14.03.2014

Der rostende Kapitalismus

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Der rostende Kapitalismus

von Kostas Vergopoulos

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In der ausufernden Debatte über die Zukunft des Kapitalismus hat nicht etwa ein ausgewiesener Kapitalismuskritiker für die größte Provokation gesorgt, sondern einer der eifrigsten Verfechter des Systems: Lawrence Summers, der als Finanzminister während Bill Clintons zweiter Amtszeit (1999–2001) für die Deregulierung der Banken gekämpft hatte. Von Januar 2009 bis November 2010 war er unter Obama Direktor des Nationalen Wirtschaftsrats (NEC) und berät heute für sehr viel Geld große Finanzinstitute. Für seine Vorträge kassiert er Honorare von bis zu 135 000 Dollar. Kapitalismuskritische Töne hätte man von ihm gewiss nicht erwartet.

Die Bombe ließ Summers am 9. November 2013 bei der Jahreskonferenz des IWF in Washington platzen, als er erklärte: Vor vier Jahren habe man zwar die Panik auf den Finanzmärkten eingedämmt und das Zinsniveau der Staatsanleihen stabilisiert, aber die Arbeitslosigkeit sei seither nicht zurückgegangen und die Wirtschaftsleistung „deutlich hinter dem Potenzial zurückgeblieben, das wir im Herbst 2009 unterstellt hätten“.1

Diese „klägliche“ Bilanz beschreibt Summers auch in einer Analyse für die Financial Times:2 Trotz ihrer Niedrigzinspolitik habe die US-Notenbank kaum noch Handlungsspielraum für eine Konjunkturbelebung. Deshalb breite sich die Überzeugung aus, dass weitere Blasen „wünschenswert seien, um die Nachfrage anzukurbeln“. Summers teilt diese Meinung zwar nicht, gibt aber zu, dass ein dauerhaft niedriges Zinsniveau solche gefährlichen Blasen „wahrscheinlicher“ macht.

Vier Basisindikatoren, die allesamt im Minus tendieren, erklären Summers’ Pessimismus: Erstens sinkt der natürliche, also der „inflationsneutrale“ Zins seit über 30 Jahren – und damit der Gewinn. Zweitens nimmt die Arbeitsproduktivität seit 13 Jahren ab. Drittens geht die Binnennachfrage seit den 1980er Jahren zurück. Viertens ist seit 2001 eine Stagnation beziehungsweise Regression der produktiven Investitionen und Bruttoanlageinvestitionen zu beobachten. Und das, obwohl der ehemalige US-Notenbankchef Greenspan ebenso wie sein Nachfolger Bernanke eine expansive Geldpolitik verfolgten. Die Konsequenz: Um finanziell zu überleben, setzten die Kapitaleigner nicht mehr auf Gewinnmaximierung durch Ausweitung der Produktion, sondern behielten immer höhere Anteile der Wertschöpfung ein – selbst um den Preis eines geringeren Wachstums.

Das System stecke also in einem Dilemma, gegen das es kein Mittel zu geben scheint. Durch wachsende soziale Spannungen werde die „Korrosion“ des Kapitalismus zusätzlich beschleunigt: Die Mittelschicht, Stabilitätsgarantin der Gesellschaft, der Institutionen und der Demokratie, wird durch wachsende soziale Ungleichheit geschwächt, und die Massenarbeitslosigkeit bewirkt zudem, dass sowohl Pro-Kopf-Einkommen als auch potenzielle Gewinne der Kapitaleigner zurückgehen.

Summers’ Befund einer „anhaltenden Stagnation“ verblüffte die eher kapitalismuskritischen Kommentatoren, weil da einer ihrer ideologischen Gegner die Reformunfähigkeit des Kapitalismus konstatierte. Der anderen Seite gefiel nicht, dass solche Zweifel von einem der Ihren kamen. An deren Adresse gerichtet, erwiderte der Dissident, man dürfe eine „Voraussage nicht mit einer Empfehlung verwechseln“.

Summers’ Befürchtung erinnert an die Diagnose, die der US-Ökonom Alvin Hansen (1887–1975) in den 1930er Jahren formuliert hatte.3 Der allerdings erklärte die von ihm vorhergesagte „anhaltende Stagnation“ vor allem mit geringerem Bevölkerungswachstum und dem Ausbleiben weiterer großer technologischer Innovationen, die das Wirtschaftssystem beleben könnten.

Ähnlich pessimistisch äußerte sich John Maynard Keynes, der allerdings überzeugt war, die Krise des Kapitalismus müsse (und könne) abgewendet werden. Summers’ Einschätzung hingegen stützt sich weder auf den demografischen Faktor noch auf einen Mangel an technologischen Innovationen, sondern allein auf eine empirische Analyse der letzten drei Jahrzehnte.

Die neoliberale Rechte wirft ihm vor, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Die Finanzblasen hätten nicht das Wachstum angekurbelt, sondern in die Sackgasse geführt. Die schlechten Wirtschaftsdaten der westlichen Industriestaaten seien nicht die Ursache ihrer Überschuldung, sondern deren Folge. So meint Lorenzo Smaghi, einst Mitglied im Rat der Europäischen Zentralbank: „Die Sparprogramme haben nicht etwa das Wachstum geschwächt; vielmehr ist es umgekehrt: Das schwache Wachstum hat die Sparmaßnahmen erst nötig gemacht.“4 Manche nutzen sogar Keynes’ Aussagen als Argumentationshilfe gegen Summers. Schließlich habe der britische Ökonom die „Euthanasie der Rentiers“ herbeigewünscht, dagegen würde die Tolerierung von Finanzblasen darauf hinauslaufen, die Rentiers – also die Kapitalgeber – zu hofieren.5

Der Engelskreis des Wachstums

Während Summers dafür plädiert, den „Engelskreis“ des Wachstums wiederherzustellen, betonen seine Kritiker den Segen der „expansiven Sparpolitik“, mit der die Wirtschaft „saniert“ und eine Konjunkturerholung eingeleitet werde. Und wenn die aktuellen Probleme tatsächlich langfristiger Natur seien, müssten entsprechend langfristige Lösungen her und nicht irgendwelche „Taschenspielertricks“.

Also schlagen sie andere, strukturelle Lösungen vor und fordern beispielsweise die Senkung der Unternehmenssteuern oder – wie die Republikaner in den USA – die „Befreiung der Wirtschaft von der erdrückenden Last des weltweit teuersten Sozialstaats“.6 Der Harvard-Professor Kenneth Rogoff schließlich vertritt die Ansicht, die seit 2008 zu beobachtende Wachstumsschwäche reflektiere nicht etwa einen langfristigen Trend, sondern die Unfähigkeit der Regierungen, die Staatsschulden zu beherrschen, ohne das Wachstum zu beeinträchtigen.7

Aus dem anderen Lager kommt Zustimmung zur Analyse von Summers, so von Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der allerdings die Schlussfolgerung, die Stagnation entwickle sich zur „neuen Norm“ des kapitalistischen Systems, ablehnt.8 Und Summers’ Aussage, sämtliche Mittel zur Ankurbelung der Konjunktur seien bereits ausgeschöpft, hält er für übertrieben. Das gelte nur für die geldpolitischen Instrumente, wie etwa Steuersenkungen und zusätzliche Liquiditätsspritzen, nicht jedoch für die öffentlichen Ausgaben. Hier sieht er die Möglichkeit, die öffentlichen Investitionen zu erhöhen, womit man den Rückgang der privaten Investitionen kompensieren könne.

Hintergrund dieser Überlegungen ist, dass die Großunternehmen trotz riesiger Vermögensbestände keine Investitionen mehr vornehmen. Laut Financial Times vom 22. Januar 2014 sitzen die US-amerikanischen Unternehmen (jenseits des Finanzsektors) auf 2 800 Milliarden Dollar (von denen fast 150 Milliarden allein auf Apple entfallen). In der New York Times schrieb der Journalist James Saft: „Die Unternehmen ziehen es offenbar vor, ihr Geld zu horten oder für Aktienrückkäufe zu verwenden, als es für den Aufbau neuer Produktionskapazitäten zu nutzen.“9

In den 1970er Jahren machten die immateriellen Vermögenswerte (wie Know-how, Patente, Markenimage, Organisation und Vertrieb) bei den US-Unternehmen durchschnittlich 5 Prozent des Gesamtvermögens aus. 2010 war dieser Anteil bereits auf unglaubliche 60 Prozent angestiegen.

Zwischen 2010 und 2013 pumpte die US-Notenbank fast 4 000 Milliarden Dollar in die Wirtschaft. Ein Großteil dieser Gelder floss aber nicht in den Ausbau der heimischen Produktionskapazitäten, sondern in hochrentable Spekulationsanlagen – insbesondere in den Schwellenländern. Mit dem Ergebnis, dass die aktuell in der US-Wirtschaft „verfügbare“ Liquidität noch immer niedriger ist als 2008; dasselbe gilt auch für Europa.10

Obwohl die Wirtschaft mit Geld geflutet wird, will die Konjunktur also nicht anspringen. Wie kann das sein? Das Problem ist durchaus nicht neu: Das Problem der „Liquiditätsfalle“ wurde von Keynes bereits in den 1930er Jahren beschrieben. Aus dieser Falle gibt es nur einen Ausweg: den Einsatz des zweiten Instruments der Wirtschaftspolitik – der Staatsausgaben. „In einer Rezession sind alle Ausgaben gut“, schreibt Krugman, zwar seien produktive Ausgaben vorzuziehen, „aber unproduktive Ausgaben sind besser als gar nichts.“

Während die Anhänger der wichtigen wirtschaftsliberalen Theoretiker – wie Ayn Rand, Friedrich Hayek und Milton Friedman – nach wie vor predigen, dass soziale Ungleichheit eine unumgängliche Voraussetzung für Aufschwung und Wohlstand sei, sieht man in den USA immer deutlicher die negativen Folgen. So geißelte Präsident Obama – etwa in seiner Rede zur Lage der Nation vom 29. Januar 2014 – nicht nur die immer größere Spreizung der Einkommen und der Vermögen, sondern erklärte auch die soziale Ungleichheit, die Wirtschaftswachstum wie Beschäftigung beeinträchtige, zum „Schlüsselproblem unserer Epoche“.

Robert Reich, der frühere Arbeitsminister der Clinton-Regierung, hat sogar einen Dokumentarfilm über die wachsende Ungleichheit in den USA produziert. Unter dem treffenden Titel „Inequality for all“ verweist er auf folgende Fakten: Während das Durchschnittsgehalt in den USA 1978 noch bei einem aktuellen Gegenwert von 48 000 Dollar lag, ist es seitdem auf kaufkraftbereinigte 34 000 Dollar gesunken. Dagegen ist das durchschnittliche Einkommen des reichsten Prozents der US-Haushalte seit 1978 von 393 000 Dollar auf 1,1 Millionen Dollar gestiegen. In den letzten fünf Jahren hat dieses einkommensstärkste Prozent der US-Bevölkerung 90 Prozent des wirtschaftlichen Wachstums abgeschöpft, während sich die restlichen 10 Prozent des BIP-Zuwachses auf 99 Prozent der Bevölkerung verteilen. Die 400 reichsten Einzelpersonen verfügen über genauso viel Vermögenswerte wie die ärmsten 150 Millionen US-Bürger.12

Die aktuelle Situation erinnert im Hinblick auf die Wohlstandskonzentration an die 1920er Jahre, die in den Börsencrash von 1929 und in die Große Depression mündeten. Insofern stellt sich die Frage, warum der Kausalzusammenhang zwischen der Verarmung einer Bevölkerungsmehrheit und der Schwäche der Wirtschaft heute erneut ignoriert wird. Die 400 reichsten US-Bürger können mit ihren Ausgaben niemals dieselbe konjunkturelle Wirkung erzielen wie 150 Millionen Amerikaner. Je stärker sich also die Einnahmen und Vermögen an der Spitze der Gesellschaft konzentrieren, desto stärker gehen die Ausgaben zurück. Das ist positiv für die Sparquote und den Finanzsektor, aber entschieden negativ für die Investitionstätigkeit und die Beschäftigung. Wenn die reichsten Bürger ihr Vermögen nicht durch Produktionswachstum mehren, sondern durch eine immer stärkere Abschöpfung von Mehrwert, geht das stets auf Kosten des Wachstums. Damit vernichtet das System die Grundlagen seiner eigenen Reproduktion.

Statt den Kapitalismus aus der Krise herauszuführen, hat der Neoliberalismus uns nicht etwa ein neues Modell beschert, sondern in eine Sackgasse manövriert.

Fußnoten: 1 Zitiert nach: larrysummers.com/imf-fourteenth-annual-research-conference-in-honor-of-stanley-fischer/. 2 Lawrence Summers, „Why stagnation might prove to be the new normal“, Financial Times, London, 22.November 2013. 3 Vgl. Alvin Hansen, „Fiscal Policy and Business Cycles“, Norton & Company Inc., New York, 1941. 4 Siehe Financial Times, 12. November 2013. 5 Izabella Kaminska, „Secular stagnation and the bastardization of Keynes“, Financial Times, 13. November 2013. 6 Caroline Baum, „Keynesians revive a Depression idea“, Bloomberg, 4. Dezember 2013. 7 Kenneth Rogoff, „What’s the problem with advanced economies“, Project Syndicate, 4. Dezember 2013: www.project-syndicate.org. 8 Paul Krugman, „Secular stagnation, coalmines, bubbles and Larry Summers“, The New York Times, 18. November 2013. 9 James Saft, „Intangible Capital“, International Herald Tribune, 26. November 2013. 10 Willem Buiter, „Secular stagnation risk for EU and Japan“, Financial Times, 23. Dezember 2013. 11 Robert Reich, „Les Américains doivent partager leur richesse“, L’Express, 2. Dezember 2013. Aus dem Französischen von Markus Greiß Kostas Vergopoulos ist emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften, Université Paris VIII.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2014, von Kostas Vergopoulos