Eskortierung von Nachschubkonvois „jährlich dutzende Millionen Dollar verdienen“5. Ruhullah und die Popal-Brüder bestreiten jedoch beharrlich, dass sie Schutzgelder an die Taliban zahlen, wenn sie es anders nicht schaffen. Sie verweisen darauf, dass sie im vergangenen Jahr 150 ihrer Männer verloren haben.
Zahlreiche mit Nachschub- und Sicherheitsaufgaben betraute Firmen beschweren sich bei der US-Armee immer wieder über die Kosten, die ihnen durch die erzwungene Zusammenarbeit mit den Warlords entstehen. Doch das Militär kann ihnen nicht weiterhelfen.
Für die Taliban kommt das Geld aber nicht nur aus den Gewehrläufen. Diskrete Bankgeschäfte sorgen für einen steten Strom von Zuwendungen aus den Golfstaaten, via Dubai und Pakistan. Hauptumschlagsplatz für Devisen ist der Geldwechslermarkt Sarai Schahsada im Zentrum von Kabul: drei Etagen winziger Wechselstuben, gruppiert um einen Innenhof, Holztische, auf denen sich Bündel von Geldscheinen stapeln – Dollar, Rupien, Yuan. Es herrscht ein reges Treiben, wie zu alten Zeiten in den Pariser Markthallen.
Laut einer Studie der Afghan Threat Finance Cell wickeln 96 Prozent der Afghanen ihre Geldgeschäfte lieber in solchen Wechselstuben ab als bei einer Bank. Hier müssen sie nur die Tür zu einer der zahllosen kleinen Maklerbüros (hawalas) aufstoßen, deren Größe nichts darüber besagt, welche Summen hier Tag für Tag getauscht und bewegt werden.
Das Geschäftsmodell existiert seit dem 18. Jahrhundert: Über ein Netzwerk vertrauenswürdiger Mittler können innerhalb von Stunden hunderttausende von Euro an jeden Ort der Welt transferiert werden – und das zu sehr geringen Gebühren. Die Basis des Systems ist Vertrauen: Jeder kennt seine Kunden und deren Bürgen. Hadschi Nadschibullah Achtary, Chef des Kabuler Geldwechsler-Verbands, schätzt, dass auf diese Weise täglich 4 Millionen Euro bewegt werden.
Seit 2004 versucht der afghanische Staat, die Geldhändler zu registrieren und eine monatliche Aufstellung ihrer Transaktionen zu erhalten. „Hier kommen jeden Tag dutzende Geheimdienstleute vorbei und werfen einen Blick in die Bücher“, meint ein Händler namens Achtary. Aber auf dem Geldmarkt von Kandahar, wo exorbitante Summe transferiert werden, verbieten sich solche Inspektionen aus Sicherheitsgründen. Das ist ein wichtiger Grund, warum ein erheblicher Teil der Taliban-Gelder über dieses traditionelle Hawala-System fließt.
Die Sondereinheit für Finanzgeschäfte bei der afghanischen Zentralbank hat ermittelt, dass seit Januar 2007 saudische Gelder in Höhe von etwa 1,3 Milliarden Dollar ins Land geflossen ist. „Dieses Geld findet seinen Weg in die pakistanischen Stammesgebiete“, erklärt Mustafa Masudi, der Leiter der Abteilung. „Wer braucht denn da saudische Rial, fragt man sich.“ Laut Masudi wird das Geld dann von Peschawar im Norden Pakistans über das Hawala-System nach Kabul transferiert, und dort in Dollar umgetauscht. „Diese Dollars fließen dann weiter in die Gebiete der Aufständischen, während die Rials ganz legal auf dem Luftweg wieder nach Dubai zurückgehen.“
Genau dagegen wettert der Sicherheitsbeauftragte des Kabuler Flughafens, General Mohammed Asif Jabbar Cheel. Nach geltendem Recht darf jede Privatperson einige Millionen Dollar an Bargeld außer Landes bringen, sofern das Geld beim Zoll deklariert wurde. Und auch in Dubai sind die Behörden großzügig im Umgang mit dem Zufluss von Geld aus unbekannten Quellen, besonders seit der Finanzkrise von 2009.
Nach Auskunft eines US-Regierungsvertreters sind 2009 mehr als 1,75 Milliarden Euro vom Flughafen Kabul in die Golfemirate gelangt. Mustafa Masudi von der Zentralbank liefert dazu ein erstaunliches Detail: Fast alle Geldtransfers wurden von nur zehn bis zwölf Personen abgewickelt, die zumeist im Hawala-System tätig sind. General Jabbar legt uns eine Liste mit Namen vor, manche sind fett unterstrichen: Einer hatte letztes Jahr insgesamt 360 Millionen Euro im Gepäck, der nächste 69 Millionen und so weiter.
Natürlich sind nicht alle diese Gelder für die Taliban. Manche stammen aus ganz legalen Quellen, andere wurden von afghanischen Funktionären beiseitegeschafft, die sie von internationalen Hilfsgeldern abgezweigt haben, wieder andere stammen aus dem Drogenhandel, der aber keineswegs ein Monopol der Aufständischen ist. Die in Plastikfolie eingeschweißten Geldscheine, die palettenweise in den Frachträumen von Ariana Afghan Airlines lagern, machen aber auch die haushaltspolitischen Probleme Afghanistans deutlich.
2009 verzeichnete der Staat 636 Millionen Euro an Zolleinnahmen; die Regierung hatte mit der doppelten Summe gerechnet. Der zuständige Staatssekretär ist ein junger Mann namens Said Mubin Schah. Er ist guten Willens, aber er traut sich nicht in alle Grenzgebiete, weil sich das Problem stellt, wer ihn dort schützen soll, und zwar vor der Polizei. Viele im Grenzgebiet stationierte Polizisten betätigen sich nämlich als Zollbeamte, um in die eigene Tasche zu wirtschaften.
Deshalb ließt sich Mubin Schah bei seinem Besuch in der Grenzstadt Spin Boldak in der Provinz Kandahar von der Schutztruppe eines lokalen Warlord begleiten – der im Verdacht der Kooperation mit den Taliban steht. So schließt sich der Kreis.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Louis Imbert ist Journalist.