15.09.2006

Israels militärischer Irrweg

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Israels militärischer Irrweg

Die Bevölkerung kritisiert den Libanon-Feldzug, weil er nicht das erwartete Ergebnis gebracht hat von Amnon Kapeliuk

Am 15. August 2006 stattete General Schlomi Cohen, Kommandeur der berühmten Alexandroni-Brigade, seinen von der Front zurückgekehrten Soldaten einen Besuch ab. Zu seiner Überraschung sah er sich mit lautstarken Protesten konfrontiert. „Beim nächsten Krieg machen wir nicht mehr mit“, riefen einige: „Wir haben auch Familien.“ Die Soldaten beklagten sich, sie seien weder genügend informiert noch angemessen ausgerüstet gewesen, um es mit dem Gegner aufzunehmen. Es kam zu Wortgefechten, und nachdem er gedroht hatte, „einen Soldaten in Arrest zu nehmen“, zog sich General Cohen zurück – während die Truppe skandierte: „Schande!“

Dieser Vorfall macht deutlich, wie viel Ratlosigkeit, Verunsicherung und Zorn sich in Israel nach der UN-Resolution 1701 vom 12. August und dem Waffenstillstand ausgebreitet hat. Wieso war es Israels Streitkräften, einer der stärksten Armeen der Welt, nicht gelungen, mit der Hisbollah fertig zu werden, einer Miliz von nur einigen tausend Kämpfern? Immer neue Berichte der Medien legten offen, wie schlecht das Militär vorbereitet war und wie viele Fehlentscheidungen getroffen wurden. Die israelische Öffentlichkeit beginnt zu begreifen, warum das Land in diesem Krieg einen so hohen Preis gezahlt hat: 160 Tote (119 Soldaten und 41 Zivilisten), fast 1 500 Verletzte und wirtschaftliche Schäden von einer Milliarde US-Dollar. Dabei wurden die erklärten Ziele des Feldzugs nicht erreicht. Israel hatte seinen Beitrag zu George W. Bushs „Neuem Nahen Osten“ leisten wollen, es war schließlich von Washington schon früh ermutigt worden, der Hisbollah „das Genick zu brechen“.1

Tatsächlich war dieser Krieg in Israel von Anfang an umstritten, auch wenn die Umfragen den politischen und militärischen Kurs der Führung zu bestätigen schienen. Selbstgewiss erklärte Premierminister Ehud Olmert am 1. August: „Die Hisbollah ist nicht länger die Gefahr, die sie einmal war. Sie kann unser Volk nicht mehr bedrohen, weil wir uns verteidigt und den Sieg davongetragen haben.“ Mehr noch: „Wenn die Kämpfe heute beendet würden, könnte man sagen, das Gesicht des Nahen Ostens hat sich radikal gewandelt: Die israelische Armee und das israelische Volk haben einen vollständigen Sieg errungen.“2 Zwölf Tage später waren solche Fanfaren nicht mehr angemessen. Inzwischen hört man auch ganz andere Stimmen.

Für General Giora Eiland steht es in der Auseinandersetzung eher „unentschieden“. Er gab nach Meinungsverschiedenheiten mit Premierminister Ariel Scharon Ende 2005 sein Amt als Chef des Nationalen Sicherheitsrats auf. Erst in „vier bis fünf Monaten“ werde man den „wahren Sieger“ bestimmen können, meint er im Gespräch. Manche Militärs schließen sich sogar vorbehaltlos der Einschätzung von Scheich Hassan Nasrallah an: Der Hisbollah-Führer hatte am Tag des Waffenstillstands für seine „Partei Gottes“ einen „strategischen und historischen Sieg“ reklamiert.3 Allerdings räumte Nasrallah später ein, dass er nicht mit einer so zerstörerischen militärischen Reaktion Israels gerechnet hatte. Auch geben Teile des israelischen Militärs zu, es sei den eigenen Truppen nicht gelungen, die Hisbollah zu zerschlagen und zu entwaffnen. Man habe nicht einmal die beiden Soldaten befreit, deren Entführung durch die Hisbollah am 12. Juli den Anlass des Krieges bildete. Gleichzeitig wiesen sie jedoch auch schon auf die „nächste Runde“ der Feindseligkeiten hin, auf die sich „Israel sorgfältig vorbereiten muss“.

Immer schon hing eine Mehrheit der Israelis der Illusion an, Politiker müssten aus den Reihen des Militärs kommen, um wirklich erfolgreich zu sein – Generäle sollten das Land führen. Folglich werden sie von den Parteien umworben und sind erste Wahl für hohe öffentliche Ämter. Drei der bedeutendsten Regierungschefs der letzten fünfzehn Jahre waren tatsächlich Berufssoldaten: Jitzhak Rabin, Ehud Barak und Ariel Scharon.

Ehud Barak wurde im Februar 2001 abgewählt. Ariel Scharon, sein Nachfolger, verabschiedete sich vom Oslo-Friedensprozess und schickte das Militär wieder ins Westjordanland – dann leitete er mit dem einseitigen Abzug Israels aus dem Gaza-Streifen eine neue Politik ein. Als ihn Ende 2005 ein Schlaganfall traf, hatte er bereits nachhaltig dafür gesorgt, dass ein Verhandlungsfrieden mit den Palästinensern nicht mehr in Frage kam. Jitzhak Rabin war der einzige dieser Generäle, der wirklich politisch dachte. Aber er wurde 1995 von einem rechtsextremen jüdischen Fanatiker erschossen – damit endeten auch die Bemühungen um die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staats. Das heißt: Welchen militärischen Rang ein politischer Führer besitzt, ist nebensächlich. Es kommt auf seine Weltanschauung und Überzeugungen an und darauf, ob er politischen Mut beweist.

Die Armee versprach einen schnellen Sieg

Weder der gegenwärtige Regierungschef Ehud Olmert noch sein Verteidigungsminister Amir Peretz haben sich beim Militär hochgedient. Beide haben, wie alle Israelis, ihren Wehrdienst geleistet, können aber wohl kaum als Verteidigungsexperten gelten. Zweifellos ist dies der Grund für die ausgesuchten Komplimente, mit denen General Dan Halutz, der Chef des Generalstabs, sie für sich zu gewinnen suchte. Sogar Peretz – marokkanischer Herkunft, Mitglied der Arbeitspartei, gestandener Gewerkschafter und einst überzeugter Pazifist – fiel darauf herein.

Seit Peretz’ Amtsantritt und erst recht nach Beginn der Militäroperationen im Gaza-Streifen am 28. Juni herrschte zwischen dem Generalstab und „seinem“ Minister ein erstaunliches Einvernehmen. Nur dessen Hang zur Übertreibung war ein Problem: Peretz erklärte zum Beispiel, er habe keine Bedenken gehabt, der Luftwaffe gezielte Angriffe auf palästinensische (und später libanesische) Wohngebiete zu befehlen. In der Zeitung Ha’aretz erschien eine Karikatur, die Peretz vor einer zerstörten palästinensischen Ortschaft zeigt, wie er einem kleinen Soldaten Befehle erteilt. Zwei Generäle schauen zu, und der eine sagt halblaut zum anderen: „Der hat aber schnell gelernt.“4

Das zeigte sich auch, als am 12. Juli die beiden israelischen Soldaten in die Gefangenschaft der Hisbollah gerieten. Zunächst ging es darum, sie gegen Hisbollah-Kämpfer in israelischen Gefängnissen auszutauschen.5 Und genau das hat Außenminister Tzipi Livni am Ende wieder ins Gespräch bringen müssen – Mitte August. Die Verhandlungen laufen angeblich – der ägyptischen Zeitung al-Ahram zufolge auch mit deutscher Hilfe.

Peretz aber hörte nach der Entführung der Soldaten auf den Generalstab, der ihm versprach, einen „Feuersturm“ zu entfachen und „innerhalb weniger Tage“ alle Stützpunkte der Hisbollah zu vernichten. Die Generäle schätzten, die Operation werde etwa 300 Opfer unter der libanesischen Zivilbevölkerung und höchstens 90 bei der Truppe und unter der israelischen Bevölkerung kosten. Es sei von größter Wichtigkeit, erklärten die Generäle, der Hisbollah und damit der ganzen arabischen Welt die Abschreckungskapazität Israels zu demonstrieren. Mit dem militärischen Sieg über die Schiitenmiliz werde sich auch die Lage im Libanon radikal verändern. Der Generalstab beging dabei den gleichen Fehler wie sein amerikanischer „Lehrmeister“ im Irak: Eine Bewegung, die in Politik und Gesellschaft eines Landes verwurzelt ist, kann man nicht mit militärischen Mitteln auslöschen.

Außerdem konnte sich Israel seiner Sache durchaus nicht sicher sein. Kriege laufen niemals genau nach Plan, selbst wenn man mit militärischer Übermacht ins Feld zieht. Die Herren Halutz, Olmert und Peretz waren siegesgewiss, doch stattdessen verlangte nach dem Waffenstillstand eine Mehrheit der Israelis in Umfragen ihren Rücktritt. Sie müssen sich obendrein einer Untersuchungskommission stellen.

Allein der Begriff weckt schlimme Erinnerungen: Nach dem Überraschungsangriff von 1973, als Ägypten und Syrien die israelischen Truppen eine Woche lang in Bedrängnis brachten, kam ein solcher Ausschuss unter Schimon Agranat zu Ergebnissen, die Israels politische Klasse schwer erschütterten. Und nach den Massakern von Sabra und Schatila (1982) erzwang ein Ausschuss unter Jitzhak Kahane den Rücktritt General Scharons als Verteidigungsminister.

Wie couragiert wird sich die neue Untersuchungskommission zeigen, die Mitte August vom Verteidigungsministerium berufen wurde? Wird sie den Bürgern berichten, weshalb die Geheimdienste nichts vom geplanten Überfall der Hisbollah wussten und warum sie nicht ins Kalkül zogen, dass das nördliche Drittel Israels durch die Raketen der Miliz bedroht war? Wird sie den armen Schichten im Norden erklären, wieso sie mit Notunterkünften Vorlieb nehmen mussten, wenn ihnen die Mittel fehlten, in andere Regionen zu fliehen? Und wird sie den Soldaten eine Erklärung dafür bieten, dass sie unvorbereitet in den Kampf gegen eine Guerillatruppe gehen mussten?

Aber der Ausschuss sollte sich vor allem eine Frage stellen: Ist es nicht an der Zeit, dass der jüdische Staat seine Zukunft auf andere Weise sichert als durch die offenbar trügerische militärische Stärke? Muss man nicht endlich über einen dauerhaften Frieden mit den Nachbarn verhandeln – mit den Palästinensern, mit Syrien, mit dem Libanon? Die unilaterale Politik, der sich Scharon und Olmert verschrieben hatten, scheint kein Glück zu bringen.

Was die Kriegsverbrechen angeht, die in den furchtbaren 32 Tagen dieses Konflikts begangen wurden, so dürfte die Wahrheit wohl nur vor einem internationalen Tribunal ans Licht kommen. Man darf bezweifeln, dass es eingerichtet wird.

Fußnoten:

1 „Break the Bones“, Jediot Aharonot (Tel Aviv), 14. Juli 2006. 2 AFP, 1. August 2006. 3 AFP, 14. August 2006. 4 Ha’aretz, 7. Juli 2006. 5 Scheich Nasrallah ging es vor allem um die Freilassung des Libanesen Samir Kuntar, der 1969 für einen Anschlag in Naharija zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Amnon Kapeliuk ist freier Journalist in Jerusalem und Autor von „Yassir Arafat. Die Biographie“ (Palmyra-Verlag, 2005) sowie „Rabin. Ein politischer Mord“ (Palmyra-Verlag, 2001).

Le Monde diplomatique vom 15.09.2006, von Amnon Kapeliuk