Modell Libanon
Das Scheitern eines pluralistischen Staates infolge der Einmischung fremder Mächte von Georges Corm
Seit seiner Gründung stand Israel im Konflikt mit der über tausendjährigen Tradition eines religiösen Pluralismus im Nahen Osten, der vor allem Toleranz zwischen den orientalischen Christen und den Muslimen, ob Sunniten, Schiiten, Drusen oder Alawiten, bedeutet. In Palästina wie in Syrien, in Ägypten, im Libanon und im Irak leben unterschiedliche Religionsgemeinschaften, darunter auch Juden, räumlich vermischt.1 Der Plan, inmitten dieser Vielfalt einen reinen „Judenstaat“ zu schaffen, wie ihn Theodor Herzl, der Begründer der zionistischen Bewegung 1897 in seinem gleichnamigen Buch entworfen hatte, musste auf heftigen Widerstand stoßen.
Aus Sicht der orientalischen Christen drohte das von den Kolonialmächten unterstützte zionistische Projekt die traditionell guten Beziehungen zwischen Christen und Muslimen zu beeinträchtigen. Denn die Muslime mussten befürchten, dass christliche Gemeinschaften ähnliche Ansprüche erheben könnten: Wenn die Juden aus Osteuropa einen Staat bekommen sollten, warum nicht auch die Christen vor Ort?
Die Hoffnungen der ersten jüdischen Siedler lange vor der Gründung Israels, in den christlichen Minderheiten des Nahen Ostens Bündnispartner zu finden, wurden enttäuscht. Im von der Mandatsmacht Frankreich 1919 geschaffenen Großlibanon zeigten die Christen daran kaum Interesse. Als der frankophone libanesische Dichter Charles Corm damals die Besinnung auf die phönizischen Ursprünge des Libanon propagierte, wollte er keineswegs dem zionistischen Beispiel folgen, sondern eine moderne Nationalbewegung begründen, die die Spannungen zwischen Muslimen und Christen überwindet. Zur gleichen Zeit entstand eine ägyptische Nationalbewegung, die sich auf die Pharaonenreiche berief, und im Irak entdeckte man die glorreiche babylonische Vergangenheit.
Auch ein anderer frankophoner und frankophiler Libanese, der einflussreiche Journalist Michel Chicha, warnte unablässig vor der destabilisierenden Wirkung eines Staates Israel auf den gesamten Nahen Osten. Er wies seine Landsleute darauf hin, dass der Libanon als pluralistisches Modell des Zusammenlebens der Gemeinschaften geradezu ein Gegenentwurf zum israelischen Ausschließlichkeitsanspruch sei, und schon deshalb Feindschaft auf sich ziehen könne. Noch eindringlicher verwies der maronitische Priester Youakim Moubarac auf die Schwierigkeiten, die aus der Entstehung des Staates Israel erwachsen würden. Immer wieder betonte er die entscheidende Rolle des Libanon und Palästinas im islamisch-christlichen Dialog.2
So war es nicht überraschend, dass 1948 auch libanesische Verbände zu der arabischen Koalition gehörten, die den Staat Israel mit Waffengewalt verhindern wollte. 1949 unterzeichneten Libanon und Israel einen Waffenstillstand. Aus dem Sechstagekrieg von 1967 hielt sich die libanesische Armee dann völlig heraus. Doch den zunehmenden Spannungen, die dieser Krieg im gesamten Nahen Osten verursachte, konnte sich auch der Libanon nicht entziehen. Gerade seine demokratische Verfassung und sein komplexes System des politischen Interessenausgleichs machten ihn anfällig: Hier wurden viele Konflikte ausgetragen, die der Sieg Israels in der arabischen Welt gestiftet hatte.
Durch die vernichtende Niederlage der arabischen Staaten und die Besetzung ganz Palästinas geriet auch die palästinensische Gesellschaft in Umbruch. Bewaffnete Gruppen fanden vor allem in den Flüchtlingslagern im Libanon und Jordanien neue Anhänger – diese beiden Länder hatten, im Verhältnis zur eigenen Größe und Bevölkerungsstärke, die meisten Flüchtlinge aus Palästina aufgenommen.
Nach dem israelisch-arabischen Krieg von 1973 waren Syrien und Ägypten aus dem Spiel.3 Der Libanon wurde zum einzigen Schauplatz des Konflikts um Israel, was zur Katastrophe von 1975 führte. Das Land, das vielen Palästinensern als Vorbild für einen demokratischen Palästinenserstaat galt, in dem Juden, Christen und Muslime gleichberechtigt leben, versank in Gewalt.
Im Bürgerkrieg kam die „Nationale Bewegung“ an die Macht, eine – den palästinensischen Kämpfern wohlgesonnene – Koalition laizistischer Parteien. Die Opposition wurde angeführt von der Falangisten-Partei unter dem früheren Außenminister Charles Malik, der über beste Verbindungen in die USA verfügte. Ziel der Falangisten war der Zusammenschluss aller Christen zur „Libanesischen Front“, um den Libanon vom Einfluss der revolutionären Palästinenser und ihrer Unterstützer, der Sowjetunion und der sogenannten „radikalen“ arabischen Staaten, zu befreien.
Israel ersann den Plan eines christlichen Libanon
Die Entwicklung im Libanon, zu der Israel mit seinen Vergeltungsschlägen beigetragen hatte, brachte die israelische Führung auf die Idee, eine aus den frühen 1950er-Jahren stammende Strategie wiederzubeleben: Ein christlicher, mit Israel verbündeter Staat auf libanesischem Territorium sollte zur Legitimierung des jüdischen Staats im Nahen Osten beitragen.
1978 folgte Israel dem alten Plan von David Ben Gurion und besetzte den Südlibanon bis zum Litani-Fluss. Die lokale Macht wurde einer Truppe von abtrünnigen libanesischen Soldaten unter der Führung des christlichen Majors Saad Haddad übergeben. Diese Miliz (South Lebanon Army, SLA) rief dann im April 1979 den „Freien Libanon“ aus, einen Staat, dessen Territorium jene 800 Quadratkilometer sein sollten, die Israel bis zum Jahr 2000 besetzt hielt – unter Missachtung der UN-Sicherheitsratsresolution 425. Im Frühjahr 1976 intervenierte die syrische Armee im Libanon, um den Vormarsch der Koalition aus palästinensischen Gruppen4 und der „Nationalen Bewegung“ gegen die Stellungen der „Libanesischen Front“ zu stoppen. Zugleich nahmen die Oppositionskräfte – mit Zustimmung aus Washington – Kontakt zu Israel auf.
Sie entwickelten eine Strategie für den Machtwechsel im Libanon: Unterstützt durch eine erneute israelische Invasion, sollten die Falangisten die Macht übernehmen und unter Vermittlung Washingtons einen Friedensvertrag mit Israel schließen. Das bedeutete das Ende für die bewaffneten palästinensischen Gruppen im Libanon. 1982 wurde der Plan umgesetzt. Unter dem Kommando von General Ariel Scharon drangen israelische Truppen in den Libanon ein, belagerten Beirut und brachten schließlich die Falangisten an die Macht. Die westlichen Staaten sowie Ägypten und Saudi-Arabien schauten wohlwollend zu.
Noch während die Besatzungstruppen im Land standen, wählte das libanesische Parlament den Falangisten Beschir Gemayel zum Präsidenten – nach dessen Ermordung übernahm sein Bruder Amir das Amt. 1983 brachten die USA die neuen Machthaber dazu, einen sehr ungünstigen Friedensvertrag mit Israel zu schließen. Zur gleichen Zeit wurden im Schuf-Gebirge, südwestlich von Beirut, 200 000 Christen aus ihren Wohnorten vertrieben: Israel hatte vor seinem Rückzug noch die drusischen und christlichen Milizen aufeinandergehetzt. Die falangistischen Machthaber entwaffneten und verfolgten die Kampforganisationen der laizistischen Parteien, die seit 1978 die entscheidende Rolle im Widerstand gegen die Besatzung gespielt hatten.
Damit war der Boden bereitet für die Entstehung der Hisbollah. Die „Partei Gottes“ fand ihre Anhänger in der schiitischen Gemeinschaft, die von der islamistischen Revolution im Iran begeistert war und die Anstrengungen zur Befreiung des Südlibanon von israelischer Besatzung begrüßte.
Rafik Hariri, ein enger Vertrauter des saudischen Königs, wurde 1992 Ministerpräsident und blieb es mit zweijähriger Unterbrechung bis 2004. Er führte den Libanon in eine Phase hektischer Immobilien- und Finanzspekulationen, die ihm selbst und einer Entourage von Glücksrittern, Kurtisanen, syrischen Offizieren, saudischen Prinzen, wie auch Banken und Investmentfonds sagenhafte Gewinne bescherten. Der Staat dagegen blieb, als die Immobilienblase geplatzt war, auf 40 Milliarden Dollar Auslandsschulden sitzen.
Im September 2004 stellte die Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrats den Status des Libanon erneut in Frage. Die USA waren nach dem Einmarsch in den Irak zu dem Schluss gekommen, dass das Land nicht in ihren Plan eines „Neuen Nahen Ostens“ passte, solange Syrien und der Iran dort Einfluss hatten. In Washington sah man die Hisbollah als direktes Resultat dieser „Achse“ – und damit sollte Schluss sein. Folglich forderte die UN-Resolution, dass dem Präsidenten Emile Lahoud (der als wichtigster Förderer der „Hisbollah-Terroristen“ galt) keine Verlängerung seines Mandats zu gewähren sei; außerdem sah sie den Rückzug der syrischen Truppen aus dem Land, die Stationierung libanesischer Truppen im Südlibanon und die Entwaffnung aller Milizen vor. Der letzte Punkt bezog sich auf die noch aktiven Palästinensergruppen, aber vor allem auf die Hisbollah – die allerdings im Libanon wie in der gesamten arabischen Welt als Widerstandsorganisation gilt.
Eine Blamage für die internationale Gemeinschaft
In einem Akt seltener Ignoranz hatte Frankreich diese UN-Resolution auf den Weg gebracht – zweifellos, um das durch den Irakkrieg belastete Verhältnis zu den USA zu verbessern. Allerdings bedeutete dies, den Libanon erneut zu destabilisieren, ihn wie in den Jahren 1975 bis 1990 zum Schauplatz aller Nahostkonflikte zu machen. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch bereits Pläne zur Wiederbesetzung des Südlibanon entworfen. Nach der Ermordung von Präsident Rafik Hariri unternahmen Frankreich und die Vereinigten Staaten gemeinsame Anstrengungen, im Libanon eine amerikafreundliche politische Kraft ins Leben zu rufen – die „Gruppe 14. März 2005“, bestimmt von der Hariri-Familie und Walid Dschumblat, erfüllt diese Funktion.
Der Sicherheitsrat forderte nach dem Anschlag auf Hariri die Bildung einer internationalen Untersuchungskommission und eines internationalen Tribunals und erneuerte den Druck auf die libanesische Regierung, die Resolution 1559 umzusetzen. Angesichts dieser Bemühungen darf man sich wundern, wie wenig das höchste Gremium der Vereinten Nationen zu sagen hatte, als Israel im Juli 2006 die gesamte libanesische Bevölkerung in Geiselhaft nahm, ganze Regionen zerstörte, hunderte von Zivilisten tötete und zehntausende zur Flucht zwang.
Nicht nur für Israel ist die Lage im Libanon eine Blamage, sondern auch für die „internationale Gemeinschaft“, die dieser ungeheuerlichen Aggression tatenlos bis wohlwollend zusieht wie den gleichzeitigen Angriffen auf das, was von Palästina noch übrig ist.
Stehen nun erneut blutige Auseinandersetzungen zwischen den ethnisch-religiösen Gemeinschaften des Landes bevor? Israel missfällt der alte Traum von einem Libanon als Musterbeispiel des religiösen Pluralismus – kann er diesen erneuten Schlag überstehen? Immerhin scheint sich die Mehrheit der Christen im Libanon, im Unterschied zu 1975, auf ihre intellektuellen und politischen Wurzeln zu besinnen.
Die wichtigste politische Figur im christlichen Lager ist heute der frühere Generalstabschef Michel Aoun, der 1989 bis 1990 versucht hatte, Syrien aus dem Libanon zu vertreiben. Er ist in einer Vorstadt im Süden von Beirut aufgewachsen. Deshalb konnte er der Bevölkerung, auch der besonders hart getroffenen schiitischen, sein Mitgefühl glaubhaft versichern. Seine Erklärungen sind ein Zeichen gegen neue Zwietracht unter den Gemeinschaften, auf die Israel und die USA setzen, um den „abtrünnigen“ Libanon – wie 1982 – zu spalten und gefügig zu machen.
Die libanesische Zivilgesellschaft hat sich bewundernswert standhaft gezeigt. Aber am Ende könnte sie all der Schrecken müde werden, die der Libanon immer wieder erleben muss, und der Ideologie des „Kampfs der Kulturen“ Glauben schenken – seit 1975 trägt dieses Land, gemeinsam mit Palästina, die ganze Last der Angriffe einer übermächtigen israelischen Kriegsmaschinerie. In der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats finden sich genug Lücken und Zweideutigkeiten, die Israel und den USA erlauben, die libanesische Regierung unter Druck zu setzen und sich weiterhin in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, wie schon nach der Resolution 1559.
Viele Libanesen wünschen sich, dass ihr Land endlich eine neutrale Zone wird, ohne Verwicklung in den israelisch-palästinensischen Konflikt und ohne Bindungen an Syrien. Sie träumen von einem Monte Carlo in Bushs „Neuem Nahen Osten“, das die Petrodollars der Scheichs anzieht. Doch dieser alte Traum wird dem Libanon nicht aus dem aktuellen Dilemma erlösen. Überall geht das Gespenst des Bürgerkriegs um. Im Irak hat die „Demokratisierung“ unter Aufsicht Washingtons diese Tendenz gefördert, und in den arabischen „Klientenstaaten“ der USA verschärft sich der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten.
Solche Auflösungserscheinungen sind die fast zwangsläufige Folge der amerikanischen und israelischen Strategie, sie werden noch mehr Leid und Chaos in die Region bringen. Noch bleibt die Hoffnung, dass der Libanon sich dem entziehen und auf seine alte Stärke besinnen kann – die Solidarität zwischen den Gemeinschaften in der Stunde der Gefahr.
Fußnoten: