Brief aus Salone
von Stefano Liberti
Sie haben uns hier im Nirgendwo abgeladen und eingesperrt.“ Miriana Halilovic nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie von dem Ort spricht, an dem sie leben muss: „Für mich ist das ein Konzentrationslager.“ Eine Ansammlung von Wohncontainern, einer neben dem anderen, rundum eingezäunt und 24 Stunden videoüberwacht, an der Pforte Wachschutz: So präsentiert sich die „Solidarische Wohlfühlsiedlung“, wie die Stadtverwaltung von Rom das Lager in der Via di Salone euphemistisch nennt.
Hier leben etwa 1 000 ethnische Roma, die aus Exjugoslawien und Rumänien stammen. Sie alle sind aus illegalen, über das ganze Stadtgebiet verstreuten Roma-Camps hierhergebracht worden – weit ab von allem: Das Lager liegt an einer vielbefahrenen Schnellstraße, jenseits des Grande Raccordo Anulare, der römischen Ringautobahn. Es gibt keine Bushaltestelle. Der nächste Supermarkt und das nächste Café sind drei Kilometer entfernt. Am Bahnhof hält stündlich ein Zug, der allerdings nur bis abends um acht und sonntags gar nicht verkehrt.
„Sie haben uns deportiert“, empört sich Miriana. „Hier brauchst du ein Auto, sonst hängst du fest.“ Miriana ist die Protagonistin des Films „Container 158“, den ich 2013 zusammen mit Enrico Parenti während eines mehrmonatigen Aufenthalts im Lager gedreht habe.1 Als wir sie kennenlernten, war sie schwanger, zwei Kinder hatte sie schon. Dann stellte sich heraus, dass sie Zwillinge bekommen würde. In den Tagen, die wir in ihrem 22,5 Quadratmeter großen Container verbringen durften, hat sie uns von ihren Hoffnungen erzählt, von ihren Träumen und ihren Ängsten. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder hier aufwachsen“, sagte sie immer wieder.
Dreißig Jahre ist sie alt, in Rom geboren und italienische Staatsbürgerin. Aber auf die Liste zur Zuteilung einer Sozialwohnung kommt sie trotzdem nicht, denn der Container zählt als „zumutbare Unterkunft“, ein Notstand könne ihrer Familie nicht bescheinigt werden. Im Juli 2013 kamen die Zwillinge zur Welt, und Miriana lebt mit Ehemann Yasmin und den vier Kindern noch immer in dem selben engen „Container 158“.
Vernachlässigung und Überbelegung führen zu hygienischen Bedingungen am Rande des Erträglichen. Die Kanalisation funktioniert nicht, der Müll wird nur unregelmäßig abgeholt. Überall sind Ratten, das Lager ist umgeben von einer gigantischen Müllkippe, an der die Kinder vorbeimüssen, um auf den Bolzplatz zu kommen. Innerhalb der „Wohlfühlsiedlung“ stehen die Container nur zwei Meter voneinander entfernt: Privatsphäre gibt es nicht, Gemeinschaftsräume sind nicht vorgesehen, Schlägereien sind an der Tagesordnung.
„Ich musste hier weg, sonst hätte ich jemanden umgebracht“, sagt Giuseppe Salkanovic. Der 32-Jährige war ein paar Jahre lang Sprecher des Lagers, ehe er in eine Mietwohnung umziehen konnte. „Die Italiener glauben, die Roma wollen in den Lagern leben. Das ist nicht wahr: Diese Lager sind Ghettos.“
An der Via di Salone befindet sich eines von insgesamt acht offiziellen Camps, die die Stadtverwaltung von Rom seit 1994 eingerichtet hat, alle an der Peripherie und alle explizit für Roma. Nils Muiznieks, Menschenrechtskommissar des Europarats, hat im Anschluss an seinen Italienbesuch im Juli 2012 die Politik der Lager als „Zwangssegregation auf ethnischer Basis“ verurteilt, doch die politisch Verantwortlichen haben keine Zweifel an ihrem Vorgehen. Italien ist das einzige Land in Westeuropa, in dem es öffentlich finanzierte Lager speziell für Roma gibt, und zwar in Rom, Neapel und Mailand. Mindestens 100 Millionen Euro wurden zwischen 2005 und 2011 für Errichtung, Verwaltung und Unterhalt dieser Lager ausgegeben.
Einen neuen Schub hat diese Politik seit Mai 2008 erfahren, als die damalige Regierung Berlusconi den sogenannten Reisenden-Notstand ausrief, „eine äußerst angespannte Situation, verursacht durch die illegalen Camps der Reisenden, mit möglichen gravierenden Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Bevölkerung vor Ort“. Seitdem gelten 140 000 Menschen, die verstreut über das gesamte Staatsgebiet leben, von denen mehr als der Hälfte die italienische Staatsbürgerschaft besitzt und ebenfalls mehr als die Hälfte Kinder sind, als „soziale Gefahr“; und folglich wurde entschieden, sie aus den Städten zu entfernen.
Miriana erinnert sich an den Tag, als das Camp Casilino 900 geräumt wurde, wo sie seit ihrer Heirat gewohnt hatte. „Sie sind gekommen und haben gesagt, wir müssten jetzt nach Salone ziehen. Sie haben uns versichert, dass das nur vorübergehend sei und dass sie uns in ein paar Monaten Sozialwohnungen zuweisen würden. Und jetzt wohnen wir schon seit vier Jahren hier. Sie haben uns im Stich gelassen. Sie haben unser Leben zerstört.“
Brenda Salkanovic ist eine weitere Protagonistin unseres Films. Als wir sie ansprachen, sagte sie, sie wolle sich nicht filmen lassen. Jedes Mal, wenn wir in die Nähe ihres Containers kamen, zog sie sich unauffällig zurück, hielt gerade so viel Sicherheitsabstand wie nötig, um ihre Neugier zu befriedigen und sich doch herauszuhalten. Erst später haben wir verstanden, dass sie uns genau beobachtete. Ihre traurigen, wachen Augen waren uns von Anfang an aufgefallen. In ihnen schien sich das ganze Lager zu spiegeln: eine unglaubliche Vitalität, zunichte gemacht von den äußeren Umständen und vom Ausgeschlossensein.
Als wir beschlossen, eine Zeit lang in der „Wohlfühlsiedlung“ zu wohnen, hat Brenda uns ihren Container zur Verfügung gestellt und ist zu ihrer Schwester gezogen. Jeden Morgen kam sie vorbei und fragte, wie es uns ginge und was wir vom Lager hielten. Eines Tages sagte sie dann: „Macht die Kamera an.“ Und sie hat uns von ihrem Leben erzählt: Von der Frustration, 20 Jahre alt zu sein und sich nicht ausweisen zu können; vom Zorn darüber, keine Arbeit zu finden, keine Ausbildung zu erhalten; vom Gefühl, eingesperrt zu sein, in einer Lebensphase, die doch voller Hoffnungen sein sollte.
Brenda ist staatenlos: Ihre Eltern sind während des Kriegs aus Montenegro geflohen. Der neue Staat erkennt weder sie noch ihre Geschwister als seine Bürger an. Sie ist in Italien geboren, hat aber keinen Anspruch auf die italienische Staatsbürgerschaft. Zwischen 18 und 19 Jahren hätte sie diese beantragen können, aber nur, wenn sie hätte nachweisen können, dass sie ihr ganzes Leben legal im Land verbracht hatte – was sie nicht kann, weil ihre Eltern eine Zeit lang keine Aufenthaltserlaubnis hatten. Für das Gesetz existiert Brenda einfach nicht. Sie hat keine Papiere, und sie wird nie welche bekommen. „Wenn mich die Polizei kontrolliert, sage ich, dass ich in Salone wohne, und sie lassen mich gehen.“ Brenda ist ein Gespenst, das nie eine Arbeit finden, keine Ausbildung machen, nie eine Sozialwohnung beziehen wird. In genau der gleichen Situation sind Hunderte von jungen Männern und Frauen, die in Salone und anderen Lagern leben.
Sasha Sulejmanovic ist elf Jahre alt. Mit seinen Eltern, die aus Bosnien stammen, und den neun Geschwistern lebt er zusammen in einem einzigen Container neben dem von Miriana. Abends werden auf dem Boden zum Schlafen drei Matratzen für alle ausgebreitet. Um sechs Uhr stehen er und seine älteren Schwestern auf, um zur Schule zu gehen. In einem Kleinbus fahren sie durch die halbe Stadt, ihre Schulen sind in der Nähe des Lagers Casilino 900, des Camps, wo sie bis 2009 lebten. Die Romakinder in die Schulen zu integrieren, ist nicht einfach. Und so bleiben sie auf den Schulen, die sie vor der Umsiedlung besucht und früher in zehn Minuten zu Fuß erreicht haben.
Sasha ist ein hellwacher, neugieriger Junge. Er spricht, schreibt und liest perfekt Italienisch, eine Seltenheit bei den Jugendlichen im Lager. Er will weiter lernen, aber letztes Jahr ist er sitzen geblieben. Zu viele Fehlstunden, weil er oft den Bus verpasst hat oder für die Tage, an denen er krank im Bett lag, kein Attest vorlegen konnte, da es im Lager keinen Arzt gibt. Und so fing er erst richtig an, zu schwänzen.
In Salone kann aus jeder Lappalie ein unüberwindliches bürokratisches Hindernis werden. Der Drang, erwachsen zu werden und sich zu entwickeln, verkümmert – und übrig bleibt Resignation. Denn die Vernachlässigung erzeugt Gleichgültigkeit, das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, fördert Misstrauen in den feindseligen Staat, der doch der ist, in dem man geboren wurde. Sasha fühlt sich nicht als Italiener, obwohl Italien das einzige Land ist, das er je gesehen hat. Das Gleiche gilt für Brenda und Miriana, die zwar italienische Staatsbürgerin ist, allerdings mit weniger Rechten als andere – weil sie eine Romni ist.
„Wir sind keine Italiener, wir sind Zigeuner“, sagen sie alle und berufen sich auf eine Identität, die sie nicht mit Inhalten füllen können, in einem Container wohnend, den sie Zuhause nennen müssen, in einem eingezäunten Lager, von dem sich andere ausgedacht haben, es „Wohlfühlsiedlung“ zu nennen.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel Stefano Liberti ist Journalist und Dokumentarfilmer. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Landraub – Reisen ins Reich des neuen Kolonialismus“, Zürich (Rotpunkt) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin