Wider das Prinzip Vergeltung
Im israelisch-arabischen Konflikt herrscht immer noch die asymmetrische Moral von Dominique Vidal
In der Mesopotamien-Abteilung des Louvre steht eine zweieinhalb Meter hohe Basaltstele aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus. Der Stelenkopf zeigt die mythologische Szene, in der der babylonische König Hammurabi (um 1792 bis 1750 v. Chr.) vom Sonnengott Utu-Schamasch, der als Hüter der Gerechtigkeit verehrt wurde, die Gesetze entgegennimmt. Der Kodex Hammurabi, in Keilschrift in die Stelenmitte gemeißelt, enthält auch das berühmte Talionsgesetz – das Prinzip der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem.
Das Alte Testament greift dieses Prinzip auf. So heißt es im 2. Buch Mose: „Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, der soll des Todes sterben.“ (21,12), und: „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn …“ (21,23). Im 3. Buch Mose (19,18) wird aber auch Versöhnung gefordert: „Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.“
Das Neue Testament erteilt dem Talionsprinzip eine deutliche Absage. Im Matthäusevangelium (5,38-40) sagt Jesus: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘. Ich aber sage euch, dass ihr euch dem Bösen nicht widersetzen sollt, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem halte die andere auch hin.“ Im Koran wird eher abgewogen: „Oh ihr, die ihr glaubt! Es ist euch die Wiedervergeltung vorgeschrieben für die Getöteten: der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven, das Weibliche für das Weibliche. Doch wenn jemandem von seinem Bruder etwas vergeben wird, so soll der Vollzug auf geziemende Art und die Leistung ihm gegenüber auf wohltätige Weise geschehen. Dies ist eine Erleichterung von eurem Herrn und eine Barmherzigkeit. Wer nun von jetzt an (die Gesetze) übertritt, dem wird eine schmerzliche Strafe zuteil sein.“ (Sure 2, Vers 178)
Man kann sich kaum vorstellen, dass Ehud Olmert oder Amir Peretz in die Geschichtsschreibung eingehen werden – und wenn, dann als Befehlshaber in einem blutigen und sinnlosen Krieg. Die Militäroperationen mit den euphemistischen Namen „Sommerregen“ und „Gerechter Lohn“ haben 160 Israelis – überwiegend Soldaten – und 1 400 Libanesen und Palästinensern – überwiegend Zivilisten – das Leben gekostet. Auf Seiten der Hisbollah gab es nach eigenen Angaben 80, nach israelischen Angaben 500 Tote.1 Angesichts dieser Opferzahlen – das Ungleichverhältnis ist noch drastischer als bei der zweiten Intifada – müssen sich diejenigen, die meinen, die Moral für sich gepachtet zu haben, die Frage gefallen lassen, ob denn das Leben eines Israeli zehnmal so viel wert sein soll wie das eines Arabers.
Gleichgültigkeit ist keine Alternative
Denn ebendiese ungleiche Verteilung der Opfer entzieht der Argumentation der vorbehaltlosen Israelfreunde den Boden. Das weiß auch Bernard-Henri Lévy, der am 20. Juli in seiner Kolumne in Le Point schreibt: „Aber ich wüsste gern, wie die Leute, die von Unverhältnismäßigkeit reden, reagieren würden, wenn Terroristenkommandos, ohne sich um Grenzhoheiten zu scheren, in unser Land kämen, um französische Soldaten zu kidnappen.“2 André Glucksmann geht lieber gleich zum Gegenangriff über: „Ich bin empört über die Empörung all der Empörten. (…) Mal wiegt der Tod von Muslimen schwer, mal wiegt er leicht. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.“3 Ihn stört, dass man sich über die Toten von Kana erregt und über die viel zahlreicheren Opfer in Darfur, im Irak oder in Tschetschenien schweigt.
Sollen die Medien also künftig lieber auch gegenüber den Opfern des Libanonkriegs mehr Gleichgültigkeit an den Tag legen? Sicher nicht. Auch Glucksmann hat ja 1999 wegen des Kriegs in Tschetschenien einen Aufruf unterzeichnet, in dem es hieß: „Natürlich verurteilen wir den Terrorismus, aber Terroristen jagen kann nicht bedeuten, dass man Zivilisten bombardiert.“4 Mit von der Partie waren damals auch Romain Goupil, Claude Lanzmann und Bernard-Henri Lévy – sie alle haben Israels jüngsten Krieg unterstützt. BHL, unser „neuer Malraux“ (oder Sartre oder Tocqueville, je nachdem), hält die drei Entführungen für den Auslöser dieses Krieges. Offenbar hat er vergessen, wie oft der israelisch-palästinensische „Vulkan“ (Jassir Arafat) in den vergangenen sechs Jahrzehnten schon ausgebrochen ist: 1948, 1956, 1967, 1973 und 1982 – außerdem gab es da noch die erste (1987 bis 1993) und die zweite Intifada (2000 bis 2005) und Nebenschauplätze wie den libanesischen Bürgerkrieg und zwei Irakkriege.
Jede Geiselnahme ist zu verurteilen. Aber wenn die Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Schalit am 25. Juni eine Geiselnahme war, wie soll man dann die Razzia bezeichnen, die vier Tage später 34 palästinensische Abgeordnete und Minister in israelische Gefängnisse brachte, und wie die Verhaftung des palästinensischen Parlamentspräsidenten Anfang August? Und hat nicht Israel die beiden Soldaten, die die Hisbollah gefangen nahm, als Vorwand genutzt, um ganze Bevölkerungen in Geiselhaft zu nehmen – in Gaza, im Libanon und letztlich auch die eigene Bevölkerung im Norden? Die drei Soldaten sollten eigentlich im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei kommen, aber Israel hat die entsprechenden Angebote Ende Juni und Mitte Juli abgelehnt. Stattdessen müssen die Libanesen nun ihre Toten beklagen und ein verwüstetes Land wieder aufbauen.
Wie kann man sich über die Gefangennahme von drei Israelis aufregen und kein Wort über die mehr als 10 000 palästinensischen Gefangenen verlieren, deren Zahl allein im Juli um 600 anstieg?5 Darf Israel Streubomben, Bomben mit Phosphor oder sogar Sprengköpfe mit angereichertem Uran6 einsetzen, weil die Hisbollah einige Raketen mit Kugelschrapnell abgefeuert hat? Human Rights Watch, die Menschenrechtsorganisation, hat darauf hingewiesen, dass die Nichtunterscheidung von zivilen und militärischen Angriffszielen ein Kriegsverbrechen ist, und dabei auch klar gestellt, dass ihr „kein Fall bekannt ist, in dem die Hisbollah Zivilisten als menschliche Schutzschilde gegen israelische Angriffe benutzte“. Zwar hätten „einige Kämpfer Abschussrampen in Wohngebieten oder in der Nähe von UN-Beobachterposten installiert“, doch dies „rechtfertigt nicht die unterschiedslose Gewalt der israelischen Armee, die viele Zivilisten das Leben kostete“.7 Ebenso fragwürdig ist es, einerseits die Schäden zu beklagen, die die Hisbollah im Norden Israels anrichtete, aber „jenen Regen aus Eisen / aus Blei / aus Feuer / aus Stahl / aus Blut“ (Prévert) zu begrüßen, der von israelischer Seite über dem Libanon niederging und die Infrastruktur des Landes zerstörte: Wohnhäuser, Straßen, Brücken, Häfen und Flughäfen, Elektrizitätswerke, Fabriken. Dieser Krieg hat Israel schätzungsweise eine Milliarde Dollar gekostet, den Libanon dagegen sechs bis zehn Milliarden.
Das „Messen mit zweierlei Maß“ gibt es nicht nur beim Thema Nahost. In der französischen Politik, unter den Journalisten und im privaten Gespräch hat es sich längst durchgesetzt – und funktioniert fast unbewusst. Das haben zum Beispiel die Fälle Ilan Halimi und Chahib Zehaf gezeigt. Am 13. Februar 2006 wurde in Bagneux der 23-jährige Ilan Halimi tot aufgefunden – er war zuvor gefangen gehalten und gefoltert worden. Seine jüdische Herkunft und erste Aussagen seiner Peiniger wiesen auf Antisemitismus als mögliches Mordmotiv hin. Doch bewiesen ist das keineswegs. Dennoch starteten höchste Repräsentanten von Staat und Kirchen, die Medien und die politischen Parteien eine große Kampagne: Am 26. Februar fanden sich in Paris mehr als 50 000 Menschen zu einem Protestmarsch ein. Sechs Tage später wurde in Oullins bei Lyon der 42-jährige Chahib Zehaf durch drei Pistolenschüsse getötet. Auch hier sah es nach einem rassistischen Verbrechen aus, auch hier gibt es noch keine Beweise. Von den Menschen, die für Ilan Halimi auf die Straße gegangen waren, hörte man diesmal wenig. Es dauerte drei Wochen, bis in Lyon eine Demonstration stattfand – mit gerade mal 2 000 Teilnehmern. „SOS Racisme“ klebte kurz darauf überall in Frankreich Plakate mit dem Slogan: „Ein Araber in Oullins, ein Jude in Paris – zwei Freunde von uns sind ermordet worden.“
Diese Asymmetrie findet sich in fast allen Stellungnahmen zu Rassismus und Antisemitismus in Frankreich. Von 2000 bis 2002 war unter den rassistischen Straftaten eine überproportionale Zunahme der Gewalttaten gegen Juden zu verzeichnen. Danach schwächte sich die Zunahme ab, 2005 ging der Anteil laut Jahresberichten der „Nationalen Beratungskommission für Menschenrechte“ (CNCDH)8 sogar überdurchschnittlich zurück.
Viele Politiker und Journalisten unterschätzen die Zunahme des anti-arabischen Rassismus und der Islamfeindlichkeit und kümmern sich auch nicht um den qualitativen Unterschied: Nach dem 11. September 2001 ist der Antisemitismus zu einem Phänomen von Randgruppen geworden, während die Vorurteile gegen Araber und Muslime deutlich zunahmen. Nach neueren Umfragen wären 90 Prozent der Franzosen bereit, einen Juden zum Staatspräsidenten zu wählen, aber nur 36 Prozent würden für einen muslimischen Kandidaten stimmen.9
Mit der gebotenen Vorsicht kann man den Umfrageergebnissen im CNCDH-Bericht von 2006 erhellende Informationen entnehmen. Jeder dritte Franzose bekennt sich zu rassistischen Vorurteilen (ein Plus von acht Prozent gegenüber 2004), und 63 Prozent der Befragten (plus 5 Prozent) sind der Meinung, dass „bestimmte Verhaltensweisen manchmal zu Recht rassistische Reaktionen hervorrufen“. Als Opfer rassistischer Übergriffe weist die Umfrage vor allem „Nordafrikaner“ und „Muslime“ aus (42 Prozent), gefolgt von „Ausländern“ und „Einwanderern“ (26 Prozent) sowie „Afrikanern“ und „Schwarzen“ (17 Prozent). Am unteren Ende der Statistik finden sich Franzosen (12 Prozent), „Juden“ (6 Prozent) und „Menschen anderer Hautfarbe“ (6 Prozent).
Aber schon die Einordnung der verschiedenen Formen des Rassismus in eine Rangfolge wertet den Rassismus nur noch mehr auf. Dass sich diese Einsicht noch nicht durchgesetzt hat, beweisen die Reaktionen auf das jüngst erfolgte Verbot der antisemitischen Schwarzenorganisation „Tribu Ka“. In der Verfügung, die sich auf das Gesetz vom 10. Januar 1936 „über Kampfgruppen und private Milizen“ stützt, wird der Gruppe zu Recht vorgeworfen, „Vorstellungen und Theorien zu verbreiten, die Diskriminierung, Hass und offene Gewalt fördern und rechtfertigen“.10 Diese Beschreibung trifft allerdings auch auf andere, in Frankreich aktive Gruppierungen zu, wie etwa auf die „Jewish Defense League“, die in den USA, Kanada und in Israel (als Kach-Partei) verboten ist. Ihre Mitglieder, wie übrigens auch die der zionistischen Jugendorganisation Betar, haben Aktivisten, die für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina eintreten, unzählige Male angegriffen und sogar im Gerichtssaal bedroht.11
Noch etwas gibt zu denken. Kurz nach dem Ende der Proteste gegen den Ersteinstellungsvertrag (CPE) brachte die Humanité eine Petition auf den Weg, die Amnestie für Demonstranten fordert, die von den Gerichten „wie am Fließband“ abgeurteilt worden waren und nicht in den Genuss des jährlich am 14. Juli vom Staatspräsidenten ausgesprochenen Gnadenerlasses kamen. Aber wo bleibt eine solche Initiative zugunsten vielen hundert junger Menschen, die im letzten Winter, während der Unruhen in den Vorstädten, zu Unrecht verurteilt wurden?
Das ist keine Frage der Ideologie. Gerade im israelisch-arabischen Konflikt kann es keine friedliche Lösung geben, solange mit zweierlei Maß gemessen wird. Israels Führung hat als einen der Gründe für den Angriff auf den Libanon angeführt, dass Beirut nicht im Stande sei, die Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrats umzusetzen. Darin wird gefordert, dass die libanesische Armee die Kontrolle über den Süden des Landes übernimmt, das heißt die Hisbollahmilizen aus dem Grenzgebiet zu Israel verdrängt. Die internationale Gemeinschaft nahm die Erklärung Israels wohlwollend und ohne jedes Erstaunen zur Kenntnis. Dabei ist das ein Novum! Zum ersten Mal scheint man in Tel Aviv geneigt, eine Resolution des Sicherheitsrats zu respektieren.
Sollte Israel endlich die Resolutionen des Sicherheitsrats oder gar die der Vollversammlung12 umsetzen wollen, wäre einiges aufzuarbeiten: Resolution 181, vom 29. November 1947, legt die „Teilung“ Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat fest; Resolution 191, vom 11. Dezember 1948, begründet das „Recht auf Rückkehr“ der Flüchtlinge; Resolution 242, vom 22. November 1967, fordert den „Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten“ im Austausch gegen die Anerkennung seines „Rechts, innerhalb anerkannter und sicherer Grenzen friedlich zu leben“; Resolution 3226, vom 22. November 1976, bestätigt ausdrücklich „das Recht des palästinensischen Volkes auf Souveränität und nationale Unabhängigkeit“.
Nicht zu vergessen die drei jüngsten Resolutionen zu diesem Konflikt: Am 12. März 2002 bekräftigte der Sicherheitsrat, zum ersten Mal seit 1947, ein „Konzept, nach dem zwei Staaten, Israel und Palästina, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen Seite an Seite bestehen“. Am 20. Juli 2004 schloss sich die UN-Vollversammlung einer Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag an und forderte den Rückbau der israelischen Trennmauer im Westjordanland. Und schließlich die Sicherheitsratsresolution 1701, die am 11. August 2006 den Libanonkrieg beendete – zumindest auf dem Papier.
Fußnoten: