Iwaishima sagt nein danke
Seit über 30 Jahren wehren sich die Bewohner einer kleinen japanischen Felseninsel gegen den Bau eines Atomkraftwerks von Rafaële Brillaud
Es ist ein strahlend schöner Tag. Das klare Wasser des Seto glitzert in der Sonne. Die Leute auf der Fähre tragen Sonnenhüte und lachen, als wären sie im Urlaub. Die Hauptinsel Honshu liegt bereits weit hinter uns. Als Steuerbord zwischen den Felswänden eine Bucht auftaucht, zücken plötzlich alle ihre Fotoapparate. „Das ist die Bucht von Tanoura. Dort wollen sie das Kraftwerk bauen!“ Die Atomkraftgegner auf dem Boot kommen aus Ibaraki, nordwestlich von Tokio. Sie sind auf dem Weg zur „Insel der Unbeugsamen“: Iwaishima.
Auf dem Eiland südlich von Hiroshima wohnen etwa 470 Menschen. Für Japans Atomkraftgegner ist die Insel ein Wallfahrtsort. Seit 30 Jahren wehren sich Iwaishimas Fischer und Bauern erbittert gegen den geplanten Bau von zwei Reaktoren auf der gegenüberliegenden Insel Nawashima – nur vier Kilometer Luftlinie von ihren Mispelplantagen entfernt und in unmittelbarer Nähe zu den Fischgründen der Doraden. Die Insulaner setzen sich seit Jahren mit Demonstrationen, Petitionen, Sit-ins und Baustellenbesetzungen zur Wehr – und haben es geschafft, die Bauarbeiten immer wieder aufzuschieben.
Im März 2011 sollte es dann endlich losgehen mit dem Bau des Reaktors. Doch kaum hatten die Arbeiten begonnen, ereignete sich die Katastrophe von Fukushima und der Bau wurde wieder gestoppt. Für die Bewohner von Iwaishima war das trotzdem kein Grund, zu triumphieren. Denn sie wissen, dass sie nur das Medieninteresse und eine Verschnaufpause gewonnen haben.
Japans Premierminister Shinzo Abe, der in der Nachbarregion Yamaguchi aufgewachsen ist, ist ein vehementer Befürworter der Rückkehr zur Atomkraft – selbst nachdem sich sein Vorgänger und ehemaliger Mentor in der Liberaldemokratischen Partei (LDP), Koizumi Junichiro, im vergangenen Herbst überraschend für den Verzicht auf die Atomenergie ausgesprochen hatte. Mit den neuen Sicherheitsbestimmungen, die seit dem 8. Juli 2013 in Kraft sind,1 werden die Reaktoren auf Nagashima früher oder später wieder auf der Tagesordnung landen. Der Stromkonzern Energia und die Mehrheit der Abgeordneten der Stadt Kaminoseki, zu deren Verwaltungsbezirk auch die Inseln Iwaishima und Nagashima gehören, haben sich bereits für den Bau ausgesprochen.
Vom Wasser aus sieht man von Iwaishima nur ein paar weiße Häuschen, die an den steilen Felsen der Insel kleben. Die terrassenförmig angelegten Obstgärten liegen versteckt inmitten unberührter Natur. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blühte Iwaishima dank des subventionierten Mandarinenanbaus auf. Doch als der japanische Markt für Zitrusfrüchte aus den USA geöffnet wurde, gab es nicht mehr genug Arbeit, und die Menschen zogen weg. 1947 hatte Iwaishima noch über 3 400 Einwohner; in den 1980er Jahren, als die Idee mit dem Kraftwerk aufkam und sich der erste Widerstand regte, waren es nur noch etwa 1 000 Menschen.
„Die Leute werden älter, und die Bewegung wird schwächer“, sorgt sich der 58-jährige Abgeordnete Shimizu Toshiyasu, der bei den Protesten von Anfang an dabei war. Seit über 30 Jahren ziehen die Inselbewohner jedes Wochenende durch die Straßen und skandieren drei Wörter, die auch auf ihren weißen Stirnbändern stehen: „Genpatsu zettai hantai“ („Ganz und gar gegen das Kraftwerk“). Die Aktivisten, alt und grau geworden, haben inzwischen Mühe, selbst die verkürzte Strecke durchzuhalten. Doch heute sind die Besucher aus Ibaraki dabei, um die Reihen der Demonstranten aufzufüllen. Nur findet diesmal kein Umzug statt. Ein Inselbewohner ist verstorben und Iwaishima ist in Trauer.
Masaki Yoshida, Angestellter im Rathaus von Kaminoseki, fasst die Situation zusammen: „Mehr als die Hälfte der 3 300 Einwohner von Kaminoseki sind älter als 65 Jahre. Die Stadt benötigt jedes Jahr 3,5 Milliarden Yen, aber die Steuereinnahmen belaufen sich auf lediglich 0,2 Milliarden.2 In den 1980er Jahren lebten hier 6 700 Menschen, in den 1960ern 12 000. Unsere Kinder gehen weg, weil sie hier keine Arbeit finden. Wir haben weder genug Land noch genug Wasser, um Unternehmen anzuziehen. Und wir liegen weit ab von den großen Verkehrsachsen.“
Algenkultur und Tanz der Götter
Die Stadt versucht seit Jahrzehnten die Abwanderung einzudämmen. Schon 1969 wurde eine Brücke gebaut, um Nagashima mit der Hauptinsel Honshu zu verbinden, auf der Hiroshima, Osaka und Tokio liegen. Damals waren die Hoffnungen groß: Auf einem verblichenen Plakat sieht man drei ältere Menschen, die lachend eine Gruppe junger Leute in Empfang nehmen. In Wahrheit aber sind die jungen Leute nicht zurückgekommen.
Im November 1976 schlug Mitsubishi vor, nur einen Steinwurf von Rathaus und Brücke entfernt eine große Anlage zur Lagerung von Flüssiggas zu errichten. Seit der Ölkrise von 1973 fördert die japanische Regierung Projekte zur Gewinnung und Lagerung von Flüssiggas. Für die Umsetzung hätten mehrere Hügel eingeebnet werden müssen. Doch die Landbesitzer sperrten sich, und alles wurde wieder abgeblasen.
Für manchen Lokalpolitiker ist das AKW-Projekt von Kaminoseki mit seinen schätzungsweise 1 500 festen Arbeitsplätzen und 3 000 Stellen während der Bauarbeiten vor allem ein Jobwunder. Erstmals kam die Idee während einer Sitzung des Gemeinderats im Juni 1982 auf. Zwei Jahre später gab Kaminoseki beim Stromkonzern Energia seine Bewerbung ab. Eine Entscheidung, zu der die Stadt selbst nach der Katastrophe von Fukushima noch steht: „Unsere Aufgabe ist es, Unternehmen anzulocken“, sagt Masaki Yoshida. Auf einem Schild am Ende der Brücke von Kaminoseki sieht man eine Kleinfamilie beim Picknick auf einer grünen Wiese – und im Hintergrund zwei Kühltürme.
„Dieses Kraftwerk“, sagt Energia-Direktor Harada Takenobu, „ist die einzige Lösung, um die Region wieder in Schwung zu bringen und die energiepolitische Unabhängigkeit des Landes zu bewahren. Das AKW könnte 900 000 Haushalte versorgen.“ Takenobus Eltern und Großeltern sind Hibakushas (Opfer des Atombombenabwurfs) aus Nagasaki, und seine Frau ist in Fukushima aufgewachsen. Doch seine Familiengeschichte scheint den Mann im makellosen Anzug nicht weiter zu beunruhigen. „Es hat keinen Sinn, gegen die technologische Entwicklung anzukämpfen“, verkündet er mit ruhiger Stimme. „Man muss nur die Leute in die Lage versetzen, mit der Atomenergie besser umzugehen.“
Der Kaminoseki-Reaktor ist das einzige neu geplante AKW Japans – alle anderen Reaktoren sollen an bereits existierenden Standorten gebaut werden. Er soll in einer Gegend errichtet werden, die berühmt ist für ihre Artenvielfalt. Seit 1934 ist das Gebiet ein Nationalpark. Die Bewohner von Iwaishima fürchten, dass das erwärmte Wasser aus den Reaktoren die Fische vertreiben wird und sie ihren Fang auf den Märkten von Hiroshima sowieso nicht mehr loswerden. Einer der Älteren, der in den 1970er Jahren im Kraftwerk von Fukushima gearbeitet hat und strahlenkrank zurückgekehrt ist, hat früh vor den Gefahren der Kernkraft gewarnt. „Und dann wohnen wir auch noch auf einer Insel“, meint Shimizu. „Bei einem Unfall könnten wir nicht fliehen.“
Am Kai von Iwaishima trocknet Yamato Takashis seine Ernte von schwarzen Hijiki-Algen in der Sonne. Der 36-Jährige verkauft seine Algen in ganz Japan. Er erklärt den Aktivisten aus Ibaraki, wie der Widerstand der Insulaner funktioniert. „Ich bin jung. Deshalb helfe ich den Alten. Dafür geben sie mir Tsukemono [eingelegtes Gemüse], und ich bedanke mich mit ein paar Hijiki. Diese Solidarität, das ist unser Reichtum, und der wird durch das Kraftwerk zerstört. Schauen Sie doch nur, wie gespalten die Gemeinde ist!“
Yamato Takashi ist im Jahr 2000 auf die Insel zurückgekehrt, um beim Kanmai-Festival von Iwaishima mitzumachen. Seit dem Jahre 886 wurde der „Tanz der Götter“ alle vier Jahre aufgeführt, außer 1984 und 1988 – wegen des Streits über das Kraftwerk. Mittlerweile ist Takashi Vater von drei kleinen Kindern. Er hängt an dem Land seines Großvaters. Es ist ein hartes Leben zwischen der See und den Bergen, geprägt vom Rhythmus der Jahreszeiten: Im Frühjahr sammelt Takashi Mispeln und Hijiki, im Sommer werden Tintenfische getrocknet, und im Herbst wird Tee hergestellt. Das alles schafft er nur mit der Unterstützung der anderen Inselbewohner, die ihm für einen Teil der Ernte oder für ein bisschen Geld zur Hand gehen.
Takashi hat die Fackel des Widerstands gegen das Atomkraftwerk von seinem Vater übernommen. In dem Dokumentarfilm „Wie eine Biene, die die Welt bewegt“ (2010) von Kamanaka Hitomi kann man ihm dabei zusehen, wie er an allen Fronten kämpft: Während sich die anderen Inselbewohner Tag und Nacht bei der Blockade der Zufahrtsstraße zur Bucht von Tanoura abwechseln, hält er Reden vor den Angestellten von Energia und kümmert sich danach um die älteren Damen, die schon seit mehreren Tagen im Regen ausharren. Man sieht ihn bis vor das Innenministerium marschieren, wo er eine Petition mit mehr als 600 000 Unterschriften abliefert und mit wütender Stimme ruft: „Kommen Sie wenigstens einmal zu uns und sehen Sie, wie die Alten auf einer Insel sterben, die erstickt wird!“
Nur noch ein Lehrer und drei Schüler
Iwaishima ist alles andere als eine kleine heile Welt. In seinem fesselnden Buch über Kaminoseki, „Hard Times in the Hometown“,3 erzählt der Historiker Martin Dusinberre, wie hart die Verachtung all jene trifft, die in den Verdacht geraten, das Pro-AKW-Lager zu unterstützen. Weil der Shinto-Priester das AKW-Projekt befürwortet, wird zum Beispiel der historische Shinto-Schrein in den Übersichtsplänen für Touristen nicht mehr aufgeführt. Das Kraftwerk spaltet die Gemeinde.
Im Zentrum von Dusinberres Buch steht jedoch die subtile Manipulation in Kaminoseki durch das Rathaus sowie den Stromkonzern Energia. Sie haben das Projekt vor Jahrzehnten gemeinsam geplant, aber mehrere Monate gewartet, bevor sie die Bevölkerung informierten. Schließlich saßen im Mai 1985 knapp 40 Mitarbeiter von Energia im Rathaus von Kaminoseki, doch die Pro-Atomkraft-Lobby behauptete weiter steif und fest, das Rathaus sei in der Sache neutral.
Bei Nemawashi, informellen Treffen, ließ der Energiekonzern reichlich Sashimi und Bier auffahren, um nebenbei über das geplante Atomkraftwerk zu plaudern. Gratisreisen zu anderen AKWs, auf denen ebenfalls der Alkohol in Strömen floss, warben für die Sicherheit der Kernkraft. An den „Energiekursen“, wie diese Marketingaktionen genannt wurden, hätten im Herbst 1982 bereits 1 000 Einwohner teilgenommen, schreibt Dusinberre. Außerdem haben Energia und auch der japanische Staat enorme Summen an Kaminoseki überwiesen: Fast 12 Milliarden Yen hat die Stadt bekommen, um die Infrastruktur zu erneuern, eine Schule bauen zu lassen und ein luxuriöses Spa. Wenn das AKW fertig ist, soll noch einmal die gleiche Summe fließen.
Iwaishima hat nicht einen Cent von diesem Geld angenommen. Die Inselbewohner legen großen Wert auf Autarkie. Es gibt ein Restaurant, in dem ausschließlich lokale Produkte auf den Tisch kommen, mehrere Lebensmittelläden, sogar ein kleines Postamt und eine Apotheke, wo man auch Zigaretten und Sake bekommt. Am Ende einer kleinen Straße, die zwischen Steinmauern den Berg hinaufführt, liegt die schöne große Schule. Die Klassenzimmer – ausgelegt mit poliertem Holzparkett – stehen leer. Hier unterrichtet nur noch ein einziger Lehrer drei Schüler. Von der zweiten Etage aus hat man einen herrlichen Blick auf die Bucht von Tanoura. „Auf Iwaishima sind die Leute doch nur deshalb gegen das Kraftwerk, weil es ihnen direkt vor die Nase gesetzt wird“, sagen die AKW-Befürworter.
Yamato Takashi hat keine Zeit, die Aussicht zu genießen. Nach Einbruch der Dunkelheit kocht er die letzte Ladung Hijiki. „Die Algen müssen frisch verarbeitet werden“, erklärt er den Besuchern aus Ibaraki. Geduldig beantwortet er alle ihre Fragen und versucht seine Erschöpfung zu verbergen. Doch man spürt einen leisen Verdruss. „Werden diese Leute auch noch in fünf oder zehn Jahren zu uns kommen?“, fragt er abseits der Gruppe. „Durch die Medien kennen viele unsere Situation. Aber das nützt alles nichts, wenn sich das Bewusstsein der Wähler nicht ändert. Nach Tschernobyl hat sich in Japan nichts verändert. Aber was wird nach Fukushima noch alles passieren?“