Rettet die Rote Nagelschmiede
Die Bauten der sowjetischen Avantgarde drohen zu verfallen von Jens Malling
Ein verlassenes Industriegebiet am Stadtrand von Sankt Petersburg. Der berühmte Newskiprospekt, die Luxusvillen und die Touristenmassen vor dem Winterpalais sind weit weg. Ein hohes Tor hängt schief in einer rostigen Angel. Streunende Hunde kläffen die seltenen Passanten an. Am Straßenrand steht ein zerbeulter Lada, aus den Rissen im Asphalt wächst das Unkraut.
Zwischen den verrosteten Gleisen ragt ein ungewöhnlicher Bau in den Himmel: der Wasserturm eines seit Langem stillgelegten Stahlwalzwerks. Lange Risse ziehen sich durch das Mauerwerk, der Putz bröckelt ab. Doch trotz seines erbärmlichen Zustands strahlt der 1930 erbaute Turm der „Roten Nagelschmiede“ immer noch einen gewissen Stolz aus. Die zerbrochenen Fensterscheiben im Ausguck wurden durch Holzplatten ersetzt. Eine davon ist abgefallen, das dunkle Loch wirkt wie das Auge eines erschöpften Zyklopen.
Auf den ersten Blick übersieht man leicht die Kraft, die diese Ruine aus der frühen Sowjetzeit immer noch ausstrahlt. Der Kontrast zwischen dem Zustand des Turms und der Schönheit seiner Form – schmucklosen Flächen, klaren Linien und Rundungen – könnte kaum größer sein. Der elegante Entwurf, der dem geometrischen Formenvokabular des Konstruktivismus folgt, stammt von Jakow Tschernikow (1889 – 1951), einem der großen Architekten und Grafikdesigner der russischen Avantgarde. Der Turm ist einer der wenigen erhalten gebliebenen Bauten von Tschernikow.
Betrachtet man die ästhetischen Linien des Turms, scheint es, als glimme ein zartes Leuchten in der dunklen Augenhöhle des Zyklopen – ein Zeichen, dass die Ideen, die ihm diese Gestalt verliehen haben, zu neuem Leben erwachen könnten?
„Der Wasserturm der Roten Nagelschmiede ist ein Wahrzeichen des Konstruktivismus“, erklärt Maria Makogonowa vom Historischen Museum in Sankt Petersburg. Zwischen hohen Stapeln aus Dokumenten und Büchern stehen zwei Tassen mit dampfenden Tee. Maria Makogonowa ist Spezialistin für sowjetische Avantgardearchitektur. „Es gab ein kleines Zeitfenster in der Geschichte, etwa zwischen 1925 und 1932, da blühte diese Architektur förmlich auf und konnte sich frei entwickeln. Die Architekten waren voller Idealismus. Und sie hatten eine gesellschaftliche Vision. Sie wollten das Versprechen der Revolution erfüllen und eine neue und bessere Gesellschaft aufbauen“, sagt Makogonowa. Diesen Optimismus strahlen die erhaltenen Gebäude noch heute aus.
Die Architekten bauten Arbeiterklubs, Schulen, Kaufhäuser, Kollektivwohnungen, Büros für die neue Verwaltung, Sportanlagen für die Werktätigen, Fabriken und Kraftwerke, Ferienanlagen und Sanatorien am Schwarzen Meer sowie riesige Gemeinschaftsküchen und -wäschereien.
Die Konstruktivisten lehnten Dekor und Verzierungen als bürgerlich dekadent ab. Die Form eines Gebäudes sollte seine Funktion ausdrücken. Von zeitgenössischen Malern wie Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch beeinflusst, gingen sie von elementaren geometrischen Formen aus.
Zu den Pionieren dieser innovativen wie visionären Architektur gehörten neben Tschernikow unter anderem Konstantin Melnikow (1890–1974), in dessen lichtdurchflutetem Wohnturm von 1928 heute noch sein Sohn lebt, Moisej Ginsburg (1892–1946), der mit dem Buch „Stil und Epoche“ 1924 das Manifest der konstruktivistischen Architektur verfasste, und die Moskauer Brüder Leonid (1880–1933), Viktor (1882–1950) und Alexander Wesnin (1883–1959), wobei Letzterer auch als Bühnenbildner und Maler abstrakter Kunst Erfolg hatte.
Während sich die Sowjetunion später ausländischen Einflüssen verschloss, waren die 1920er Jahre vom intensiven Austausch mit Westeuropa und den USA geprägt. Die europäischen Intellektuellen kamen in Scharen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie der Sozialismus in die Tat umgesetzt wurde, von Schriftstellern und Journalisten wie Stefan Zweig oder George Bernard Shaw bis zu den Philosophen Bertrand Russell und Walter Benjamin.
Zwei der damals bekanntesten Architekten, Le Corbusier und Erich Mendelsohn, wurden in die Sowjetunion eingeladen, um den „Aufbau der Revolution“1 mitzugestalten. Doch dieser architektonische Aufbruch währte nur wenige Jahre. Stalin verachtete die Avantgarde und wurde zum Totengräber des Konstruktivismus. Ab 1933 war nur noch konservative Kunst und Architektur erlaubt.
Für Maria Makogonowa gehören die Werke von Mendelsohn2 zu den schönsten. Die 1926 nach seinen Plänen erbaute Textilfabrik „Rotes Banner“ (siehe Foto) brach radikal mit der alten zaristischen Formensprache, die in Sankt Petersburg damals immer noch geschätzt wurde. Besonders spektakulär ist das runde Kraftwerk, das den gesamten Industriekomplex mit Strom versorgte. Diese Funktion spiegelt sich auch im Gebäudeensemble wider: Es scheint, als würde das Kraftwerk wie ein Schleppdampfer das Hauptgebäude hinter sich herziehen. Die frühere Fabrikationshalle wirkt mit ihren hohen, schmalen Fenstern wiederum wie ein Kirchenschiff. Mendelsohns Meisterwerk ist mittlerweile einsturzgefährdet; das Nebengebäude, direkt neben einem Autofriedhof, ist bereits eine Ruine.
In dem Sankt Petersburger Viertel Newskaja Zastawa entstand ein ganzes Quartier im konstruktivistischen Stil. Zwischen den dreistöckigen Häusern spannen sich riesige, elegant geschwungene Bögen über den Eingängen der Innenhöfe. In der Traktornaja Uliza (Traktorstraße) stehen Arbeiterhäuser in verblasstem Rot, die zwischen 1925 und 1927 erbaut wurden. Ein Stück weiter stößt man auf die Ruinen einer Fabrik. Das Arbeiterviertel Newskaja Zastawa sollte damals ein neues revolutionäres Gesicht bekommen, und so beauftragte die Regierung die drei Architekten Alexander Nikolsky, Alexander Gegello und G. A. Simonow, ein Stadion, einen Kulturpalast, eine Arbeiterkantine, eine Schule und ein großes Kaufhaus zu bauen. Viele dieser Gebäude stehen heute noch, auch wenn sich ihre Funktion geändert hat.
Von St. Petersburg bis Baku
Nicht nur Sankt Petersburg und Moskau bekamen damals lauter schöne neue Häuser. Die Energie und die kreativen Impulse der Avantgarde wirkten sogar bis jenseits des Ural. Der Konstruktivismus hinterließ seine Spuren auch nicht nur in Russland: In der Ukraine gibt es einige bedeutende Bauwerke, andere wurden im fernen Baku errichtet, der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans.
Doch die meisten noch erhaltenen Gebäude sind heute in einem erbärmlichen Zustand. Die postsowjetischen Regierungen hatten offensichtlich keinerlei Interesse daran, für ihren Erhalt zu sorgen. Davon zeugt etwa die beeindruckende Arbeit des britischen Architekturfotografen Richard Pare, der in den 1990er und 2000er Jahren durch Russland gereist ist.3
Leider geht die Tendenz heute sogar dahin, die konstruktivistischen Bauten abzureißen. Etwa ein Drittel ist bereits verschwunden. „Hier waren die Bulldozer schon“, sagt Makogonowa und zeigt uns dutzende Häuser der Sankt Petersburger Avantgarde, die nur noch in ihrem Computer existieren.
Durch das verstaubte Doppelfenster dringen ein paar Sonnenstrahlen in ihr kleines Büro in der historischen Peter-und-Pauls-Festung im Stadtzentrum. Hier kämpft Makogonowa mit ihren Mitstreitern darum, das architektonische Erbe der sowjetischen Avantgarde vor der Zerstörung zu retten. Tatsächlich würden immer mehr Leute begreifen, dass diese Gebäude schützenswert sind, sagt Makogonowa.
Das bestätigt auch Alexander Strugach. Der 29-jährige Architekt hat mit Kollegen die Webseite Sovarch.ru gegründet. „Wir machen eine Bestandsaufnahme, um die eventuelle zukünftige Sanierung dieser Gebäude vorzubereiten“, erklärt er. „Wir wollen, dass sich die Leute für den Erhalt und die Erforschung dieser Architektur interessieren“. Außerdem organisiert Strugach Architekturspaziergänge durch Sankt Petersburg und Moskau. Dabei bekommt er mit, dass seine jüngeren Kollegen durchaus wissen, wie einzigartig und einflussreich die damalige Avantgarde war.
Konstruktivisten wie Nikolai Ladowski (1881–1941), der zwischen 1920 und 1932 an der neu gegründeten Staatlichen Hochschule für Kunst und Technik (Wchutemas) lehrte, werden wieder zur Inspirationsquelle für die junge Generation. „Es gibt viele Proteste gegen den Verfall und die Zerstörung“, erzählt Makogonowa. Aber wenn Behörden, Bauunternehmer und Privateigentümer erst einmal beschlossen hätten, abzureißen, würden die Demonstranten von der Polizei vertrieben.
Zuweilen beteuern die russischen Behörden, sie wollten handeln. Ein sehr verbreitetes Mittel, das Architekturerbe in Russland zu „bewahren“, besteht darin, die Gebäude vollständig abzureißen und mehr oder weniger ähnliche Bauten hochzuziehen. „Das Verfahren ist billiger als eine ordentliche Restaurierung, aber die Ergebnisse sind katastrophal“, klagt Makogonowa. Sie fürchtet, dass diese Art von Radikallösung auch bei Tschernikows Wasserturm angewandt wird, der in einem gentrifizierten Viertel steht.
Um das Erbe tatsächlich angemessen zu bewahren, werden oft teure Gutachten aus dem Ausland benötigt. Das sei das größte Problem, so die Historikerin. Denn die Stadtverwaltung verfügt nicht über die nötigen Mittel oder will sie nicht bereitstellen. Etwa 150 Kilometer nordwestlich von Sankt Petersburg, nahe der finnischen Grenze, finden wir den Beweis, dass ambitionierte Initiativen erfolgreich sein können. Russische und finnische Organisationen haben gemeinsam Geld gesammelt, um die berühmte Bibliothek von Vyborg zu retten, die Alvar Aalto 1935 entworfen hat. Die Restaurierung des Meisterwerks erfolgt nach allen Regeln der Kunst.
Die Vorbehalte der russischen Regierung gegen die Erhaltung der avantgardistischen Bauten aus den 1920er Jahren haben nicht nur mit den hohen Kosten zu tun. Die emanzipatorischen Ideen der Konstruktivisten erzeugen beim heutigen russischen Regime Unbehagen. Deshalb ziehen es die Behörden vor, die neobarocken Zarenpaläste in Sankt Petersburg aufzuwerten, während die konstruktivistischen Bauwerke ein Geisterdasein am Stadtrand fristen. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne wird das Erbe der sowjetischen Avantgarde in finstere, abgelegene Regionen verbannt.