Begehrter Partner Indien
von Christophe Jaffrelot
Der Staatsbesuch, den US-Präsident George W. Bush im März Indien abstattete, wurde in Delhi als historisch bezeichnet. Doch die politische Annäherung zwischen Indien und den Vereinigten Staaten begann schon in den Amtszeiten von Bill Clinton und Atal Bihari Vajpayee, Ministerpräsident Indiens zwischen 1998 und 2004. Im März 2000 reiste Clinton zu Vajpayee, dessen Gegner damals monierten, der Regierungschef träfe keine außenpolitische Entscheidung, ohne vorher mit dem Weißen Haus zu telefonieren.
Das gute Verhältnis hält bis heute an, obwohl in den USA wie in Indien neue Köpfe an der Macht sind. Nicht einmal die Beteiligung der Kommunisten am neuen indischen Regierungsbündnis unter Führung der Kongresspartei hat etwas daran geändert - und das, obgleich die CPI die USA-Orientierung der Regierung Vajpayee immer kritisch beäugt hatte.
Gemeinsame Militärmanöver von Heer, Marine und Luftwaffe sind inzwischen zur Routine geworden. Voriges Jahr unterzeichneten Indien und die USA das sogenannte Open-Skies-Abkommen, um den Luftverkehr zwischen beiden Ländern zu intensivieren. Air India erwarb 68 Boeing-Flugzeuge im Gesamtwert von elf Milliarden US-Dollar – ein Geschäft, das man beim Konkurrenten Airbus gar nicht gern sah. Im Juni 2005 vereinbarten beide Länder eine strategische Partnerschaft, die beim Staatsbesuch Bushs in Neu-Delhi im März bekräftigt wurde.
Gleichzeitig beeilte sich Indien, seine Beziehungen zu Israel auszubauen.1 Israel ist nach Russland der zweitgrößte Rüstungslieferant Indiens. Die Kommunisten konnten zwar die Suspendierung der gemeinsamen Militärmanöver beider Länder durchsetzen, aber das ist auch schon das einzige außenpolitische Zugeständnis, das Ministerpräsident Manmohan Singh ihnen bis zum heutigen Tag machte.
Was verspricht sich Indien von dem Bündnis mit den Vereinigten Staaten? Zunächst einmal verschaffte Indien die Partnerschaft mit den USA Zugang zu gewissen Attributen der Macht. So durfte Israel mit Washingtons Billigung das Radarsystem Phalcon an Indien verkaufen. Ein ähnliches Geschäft Israels mit China war 1999 am Veto Bill Clintons gescheitert. Bush selbst bot Indien sogar F-16- und F-18-Kampfjets an.
Kohle, Atomenergie und Grüne Revolution
Darüber hinaus trifft sich die geostrategische Sicht Indiens inzwischen in einem ganz wesentlichen Punkt mit der Sicht der Amerikaner, nämlich in puncto Terrorismusbekämpfung. Nach dem 11. September gelangte ein Gutteil des politischen Establishments Indiens zu der Auffassung, dass sich die Vereinigten Staaten in einer ähnlichen Situation befinden wie Indien. Auch sie sind nun Opfer islamistischer Netzwerke, die ihre Wurzeln in Pakistan haben. Umfragen aus Anlass des Bush-Besuchs ergaben, dass eine Mehrheit der Inder dessen Außenpolitik befürworteten und davon überzeugt waren, dass Bush „die Welt durch den Krieg im Irak sicherer gemacht hat“. Kommunisten und muslimische Organisationen in Indien hatten hingegen gegen den Krieg demonstriert.
Abgesehen von diesen militärstrategischen Erwägungen schätzt Indien auch andere Aspekte der neuen Zusammenarbeit mit den USA. Weitreichende Fortschritte wurden in den letzten Monaten im Energiebereich erzielt, wo die Amerikaner Hilfe bei der Aufbereitung indischer Kohle zusagten, um die Energieausbeute in umweltschonender Weise zu erhöhen. Und für die indische Landwirtschaft wollen die USA alles Nötige beisteuern, um eine zweite „Grüne Revolution“ zu ermöglichen.
Vor allem aber im Hinblick auf die zivile Nutzung der Atomenergie erwies sich Bushs Indienbesuch als entscheidend. Der US-Präsident kündigte an, Indien eine Sonderstellung gewähren zu wollen: Obwohl Neu-Delhi den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, sprach sich Bush dafür aus, den Transfer sensibler Produkte – auch angereichertes Uran – zu gestatten, da sich Indien in lobenswerter Weise für Demokratie und die Nichtverbreitung von Atomwaffen eingesetzt habe. Nur eine Bedingung stellte er: Die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) soll bis 2014 in 65 Prozent der Atomanlagen überprüfen, ob Dual-Use-Technologien nicht für militärische Zwecke verwendet werden.
Im amerikanischen Kongress, der einem solchen Abkommen zustimmen muss, kritisierten die Abgeordneten prompt, dass 8 der 22 indischen Atomreaktoren unter Kontrolle der indischen Regierung verbleiben, die dort ihr Militärarsenal weiterentwickeln könnte. Indien hat folglich nur geringe Zugeständnisse gemacht, die der nationalen Souveränität in militärstrategischen Fragen kaum Abbruch tun.
Weshalb findet sich das Weiße Haus zu solch weitreichenden Konzessionen bereit? Zum einen sind die Beziehungen zu Indien die einzige außenpolitische „Erfolgsstory“, der sich Bush nach knapp sechs Amtsjahren rühmen darf. Zum anderen ist das geopolitische Gewicht Indiens gewachsen. Washington braucht den neuen Verbündeten als Hilfspolizisten im Indischen Ozean, vor allem, um den Iran zu isolieren.
Bei der IAEA hat Delhi bereits zweimal gegen dieses „befreundete Land“ Stellung bezogen. Delhi scheint sich auch vom Plan einer Gasleitung von den Pars-Öl- und -Gasfeldern im Persischen Golf nach Indien zu verabschieden. Vor allem aber betrachten die Vereinigten Staaten Indien als regionales Gegengewicht zum wachsenden Einfluss Chinas. Derzeit gibt es aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Indien auf Seiten der USA mitspielen würde, sollten sich die Vereinigten Staaten einmal mit China anlegen wollen. Das Reich der Mitte ist bereits heute einer der wichtigsten Handelspartner Indiens. Beide investieren zunehmend im jeweils anderen Land und bewerben sich sogar gemeinsam um Ausschreibungen von Drittländern für den Erwerb von Ölfeldern, beispielsweise in Syrien und Kanada.
Die wirtschaftliche Dynamik spielt eine wichtige Rolle bei den US-amerikanisch-indischen Beziehungen. Die Vereinigten Staaten waren 2004/2005 mit einem Anteil von 11 Prozent der wichtigste Handelspartner Indiens. China brachte es im gleichen Zeitraum nur auf 5,6 Prozent. Mit 17 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen seit 1991 sind die USA in Indien stärker wirtschaftlich engagiert als jedes andere Land.
Eine entscheidende Rolle bei der neuerlichen Annäherung spielt auch die indische Diaspora in den Vereinigten Staaten, die heute zwei Millionen Menschen betrifft – doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Laut der US-Volkszählung von 2000 liegt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der Indoamerikaner bei 60 093 Dollar (Landesdurchschnitt: 38 885 Dollar), und nur 6 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze. Der Grund dafür ist, dass drei Viertel der in den USA lebenden Inder ein Universitätsstudium absolviert haben.
Die indisch-amerikanische Annäherung lässt sich also nicht auf militärstrategische Erwägungen reduzieren, sondern beruht ebenso auf vielfältigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Austauschprozessen. Auch wenn die indischen Militärs Washingtons Angebot, F-16-Militärflugzeuge zu liefern, aus technischen Gründen ausschlugen und der US-Kongress das von Bush angestrebte Abkommen zur zivilen Zusammenarbeit im Nuklearsektor ablehnt, werden sich die beiderseitigen Beziehungen in Zukunft wohl intensivieren, während die Bindungen zwischen Indien und Europa lockerer werden.
Im Juni 2004 beschloss die Europäische Union eine strategische Partnerschaft mit Indien, durch die auf dem Gebiet der Konfliktverhütung enger kooperiert werden sollte. Auch die wirtschaftliche Partnerschaft sollte durch mehr Entwicklungszusammenarbeit gestärkt werden, um Indien zu helfen, die Millenniumsziele in Sachen Armutsbekämpfung zu erreichen. Schließlich vereinbarten beide Seiten, den geistigen und kulturellen Austausch zu intensivieren und die beiderseitigen Beziehungen zu institutionalisieren.
Die Zwischenbilanz zwei Jahre später sieht eher durchwachsen aus. Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde die EU als bislang wichtigster Handelspartner Indiens von Asien verdrängt: Mit der Vereinigung südostasiatischer Staaten Asean+3 wickelte Indien 2004 20 Prozent seines Außenhandels ab, mit der EU nur 19 Prozent. Umgekehrt tätigt die EU nur 1,7 Prozent seiner Ein- und Ausfuhren mit Indien. Von den europäischen Auslandsdirektinvestitionen flossen 2004 ganze 0,3 Prozent nach Indien.
In diplomatisch-strategischer Hinsicht scheint die Lage besonders verfahren zu sein. Zum einen konzentriert sich die europäische Diplomatie weiterhin auf Peking. Zum anderen steht Indien mehreren EU-Initiativen ablehnend gegenüber, darunter der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs sowie dem Übereinkommen von Ottawa zum Verbot von Antipersonenminen. Mit Misstrauen verfolgt Indien überdies die Einmischung der Europäischen Union in innere Angelegenheiten, etwa wenn die Menschenrechtslage im Kaschmir oder die Frage der Kinderarbeit angesprochen wird.
Tatsächlich halten die indischen Eliten, trunken ob der jüngst erlangten Macht, mit ihrer Verachtung fürs wirtschaftlich kriselnde Europa nicht länger hinterm Berg. Europa ist nach indischer Lesart ausgepowert, der europäische Sozialstaat überholt und dem Untergang geweiht. So nimmt das nationalistisch gesinnte Indien Revanche für Jahrhunderte kolonialer und neokolonialer Herrschaft und begegnet der EU umso feindseliger, wie Letztere sich Attitüden erlaubt, die eben diese Kolonialmentalität ausstrahlen.
Indien sieht die Weltpolitik pragmatischer als Europa
Ein Paradebeispiel hierfür ist der Streit um den Stahlkonzern Mittal, als dieser Anfang des Jahres den europäischen Rivalen Arcelor übernehmen wollte. Obwohl Mittal Steel gar kein indisches Unternehmen ist, konnte die indische Presse die Europäische Union leicht der Doppelzüngigkeit bezichtigen: Je nachdem, was ihr gerade in den Kram passe, spiele sie das Spiel des globalisierten Kapitalismus oder lehne sich gegen ihn auf. Indien hatte keine Bedenken, den Zementhersteller Lafarge aufzunehmen – wozu also die Aufregung?
Die Europäer gehen davon aus, dass „Indien und die Europäische Union eine auf den Grundsätzen des Multilateralismus beruhende Sicht der Welt teilen“3 . Doch der indische Diskurs über die Notwendigkeit einer multipolaren Welt täuscht. Delhi erbte von seinem Drittwelt-Engagement im Rahmen der Blockfreienbewegung einen antiimperialistisch gefärbten Diskurs, der sich vor allem gegen die Hegemonie der USA richtete. Dieser ähnelt zwar dem europäischen Multilateralismus und dessen Streben nach einem internationalen Normensystem, inzwischen verfolgen die Inder aber eine pragmatisch orientierte Politik. An der internationalen Führungsrolle der USA führt in den Augen der indischen Elite kein Weg vorbei. Die Europäische Union mit ihrer Suche nach einer eigenen Identität wird vom aufstrebenden Indien nicht mehr als internationaler Akteur erster Ordnung wahrgenommen.
Während Indiens Staatsgründer Nehru und Gandhi noch an Werte – wir würden heute Normen sagen – glaubten, sind die zeitgenössischen Strategen der indischen Thinktanks der Auffassung, die Entwicklung Indiens zur „größten Demokratie der Welt“ habe dem Land weit weniger Ansehen eingebracht als die Atombombenversuche 1998. Diese politische Neuausrichtung ist in sich völlig stimmig: Hörte der Westen etwa auf Indien, als das Land Werte wie Gewaltlosigkeit und Abrüstung oder Persönlichkeiten wie den Dalai Lama verteidigte?
So verschwindet die Europäische Union mehr und mehr aus dem Blickfeld eines der aufstrebendsten Schwellenländer unserer Zeit. Nutznießer dieser Entwicklung sind die Vereinigten Staaten, die noch vor acht Jahren, als Washington Delhi wegen der Nuklearversuche mit harten Sanktionen belegte, kaum als künftiger Verbündeter in Betracht kamen. Dass die Europäer diese Kehrtwende teuer zu stehen kommt, mag das Abkommen über die militärstrategische Zusammenarbeit veranschaulichen, mit dem sich Indien und die Vereinigten Staaten im Juni 2005 auf gemeinsames Handeln bei friedenserhaltenden Maßnahmen im Ausland verständigten. Dieses Abkommen birgt die Gefahr, dass die Inder das Interesse an ähnlichen Operationen mit Europa verlieren könnten, obwohl gerade dies eines der Ziele der im Jahr zuvor unterzeichneten strategischen Partnerschaft zwischen Indien und der EU war.
Will die Union die Beziehungen zu Indien auf eine solidere Grundlage stellen, muss sie auf der internationalen Bühne zunächst einmal mehr Profil zeigen. Dies ist kein leichtes Unterfangen nach dem Scheitern der europäischen Verfassung, die der EU immerhin einen Außenminister verschafft hätte. Wenn sie außenpolitisch handlungsfähig wäre, gäbe es durchaus eine ehrgeizige Initiative, die die Union ergreifen könnte: Sie könnte sich für die Aufnahme Indiens in den Sicherheitsrat stark machen. Eine solche Initiative würde die Attraktivität des von Europa verfochtenen Multilateralismus stärken und den Europäern mehr Profil verleihen gegenüber den Chinesen und Amerikanern, die einen Sitz Indiens im Sicherheitsrat – mehr oder weniger offen – ablehnen.
Europas Verhalten gegenüber Chi-na ist sowieso paradox: Während die Europäische Union nach eigenem Bekunden großen Wert auf Demokratie legt, wendet sie sich China zu, dessen Bilanz in dieser Hinsicht bei weitem nicht so ehrenhaft ausfällt wie die Indiens. Resultat: Indien lauscht lieber dem amerikanischen Sirenengesang für mehr Demokratie – wider den Autoritarismus des chinesischen Regimes.
Fußnoten: