Wie einig sind die Schiiten des Irak?
von Peter Harling und Hamid Yasin
Die Gewalt im Irak hat eine kritische Schwelle erreicht. Religiös motivierte Angriffe, bei denen sich Sunniten und Schiiten gegenüberstehen, fordern fast täglich viele Tote und hunderte Verletzte. Solche „innerirakischen“ Gewaltakte sind inzwischen weit häufiger als Operationen gegen die Besatzungsmächte.
In Bagdad verfestigt sich der Tigris zur Trennungslinie zwischen einem weitgehend schiitischen linken Ufer (al-Rusafa) und einem mehrheitlich sunnitischen rechten Ufer (al-Karkh). Doch auf beiden Seiten gibt es noch Enklaven, die größten sind das vorwiegend schiitische Viertel al-Kadhimiya rechts und das vorwiegend sunnitische al-Adhamiya links des Tigris. Diese fortschreitende Polarisierung produziert regelrechte Frontlinien, ein Vertreter der bewaffneten sunnitischen Gruppe Dschaisch Ansar al-Sunna1 sieht deshalb „noch gewalttätigere und systematischere Kämpfe“ voraus.
Nach der im Irak und im Ausland vorherrschenden Interpretation kämpfen hier zwei „Religionsgemeinschaften“ um die Macht: die sunnitische „Gemeinschaft“, die angeblich dem alten Regime nachtrauert und ihr säkulares Monopol auf die Zentralinstitutionen verloren hat, und eine schiitische „Gemeinschaft“, die bisher – obwohl schon immer die stärkste Gruppe – politisch marginalisiert gewesen sei und der sich nun dank der US-Invasion die Chance biete, sich endlich Gehör zu verschaffen. Doch diese Sichtweise wird den unterschiedlichen Zielen der politischen Akteure nicht gerecht. Wer die Bedeutung einheitlicher „Religionsgemeinschaften“ betont, die in Wirklichkeit stark ausdifferenziert sind, fördert eine Entwicklung, die eher eingedämmt werden sollte.2
So lässt sich auch die Frage nicht beantworten, ob die Loyalität der Schiiten ihrem eigenen Land gilt oder dem Iran. Im Dezember 2004 prägte König Abdallah von Jordanien den Begriff „schiitischer Halbmond“, womit er die Schiiten am Persischen Golf, des Irak, Syriens und des Libanon als eine von Teheran ferngesteuerte fünfte Kolonne darstellen wollte, die sunnitische Interessen bedrohe.3 Der US-amerikanische Politologe Vali Nasr erhebt diese Verallgemeinerung zum Konzept. Mit dem Wahlsieg der irakischen Schiiten 2005 hätten die Schiiten der gesamten Region begonnen, eine gemeinsame Identität und gemeinsame Forderungen zu entwickeln, was automatisch den Ambitionen Irans entgegenkomme.4
Eine andere Schule kontert mit der These eines „irakischen Nationalismus“. So hat uns ein iranischer Beobachter anvertraut: „Die innerschiitische Solidarität wird die Kluft, die Araber und Perser trennt, nicht überwinden. Man darf nicht vergessen, dass die irakischen Schiiten während des enorm verlustreichen Golfkrieges von 1980 bis 1988 die iranischen Schiiten bekämpft haben. Selbst schiitische Iraker, die im Iran im Exil waren, wünschen keinen iranischen Einfluss in ihrem Land.“
Die These von der schiitischen Renaissance beeinflusst die Politik der USA, der arabischen Regime und insbesondere der Monarchien am Golf, die jede iranische Ambition mit Argwohn registrieren. Dies schürt den Hass auf die Schiiten unter den Sunniten. Die meisten sunnitischen Prediger im Irak bezeichnen die Schiiten als rawafidh (Abtrünnige). Diese abwertende Bezeichnung benutzten auch Dschihadisten wie Abu Mussab al-Sarkawi, der getötete Chef der al-Qaida im Irak.
Natürlich muss man den Faktor des irakischen Nationalismus berücksichtigen. Aber allein mit ihm lässt sich das Verhalten der irakischen Schiiten während des ersten Golfkriegs nicht erklären. Die nachhaltige Landreform von 1958 nach dem Staatsstreich der Baath-Partei blieb den schiitischen Bauern im Süden im Gedächtnis. Während des nationalen Aufbaus, der bis in die 1970er-Jahre andauerte, lenkte das Regime Ressourcen in den Süden, was viele verarmte Schiiten zu Saddam-Anhängern machte. Und südirakische Städte wie Diwaniya oder Nassiriya stellten für Armee und Polizei größere Rekrutenkontingente.
Doch gleichzeitig ging das Regime gegen die religiösen Kreise in Nadschaf vor, womit diese ihren Einfluss verloren. Auch darf man nicht vergessen, dass über 500 000 Schiiten im Krieg gegen den Iran in die irakische Volksarmee gepresst wurden.
Die Konkurrenz der Opfer verfestigt die Identitäten
Eine Wende kam mit dem Krieg von 1991 und dem anschließenden Aufstand der südirakischen Schiiten gegen das Saddam-Regime. Der Aufstand erhielt nicht die erhoffte Unterstützung der USA und wurde von Saddams Truppen niedergeschlagen, wobei etwa 100 000 Schiiten umkamen. Danach setzte eine Ausdifferenzierung der kollektiven Identitäten ein: Die Kurden etablierten ihre Autonomie und erlebten einen Wirtschaftsaufschwung. Im Rest des Landes mutierte der Klientel- und Versorgungsstaat zu einer Raubökonomie beziehungsweise Privilegienwirtschaft, die auf Familienbande und blindem Gehorsam gegenüber dem Regime beruhte.
Das ging besonders zulasten von schiitischen Staatsbeamten, Soldaten und Kleinhändlern, die innerhalb des Regimes am meisten von den Chancen eines sozialen Aufstiegs profitiert hatten. Aber auch sunnitische Araber und Christen waren betroffen, die aber dank ihrer Familiennetzwerke im Irak und im Ausland über größere finanzielle Ressourcen verfügten. Der Süden litt zudem unter den ökonomischen Repressalien gegen alle Orte, die 1991 gegen Saddam rebelliert hatten. So hatte die Stadt Hilla bis 2003 täglich nur für ein bis zwei Stunden Strom. Viele Handwerksbetriebe und Fabriken wurden deshalb verlagert, Arbeitskräfte wanderten ab.
Eine offene Debatte über „die schiitische Gemeinschaft“ und ihr Martyrium begann jedoch erst nach dem Sturz des Regimes 2003, der als Ende der sunnitischen Vorherrschaft gilt. Im Rahmen der Politik der US-Zivilverwaltung wurden die Posten nach Religionszugehörigkeit neu verteilt. Das führte zu einer „Konkurrenz der Opfer“, wobei der Anspruch auf Teilhabe an der Macht mit dem Ausmaß früheren Leids begründet werden konnte. Anhänger des von Abdul Asis al-Hakim geführten Höchsten Rats der Islamischen Revolution im Irak (Sciri) verwiesen auf die zahlreichen Opfer aus der Familie ihres Anführers und ihre führende Rolle bei den Aufständen von 1991. Die Anhänger Muktada al-Sadrs warfen den Sciri-Leuten vor, sie seien ins Exil gegangen, hätten in iranischem Auftrag irakische Kriegsgefangene gefoltert und 1991 mit ihrem vorzeitigen Rückzug in den Iran die Aufständischen im Stich gelassen. Den Gefolgsleuten al-Sadrs wiederum wird vorgehalten, dem Saddam-Regime gedient zu haben, unter anderem mit zahlreiche Agenten. Diese Uminterpretation der Geschichte im Sinne eines ständigen Antagonismus Sunniten – Schiiten versetzt dem „irakischen Nationalismus“ den Todesstoß. Iraker unterschiedlicher Herkunft haben keinen gemeinsamen Bezugspunkt mehr: Die bitteren Auseinandersetzungen um die Hauptetappen ihrer gemeinsamen Geschichte (Ende der Monarchie 1958, Machtübernahme der Baath-Partei 1968, Golfkrieg 1991 und die angloamerikanische Intervention 2003) werden im Hinblick auf die religiöse Kluft wahrgenommen; nationale Ressourcen werden nicht umverteilt, sondern aufgekauft und schamlos privatisiert; die Institutionen werden zerlegt und zwischen den Gruppen aufgeteilt.
Zwar ist noch vage von einem irakischen Gesamtstaat die Rede, der die Spaltungen überwinden könnte, aber wie er verfasst sein soll, vermag niemand zu sagen. Im Wahlverhalten, in der willkürlichen Gewalt, in der Vetternwirtschaft und in der aufblühenden Korruption treten die nichtnationalen Bindungen deutlicher und stärker denn je hervor.
Das heißt jedoch nicht, dass die irakischen Schiiten sich nun am Iran orientieren würden, sei es als einem „erweiterten Vaterland“ oder als einer „Adoptivnation“. Im Süden sind die Gefühle gegenüber dem persischen Nachbarn nach wie vor gemischt. Muktada al-Sadr etwa hält dem wichtigsten schiitischen Geistlichen, Ajatollah Ali al-Sistani, dessen iranische Herkunft vor. Und die Einwohner von al-Amara denunzieren die der Stadt Kut gern als „Perser“.
Obwohl man im Südirak viele Porträts des Ajatollah Ruhollah Chomeini und seines Nachfolgers Ali Chamenei sieht, propagieren nur wenige Akteure der schiitischen Szene das iranische Konzept des velayat-e faqih (Herrschaft der Rechtsgelehrten), auf dem die islamische Republik im Iran basiert. Und Ajatollah Sistani verhielt sich gegenüber der geistlichen Führung des Iran stets diplomatisch, aber auch entschieden unabhängig.
Der Iran liefert Bücher, aber keine Waffen
Andererseits versucht der Iran, seinen Einfluss im Irak geschickt über zahlreiche Kanäle auszubauen. Teheran hat seine irakischen Verbündeten zur Beteiligung am politischen Prozess ermuntert, um diesen besser beeinflussen zu können. Doch gleichzeitig war man bemüht, Kontakte zu allen politischen Akteuren aufzubauen, auch zu Muktada al-Sadr, dem überzeugten Gegner des mit dem Iran verbündeten Sciri.
Auf lokaler Ebene unterstützt der Iran kleine Gruppen wie Thar Allah in Basra, die von ihm abhängig sind. Doch man will sich dabei nicht allzu sehr exponieren: Größere Attacken auf die Koalitionstruppen werden von Teheran nicht unterstützt, der Iran liefert den Aufständischen auch keine panzerbrechenden Waffen, wie sie die Hisbollah im Libanon erhalten hat. Stattdessen spendet Chamenei den Schiiten Bücher und vergibt zahlreiche Studienstipendien. Und auch der iranische Satellitensender al-Alam erreicht viele der irakischen Schiiten.
Der Iran pflegt sein Image ebenfalls durch humanitäre Aktionen und wirtschaftliche Investitionen. Und anders als die Golfstaaten hat die islamische Republik ihre Grenzen für Touristen und Pilger aus dem Irak geöffnet. Die erleben im Iran eine Ruhe und relative Prosperität und weit mehr Gastfreundschaft, als sie erwartet haben.
Im Übrigen erwartet die iranische Seite von den irakischen Glaubensbrüdern keineswegs strikte Loyalität. Deren Eigenständigkeit wird durchaus respektiert. Doch bei den irakischen Schiiten gibt es eine tiefe soziale Spaltung vor allem zwischen den konservativen Kreisen (die religiösen Führer aus Nadschaf, die Händler der heiligen Städte, den städtischen Mittelstand usw.) und den „revolutionären“ Massen, die eher auf Muktada al-Sadr hören.5
Zudem hat jede Stadt im Süden ihre Eigenheiten. Kut ist eine Provinzstadt ohne Geschichte, die von einer Föderation des gesamten Südens immer weniger wissen will. Die heilige Stadt Nadschaf, die von Sistani und seinem Sciri kontrolliert wird, weckt weiterhin die Begehrlichkeiten anderer Akteure. Und in Basra tobt zwischen verschieden „islamistischen“ Parteien und ihren Milizen ein tödlicher Kampf um Ressourcen wie die Einnahmen aus dem Erdölschmuggel.
Je weiter man sich also von der Hauptstadt entfernt, wo die Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten die beiden großen Lager zusammenschweißt, umso klarer tritt das Potenzial innerschiitischer Konflikte zutage. Die Bevölkerung des Südens hat viel von den Parteien erwartet und ist nun sehr enttäuscht. Auf lokaler Ebene tritt der Wiederaufbau in den Hintergrund, der Alltag wird durch Klientelismus und Einschüchterung bestimmt. Und die ständigen Reformen und Initiativen, über die man in Bagdad diskutiert, haben hier keine Chance.
Fußnoten: