Goodbye, Neocons
„Ich war nie ein Sympathisant des Leninismus und daher skeptisch, als die Bush-Regierung leninistisch wurde“, schreibt Francis Fukuyama. Gemeint ist die US-Außenpolitik und ihre Anmaßung, das Weltgeschehen zu lenken. Eine Rezension von Hubert Védrine
Francis Fukuyama, der mit seinem umstrittenen Werk über „Das Ende der Geschichte“1 berühmt geworden ist und sich lange selbst als Neokonservativer bezeichnet hat, vollzieht in seinem neuesten Werk „Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg“2 den Bruch mit der Bush-Administration – wenn nicht gar mit dem gesamten Neokonservatismus.
Er würdigt zwar den beständigen Antikommunismus von den 1930er-Jahren bis heute und erinnert an die anhaltende Opposition gegen die Realpolitik von Henry Kissinger (was eine eingehende Diskussion verdiente, jedoch nicht Gegenstand dieses Artikels ist). Er entfernt sich auch nicht wirklich von den vier großen Prinzipien des Neokonservatismus. So vertritt er noch immer die Ansicht – im Gegensatz zu den „Realisten“ –, dass man in internationalen Beziehungen einen Nationalstaat nicht als „Blackbox“ betrachten dürfe. Viel wirkungsvoller als „externe Bestrafungen“ sei das direkte Einwirken auf den innenpolitischen Charakter eines ungerechten Regimes. Er bestreitet nicht – im Gegenteil –, dass sich die Vereinigten Staaten international engagieren müssen, zumal sie, im Dienst „moralischer Ziele“, quasi von Natur aus dazu verpflichtet sind. Er meint, man müsse sich vor den allzu ehrgeizigen Wünschen der Gesellschaften nach sozialer Veränderung in Acht nehmen und dürfe sich schließlich keine Illusionen über internationale Gesetze und internationale Institutionen machen, die kaum in der Lage seien, für Sicherheit und Gerechtigkeit zu sorgen.
Und an diesem Punkt, nämlich inwieweit die Außenpolitik den innenpolitischen Charakter anderer Regierungen in ihre Zielsetzung einbezieht, gehen die Ansichten der Neokonservativen und die der klassischen Realisten à la Kissinger am weitesten auseinander. In der Frage des Multilateralismus stehen die Neokonservativen den internationalistischen Liberalen à la Wilson entgegen (den US-amerikanischen Demokraten, europäischen Sozialdemokraten bzw. Europäern im Allgemeinen). Was das notwendige US-amerikanische Engagement betrifft (Madeleine Albrights „unentbehrliche Nation“), so grenzt sich Fukuyama von dem heutzutage nicht mehr praktikablen Isolationismus ab, der in der öffentlichen Meinung der USA wieder im Schwange ist.
Der ideologische Cocktail der Neokonservativen ist eine originelle Mischung, doch von alten amerikanischen Denkweisen inspiriert. George W. Bush mag während seiner ersten Amtszeit eine Karikatur gewesen sein, aber eine Verirrung war er nicht.
Wenn Fukuyama jedoch in gewisser Weise ein Neokonservativer bleibt, mit wem bricht er dann und warum? Im Wesentlichen mit der Bush-Administration wegen ihrer Irakpolitik. Die Bush-Administration hat mit dem Krieg im Irak nach Ansicht Fukuyamas drei schwere Irrtümer begangen: Sie hat sich in der Bedrohung getäuscht, sie hat die heftige weltweite Opposition gegen die angeblich „benevolent hegemony“ (wohlmeinende Hegemonie) nicht vorausgesehen, und schließlich hat sie die Schwierigkeiten bei der Befriedung und dem Wiederaufbau des Irak sehr schlecht einzuschätzen gewusst.
Für einen Amerikaner eine mutige Haltung
Indem er bis zur Wurzel dieser Irrtümer vordringt, distanziert sich Fukuyama zunächst vollkommen von der Rhetorik des Kriegs gegen den Terrorismus, die er für untauglich, nutzlos und schädlich hält. Während er nebenbei Olivier Roy und Gilles Kepel würdigt, prangert er die in den Vereinigten Staaten grassierende Verwechslung von islamischen Fundamentalisten, Islamisten, radikalen Islamisten und Muslimen an. Und nicht genug damit: Er behauptet auch, dass die Demokratie westlichen Zuschnitts kurzfristig keine Lösung für das Problem des Terrorismus ist. Und er räumt ein – für einen Amerikaner eine mutige Haltung –, dass der gegen Amerika gerichtete Groll in der arabischen Welt, in Verbindung mit dem, was als einseitige Unterstützung Israels wahrgenommen wird, den Terroristen die Arbeit erleichtert.
Vor allem meint er – auch wenn er an einige präventive, im Laufe der Geschichte gerechtfertigte Aktionen erinnert und umgekehrt bedauert, dass andere nicht stattgefunden haben –, dass eine präventive Aktion gegen ein Atomprogramm (die es lediglich hinauszögern, aber nicht stoppen kann) extrem schwierig sei, dass die Proliferation dadurch sogar angespornt werden könnte und dass zudem der angeblich daraus folgende Prozess eines Regimewechsels eine ungewisse Sache sei. Im Übrigen hat diesbezüglich Condoleezza Rice bekanntermaßen selbst den Fuß auf der Bremse.
Das sind eine Menge Nichtübereinstimmungen. Zumal Fukuyama, nicht zimperlich, auf einen unüberwindlichen uramerikanischen Widerspruch hinweist: Da ist einerseits Amerikas Glaube an seinen „Exzeptionalismus“ – Fukuyama sieht ihn als beinahe religiöses Dogma –, der auf George Washington selbst zurückgeht und der heute den gefährlichen Begriff des Präventivkriegs rechtfertigt, und andererseits die Notwendigkeit einer internationalen Legitimation. „Es genügt nicht, dass die Amerikaner an ihre eigenen guten Absichten glauben“, schreibt er, „auch die Nichtamerikaner müssen davon überzeugt sein!“ Vor allem, wenn es den Vereinigten Staaten nicht gelingt, ihre Interventionen im Nachhinein zu legitimieren, und wenn die Kompetenz der „Hegemonialmacht“ ihren eigenen Ansprüchen nicht gewachsen ist. Kurz, die Bush-Administration habe alles falsch gemacht, wie der demokratische Experte Philip Gordon („The End of the Bush Revolution“3 ) in der Zeitschrift Foreign Affairs schreibt.
Fukuyama macht zwei zusätzliche Anmerkungen, die mir wesentlich erscheinen, insbesondere für die Europäer, die über ihre künftige Außenpolitik nachdenken: Bevor man über Demokratisierung reden kann, muss es einen Staat geben. Nation-Building ist eine Sache für sich, die Förderung der Demokratie garantiert den Staat nicht ipso facto. Und andererseits hängt die Empfänglichkeit der lokalen demokratischen Kräfte für Unterstützung von außen von der Art des bestehenden Nationalismus ab. Mit anderen Worten, die Demokratie lässt sich nicht einfach von außen aufzwingen, und die westlichen Länder – die Kolonisatoren von gestern – sind dafür nicht unbedingt geeignet. Ich freue mich sehr, dass nun auch Fukuyama den von mir seit Jahren betonten Unterschied zwischen dem notwendigen, langen und schwierigen „Demokratisierungsprozess“ und der illusorischen, vor allem von außen aufgezwungenen „instant democracy“ anerkennt. Keine Institution, keine Demokratisierung ohne inneres Verlangen. Ebenso – und das ist entscheidend – bestreitet Fukuyama das angebliche (und angeblich heilsame) Verschwinden der Staaten.
Dennoch sollten wir nicht gleich einen multilateralistischen europäischen Intellektuellen in ihm sehen. Die amerikanische „wohlmeinende Hegemonie“ hat ihre Grenzen, aber Fukuyama teilt keine der Illusionen der Europäer und der amerikanischen Linken bezüglich der internationalen Institutionen. Er ist sogar der Meinung, dass die Organisation der Vereinten Nationen uns allein durch ihre Existenz davon entbindet, über dieses Thema nachzudenken. Da die UNO offenkundig nicht reformierbar ist, richtet er sein Augenmerk auf eine Vielzahl von Formen internationaler Zusammenarbeit, die von der formellsten und legitimsten (der UNO) bis zu den informellsten reicht (Regelwerke für Unternehmen, ISO, Icann4 ), wobei die legitimsten nicht unbedingt die effektivsten sind. Das nennt er „Multi-Multilateralismus“, vergleichbar dem, was für Europa die variable Geometrie5 ist.
Ebenso wenig wie irgendein anderer Amerikaner stellt Fukuyama die US-amerikanische Führungsrolle in Frage. Und wie die Wilsonianer und die amerikanischen Neokonservativen, wie die meisten NGOs und weite Teile der öffentlichen Meinung im Westen vertritt er die Ansicht, dass man nichtdemokratische Regierungen ändern müsse. Doch in wessen Namen und auf welche Weise? Die Frage stellt sich weiterhin, da er, obwohl er sich der Grenzen des Unilateralismus bewusst ist, als realistischer Wilsonianer allzu große Erwartungen an internationale Institutionen für illusorisch hält. Es grämt ihn, dass die neokonservativen Ideen, an die er geglaubt hat und an die er zum Teil noch immer glaubt, von den falschen Leuten, am falschen Ort und auf die denkbar falscheste Weise in die Tat umgesetzt wurden. Aber ihm ist durchaus klar, dass die Vereinigten Staaten nicht vom Rest der Welt Vertrauen einfordern können, wenn sie nicht beweisen, dass sie über mehr Weitblick verfügen; und wenn sie nicht begreifen, dass „Macht häufig nützlicher“ ist, „wenn sie nur latent ist“. Er grenzt sich von der derzeitigen Regierung ab – vielleicht auch um seine Bereitschaft für eine zukünftige andere US-amerikanische Außenpolitik zu signalisieren. „Die Wiederherstellung der amerikanischen Glaubwürdigkeit“, schreibt er, „wird keine Sache einer besseren Public Relation sein; dazu brauchte es ein neues Team und eine neue Politik.“
Die Europäer täten gut daran, Fukuyama zu lesen – so anfechtbar er ist. Denn die Debatte geht sie unmittelbar an. Die europäischen Demonstrationen gegen den Irakkrieg haben nämlich verschleiert, dass es im Westen eine tiefer reichende Übereinstimmung gibt: Mehr Europäer, als man denkt, einschließlich der französischen Linken, teilen bestimmte Überzeugungen der Neokonservativen. Seit dem Ende der UdSSR fühlt sich der Westen, Amerikaner wie Europäer, mehr denn je von seiner jahrhundertealten zivilisatorischen Mission durchdrungen. Diese besteht heute darin, den restlichen Planeten zu demokratisieren: Russland, China, die arabisch-islamische Welt und Afrika.
In den Medien und bei bestimmten Politikern ist es bereits ein Gemeinplatz, „realistische“ Politik zu verteufeln, weil sie angeblich um niedriger Erwägungen willen „die Menschenrechte“ geopfert hätte. Wobei die Voraussetzung für eine solche Haltung ist, dass sich über die Legitimation des Westens, die Menschenrechte zu verbreiten, nicht streiten lässt; ebenso wenig über seine Fähigkeit, es wirksam und dauerhaft zu tun. Nichts anderes sagen die amerikanischen Neokonservativen. Der Hauptunterschied zwischen Amerikanern und Europäern betrifft die Mittel – Einsatz bewaffneter Gewalt oder nicht –, nicht den Zweck.
Die verschiedenen Bestrebungen bei den Rechten wie bei den Linken Frankreichs im Vorwahljahr, die diplomatische Linie der V. Republik (falls diese überhaupt je eingehalten wurde) zu verlassen und für eine streitbarere und – um mit Condoleezza Rice zu sprechen – „transformationellere“ Diplomatie zu kämpfen, setzen sich also den gleichen Missgeschicken oder Enttäuschungen aus wie die neokonservative Politik der USA, auch wenn sie nur deren blasse Kopie sind. Bevor sie mit erneutem Eifer ihrer „Zivilisationspflicht“ obliegen, läge es also durchaus in ihrem Interesse, zu untersuchen, warum sich Francis Fukuyama von seinen zu Zauberlehrlingen gewordenen ehemaligen Freunden distanziert.
Fußnoten: