Kosovo muss warten
Serbiens erfolgreiche Rückzugsgefechte von Jean-Arnault Dérens
Bei der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar 2008 ging Premierminister Hashim Thaci davon aus, dass sein Land innerhalb weniger Wochen von „etwa einhundert“ Staaten anerkannt wird. Auch die westlichen Befürworter des neuen Staats waren zuversichtlich, dass der Anerkennungsprozess schnell vorankommen werde. Serbien dagegen machte sich keine großen Hoffnungen. Es verfolgte eine eher zurückhaltende Gegenstrategie und begnügte sich damit, seine Botschafter – zumindest vorübergehend – aus den Ländern zurückzurufen, die das Kosovo als Erste anerkannten.
Inzwischen haben 70 Staaten diese Anerkennung vollzogen. Das ist deutlich weniger als die Mehrheit der (192) UN-Mitgliedstaaten, weshalb Prishtina der Zugang zu fast allen internationalen Organisationen nach wie vor versperrt ist.1 Das sieht nach einem ziemlich unerwarteten Erfolg für Serbien aus. Als Verbündete konnte Belgrad vor allem auf Russland und China zählen, die ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind. Der größte Widerstand gegen die Anerkennung des neuen Staats kam jedoch aus Asien und Afrika. Dort wird der Präzedenzfall Kosovo misstrauisch beäugt, weil viele Länder selbst mit latenten oder offen sezessionistischen Bestrebungen zu tun haben. Dieses Unbehagen erklärt die Unterstützung Belgrads durch Länder wie Marokko und Indonesien, aber auch durch das EU-Land Spanien.
Zu den Staaten, die Prishtina die Anerkennung noch verweigern, gehören fast alle Länder Lateinamerikas, drei Viertel der Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union (AU) und sogar die Mehrheit der Mitglieder der Islamischen Konferenz (Organization of the Islamic Conference, OIC). Bei den OIC-Mitgliedern scheinen die antiamerikanischen Vorbehalte stärker gewesen zu sein als die Solidarität mit einem mehrheitlich muslimischen Staat. In vielen islamisch geprägten Ländern wurde die Unabhängigkeit des Kosovo als Ergebnis einer direkten Intervention der USA wahrgenommen. In der muslimischen Welt haben nur die eng mit Washington verbundenen Regierungen das Kosovo anerkannt: Afghanistan, Saudi-Arabien, Kuwait und Bahrein. Hinzu kommt die Türkei, die als Erbin des Osmanischen Reichs eine besondere historische Beziehung mit dem Kosovo verbindet.
Die serbische Seite fand dagegen konsequente Unterstützung durch die Maghreb-Staaten und erklärte Gegner der US-Politik wie Syrien, Libyen und den Iran. Da sich die Serben dieser Länder sicher waren, konnten sie sich mit ein paar diplomatischen Gesten begnügen. So bekräftigte Staatschef Boris Tadic gegenüber dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas bei dessen Besuch in Belgrad, dass Serbien an den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats festhält. Das bezog sich auf die UN-Beschlüsse zu Palästina, aber natürlich auch auf die Resolution 1244 vom 10. Juni 1999, in der die „territoriale Unversehrtheit“ der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien bestätigt wurde, was die Souveränität über das Kosovo einschließt.
Auch in Afrika war Serbien bemerkenswert erfolgreich, obwohl man davon ausgehen musste, dass dort viele Staaten für die „Ratschläge“ – oder den Druck – von ehemaligen Kolonialmächten wie England und Frankreich empfänglich sein würden. Was die französische Diplomatie betrifft, so konnte die im ersten Halbjahr 2010 einzig Dschibuti zur Anerkennung des Kosovo überreden. Serbien konnte für seine aktive Politik in Afrika noch immer auf ein gut funktionierendes Netzwerk zurückgreifen und war auch bei allen Gipfeltreffen der Afrikanischen Union vertreten, wo es über einen Beobachterstatus verfügt. An demselben 22. Juli, an dem der Internationale Gerichtshof (IGH) die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo für legal erklärte, hielt Vizepremier Bozidar Djelic eine Rede auf dem AU-Gipfel im ugandischen Kampala.
In diesem Duell hatte Belgrad von Anfang an bessere Karten als Prishtina, das als Novize auf der internationalen Bühne auf die Unterstützung seiner mächtigen Verbündeten in Europa und Nordamerika angewiesen war. Aber im Kosovo beklagten viele auch die angebliche Passivität von Außenminister Skender Hyseni. Um ihre unbeirrbare Verbundenheit mit dem Westen deutlich zu machen, zögerte die Regierung fast zwei Jahre lang, die Karte der „islamischen Solidarität“ zu spielen. Mittlerweile hat man diese Politik überdacht, und der Großmufti von Prishtina, Naim Ternava, ist seitdem in aller Welt mit einigem Erfolg als Lobbyist unterwegs.
Serbien wusste auch die Verbindungen und Netzwerke einer Organisation zu nutzen, die nur noch in den Geschichtsbüchern zu existieren schien: Die Bewegung der Blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement, NAM), zu deren Gründervätern Jugoslawiens Präsidenten Tito gehörte und deren erste Konferenz 1961 in Belgrad stattfand. Die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren spalteten die Bewegung in zwei Lager. Die islamisch geprägten Länder unterstützen mehrheitlich Bosnien-Herzegowina, während andere ihre enge Verbindung zu Belgrad weiter pflegten. Dass Serbien diese alten Verbindungen reaktivieren konnte, hat auch damit zu tun, dass es keinem Militärblock angehört und auch kein Nato-Beitrittskandidat ist.
Diplomatische Ruinen
Viele Staaten wollten vor einer Entscheidung über die Anerkennung des Kosovo das Rechtsgutachten des IGH abwarten, das am 22. Juli veröffentlicht wurde. Auch danach sind nach Einschätzung des serbischen Außenministeriums noch fast 50 Staaten „unentschlossen“ – vor allem in Afrika und der Karibik. Obwohl diese Staaten für die Argumente aus dem Westen empfänglich sein dürften, will Serbien seine Strategie nicht ändern. Eine Sondersitzung des serbischen Parlaments am 26. Juli gab der Regierung grünes Licht für die Fortsetzung ihrer Kampagne. Im Hinblick auf die UN-Vollversammlung im September haben die Serben ihre Bemühungen sogar noch verstärkt: 55 Emissäre sind in aller Welt unterwegs, um „Wackelkandidaten“ auf die Seite Belgrads zu ziehen.
Gerade auf diplomatischer Ebene hat Serbien jedoch große Probleme. Das aus jugoslawischer Zeit übernommene Netz diplomatischer Vertretungen ist hoffnungslos überdimensioniert. Die Eigentumsverhältnisse bei einigen Gebäuden sind ungeklärt; Belgrad muss häufig horrende Mieten zahlen, um Gebäude nutzen zu können, die mittlerweile anderen Republiken gehören. Die serbischen Vertretungen arbeiten deshalb oft nur eingeschränkt, es herrscht Personalmangel, die Botschaftsgebäude sind mitunter halbe Ruinen.
Serbien ist auch deshalb in einer heiklen Lage, weil es im Frühjahr 2009 ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) geschlossen hat: Um einen Stabilisierungskredit in Höhe von 3 Milliarden Euro zu erhalten, musste man sich zu einem harten Sparkurs verpflichten. Das trifft natürlich auch den Etat des Außenministerium. Die Folgen beschreibt ein in Afrika tätiger serbischer Diplomat, der nicht namentlich genannt sein will: „Wir haben nur noch einen einzigen Auftrag. Wir sollen verhindern, dass die Länder, in denen wir akkreditiert sind, das Kosovo anerkennen. Alle anderen Projekte sind auf Eis gelegt.“
Aber hat diese Politik eine Perspektive? Im Juli 2009 kehrte Präsident Tadic hochzufrieden vom Blockfreien-Gipfel im ägyptischen Scharm al-Scheich zurück. Er glaubte, in der Kosovo-Frage die Unterstützung einiger wertvoller Partner gesichert und überdies durch neue Wirtschaftsabkommen wichtige Märkte erschlossen zu haben. Aber es gab auch kritische Stimmen. So hat Tanja Miscevic, ehemalige Leiterin des serbischen Regierungsbüros für Europäische Integration, darauf hingewiesen, dass die unterzeichneten Verträge höchstwahrscheinlich annulliert würden, sobald Serbien der Europäischen Union beitritt. Dieser Moment liegt allerdings noch in weiter Ferne. Kurzfristiger ist die Idee Belgrads, 2011 zum 55-jährigen Jubiläum der Brioni-Deklaration2 einen Gipfel der blockfreien Staaten zu organisieren, aber auch dieses Projekt droht an fehlenden Geldern und mangelndem politischen Willen zu scheitern.
Die Ziele der serbischen Diplomatie lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: Opposition gegen jedwede Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo und Beitritt zur Europäischen Union. Formell hat Brüssel den serbischen EU-Beitritt bislang nicht von einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Prishtina abhängig gemacht. Doch politisch ist eine EU-Mitgliedschaft Serbien kaum denkbar, solange kein Konsens über die Grenzen des neuen Beitrittsstaats besteht.3
Derzeit versuchen die 27 EU-Staaten trotz unterschiedlicher Positionen4 eine Minimalposition zu definieren. Die könnte darin bestehen, dass Serbien und das Kosovo ein „gutnachbarliches Verhältnis“ aufbauen. Wobei niemand davon ausgeht, dass Serbien die Sezession seiner ehemaligen Provinz schon bald offiziell anerkennen könnte. Sollte Belgrad jedoch seine diplomatische Offensive fortsetzen, riskiert es den Bruch mit Brüssel.
Bei der UN-Vollversammlung im September dürften zwei Resolutionen zur Abstimmung stehen: die eine von Serbien, die andere von der EU formuliert. Dabei hat Belgrad gute Chancen, seine Resolution durchzubekommen. Aber das wäre ein zweifelhafter Erfolg, weil man offenbar keine andere Strategie hat, als die internationale Anerkennung des Kosovo so lang wie möglich hinauszuzögern. Serbien hat zwar seine Bereitschaft erklärt, neue Verhandlungen über den territorialen Status des Kosovo aufzunehmen, aber dazu hätte es nur bei einer negativen Entscheidung des IGH kommen können.
Belgrad will allerdings auch keine offene Konfrontation mit dem Westen riskieren. Und europäische Diplomaten haben den ganzen Sommer über versucht, die Serben von der Vorlage einer „harten“ Resolution bei der UN-Vollversammlung abzubringen. Es könnte also durchaus sein, dass das „kleine Wunder“ der letzten beiden Jahre schon bald Schnee von gestern ist.
Aus dem Französischen von Jakob Horst
Jean-Arnault Dérens ist Chefredakteur von Courriers des Balkans (balkans.courriers.info). Zuletzt erschien (mit Laurent Geslin): „Voyage au pays des Gorani (Balkans, début du XXIe siècle)“, Paris (Cartouche) 2010.