Südkoreas Aufrüstung zur See
Die USA helfen mit, China fühlt sich umzingelt von Matthew Reiss
Die südkoreanische Insel Jeju liegt hundert Kilometer südlich der koreanischen Halbinsel im ostchinesischen Meer. Nirgendwo sonst sind die Traditionen der koreanischen Kultur so lebendig wie auf dieser Insel aus Vulkangestein. Für viele Bewohner gehören schamanische Rituale zur Anrufung der Geister noch zum alltäglichen Leben. Von der Zivilisation scheint Jeju bislang ziemlich unberührt. Die Gewässer sind klar, die Landschaft wird dominiert von erstarrten Lavaadern, die schwarz von den Gipfeln der Berge laufen. Die Insel gehört zum Weltnaturerbe der Unesco. Für die meisten Koreaner ist sie jedoch – wie Okinawa für die Japaner – kaum vorhanden. Genau das macht sie für die Rüstungsindustrie zum idealen Standort für eine Raketenbasis.
Dieser militärisch-zivile Interessengegensatz dominiert auch die politische Atmosphäre auf dem koreanischen Festland: Die Unvereinbarkeit zwischen nachhaltiger ökonomischer Entwicklung und erhöhten Rüstungsausgaben tritt klar zutage. Südkorea ist stolz auf sein modernes Bildungs- und Gesundheitswesens, auf die Meinungsvielfalt der Presse und neuerdings auf die aktive Beteiligung der Bürger am politischen Prozess, die in diesem Teil der Welt ihresgleichen sucht. Aber all das scheint jetzt gefährdet: Nachdem die Regierung in Seoul einen vermutlich nordkoreanischen Torpedoangriff auf die Korvette „Cheonan“1 zum Anlass für Kriegsvorbereitungen genommen hat, geht sie gegen Regierungskritiker vor. Diese aggressiven Versuche, die Opposition zu behindern, wecken die Sorge, dass Südkorea in die autoritären Traditionen der Vergangenheit zurückfallen könnte.
In einem pazifischen Nachbarstaat spielt sich derselbe Konflikt zwischen nachhaltigem Wachstum und Rüstungsausgaben ab. In Japan kam die Demokratische Partei (DPJ) im Herbst 2009 unter anderem deshalb an die Macht, weil sie im Wahlkampf drei Dinge versprochen hatte: erstens etwas gegen die hohen finanziellen und sozialen Kosten zu tun, die durch die Aufrechterhaltung von US-Militärbasen in der Nähe japanischer Großstädte entstehen; zweitens die Beziehungen zu China unabhängig von den Interessen Washingtons zu gestalten; und drittens auf eine asiatische Wirtschaftsunion hinzuarbeiten.
Konkret wollte die DPJ den US-Luftwaffenstützpunkt auf Okinawa verlegen, der in einem dicht bevölkertem Gebiet liegt. Obwohl die DPJ dieses Vorhaben dann doch nicht realisierte, hat der politische Kurswechsel in Tokio den Nachbarn Südkorea für die Rüstungslobby noch attraktiver gemacht.
Als Lee Myung Bak im Februar 2008 das Präsidentenamt übernahm, haben sich die Perspektiven für die US-amerikanischen Interessen schlagartig verbessert. Lee vollzog einen harten Kurswechsel gegenüber der Politik seiner beiden progressiven Vorgänger.2 Gleich nach seinem Amtsantritt beendete er die Politik der Annäherung mit Nordkorea, die populäre, von Präsident Kim Dae Jung 1998 begonnene „Sonnenscheinpolitik“, und drehte die weitreichende Medienreform wieder zurück, die sein unmittelbarer Amtsvorgänger, Roh Moo Hyun, durchgesetzt hatte.
Bereits wenige Wochen nach seiner Inauguration machte Lee seinen Antrittsbesuch bei George W. Bush. In Camp David verabredeten die beiden Präsidenten – neben der Aufhebung des südkoreanischen Einfuhrverbots für US-Rindfleisch3 –, dass Seoul eine stärkere politische Rolle in der Region zustehe. Schon vorher hatte der koreanische Staatskonzern Hyundai einen neuen Zerstörer der KDX-III-Klasse entwickelt, der mit dem Waffensystem Aegis (Abfangraketen plus Radarsystem) von Lockheed-Martin ausgerüstet ist.4 Das erste Schiff wurde 2007 in Dienst gestellt, ein zweites wird Ende 2010 folgen. Insgesamt wurden sechs Zerstörer in Auftrag gegeben.
Da sich die Außenpolitik Lees durch Provokationen gegenüber China auszeichnet, stellen die neuen südkoreanischen Kriegsschiffe ein Instrument dar, mit dem die USA den Ambitionen Chinas, zur dominanten Seemacht im westpazifischen Raum zu werden, entgegentreten kann, .
Aufgabe der südkoreanischen Marine war bisher allein die Sicherung der Küstengewässer. Wenn jedoch einmal alle sechs Zerstörer in Dienst gestellt sind, wird Südkorea für die pazifische Flotte der USA und ihre Rivalität mit China eine ähnliche Bedeutung gewinnen wie Japan. Ab 2014 soll Südkoreas neue Kriegsflotte an der Seite der US-Marine operieren – und ihre Basis soll die Insel Jeju sein.
Der Oberst der chinesischen Luftstreitkräfte, Dai Xu, kritisiert die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Japan, Korea und Indien, die allesamt mit den USA verbündet sind. Für seine Diagnose einer „sichelförmigen Umzingelung“ spricht in der Tat die Ankündigung von Hyundai und Lockheed, dass im Anschluss an den Auftrag der südkoreanischen Marine der Bau weiterer Zerstörer derselben Klasse geplant ist, die man an Indien verkaufen will.
Obwohl die USA durch die Kooperation von Hyundai und Lockheed ihre Präsenz zur See in dieser Region ausbauen können, bleibt die chinesische Dominanz bei den konventionellen Seestreitkräften ungefährdet. Aber Peking hat keine angemessene Antwort auf die Stationierung von seegestützten Abwehrraketen in seiner unmittelbarer Nachbarschaft. Diese ist allerdings noch nicht sicher, weil nach wie vor ungeklärt ist, wo die Marinebasis für die mit Raketen bestückten Zerstörer entstehen soll.
Jeju will kein Flottenstützpunkt werden
In Jeju gibt es Widerstand gegen die Stationierung: Zwei Gemeinden, die als Basis in Aussicht genommen waren, lehnten das Vorhaben ab. Das war allerdings 2002 und 2005, also noch in der liberaleren Ära der Präsidenten Kim und Roh. Doch seit Lee im Amt ist, treibt Seoul das Projekt energisch voran. Als Standort ist neuerdings der Fischerdorf Gangjeong ausersehen. Obwohl der Bürgermeister darauf verweisen kann, dass 94 Prozent der Wahlberechtigten gegen einen Marinestützpunkt sind, ließ das Verteidigungsministerium Bäume fällen und das fragliche Gelände planieren. Die neue Regierung signalisiert damit, dass sie nicht gewillt ist, ihre neue Außenpolitik durch lokale Initiativen stören zu lassen .
Inzwischen klagen die Bewohner von Gangjeong vor Gericht gegen die drohende Beeinträchtigung von Landwirtschaft, Fischfang und Tourismus. Sie machen geltend, dass eine große US-Marinebasis für ihre Insel ähnliche Auswirkungen haben würde wie in Hawaii und Guam oder auf den Philippinen und in Japan: negative Folgen für den Tourismus und die Meeresfauna, Konflikte zwischen Zivilbevölkerung und Militärpersonal sowie eine permanente Gefährdung durch gefährliche Abfälle. All das würde Jeju zu einem koreanischen Okinawa machen.
Die Inselbewohner gingen zunächst davon aus, dass ihre juristische Klage erfolgreich sein würde. Aber nachdem die südkoreanische Korvette „Cheonan“ am 26. März an der Grenze zu nordkoreanischen Hoheitsgewässern gesunken ist, hat das zuständige Gericht in Jeju seine Entscheidung auf unbestimmte Zeit vertagt. Unmittelbar nach dem Untergang der „Cheonan“ hatten Verteidigungsminister Kim Tae Young und Geheimdienstchef Won Sei Hoon verlauten lassen, es gebe keine Hinweise auf eine nordkoreanische Täterschaft. Doch eine internationale Untersuchungskommission kam in ihrem Bericht vom 20. Mai zu dem Schluss, die „Cheonan“ sei durch einen nordkoreanischen Torpedo versenkt worden.5
Lee beschuldigte daraufhin Pjöngjang des Terrorismus und drohte mit Vergeltung. Auch US-Außenministerin Hillary Clinton sah „unwiderlegbare Beweise“ für die Schuld der Nordkoreaner. Wenige Tage später beschloss das Pentagon die Entsendung einer Flugzeugträger-Marineeinheit nach Südkorea mit dem Auftrag, U-Boote aufzuspüren.
Die Kriegsrhetorik kulminierte nur eine Woche vor den südkoreanischen Regionalwahlen, bei denen Lees Partei in der Hauptstadtregion Seoul eine Niederlage einstecken musste. Die Antwort des Präsidenten kam prompt: Polizei und Geheimdienstkräfte durchsuchten die Büros der wichtigsten Organisationen der Zivilgesellschaft; und gegen einige Bürger, die den Report zum Untergang der „Cheonan“-Vorfalls öffentlich anzweifelten, wurde Anklage erhoben.
Angesichts dieser aufgeheizten Stimmung ist ungewiss, ob die Inselbevölkerung mit ihrer rechtlichen Klage Erfolg haben wird. Zudem wird Peking den Ausgang des Verfahrens nicht abwarten.
Dass China seine Kriegsschiffe immer wieder in die Hoheitsgewässer der Nachbarstaaten schickt und Aufklärungsoperationen der US-Marine im Süd- und Ostchinesischen Meer behindert, lässt keinen Zweifel daran, wer im westlichen Pazifik das Sagen hat. James B. Steinberg, US-Vizeaußenminister unter Hillary Clinton, schwebt ein Kompromiss vor: Die USA könnten zusagen, dass sie Pekings Interessen in der Region respektieren, wenn die Chinesen im Gegenzug versichern, dass sie mit ihrer Politik friedliche Absichten verfolgen. Dem widerspricht allerdings das Bestreben der USA, das Netz von Raketensystemen im asiatischen Raum auszuweiten und Jeju als Stützpunkt für US-Trägerschiffe zu nutzen.
Dass deren Abwehrraketen gegen eine Bedrohung durch atomar bestückte Raketen wenig ausrichten können, ist allgemein bekannt. Aber ein Präventivschlag durch solche Antiraketen-Raketen könnte das relativ begrenzte nukleares Abschreckungsarsenal Chinas empfindlich treffen, weshalb Peking jedes neue Schiff aus der Hyundai-Lockheed-Produktion misstrauisch beäugt. Zudem erzeugt die enge Verflechtung der japanischen und koreanischen Rüstungsindustrie mit dem Pentagon politische Bindungen, die eine Annäherung Japans und Koreas an China behindern.
Für Washington sind Rüstungsgeschäfte und politische Projekte schon immer eng miteinander verknüpft.6 Besonders eng ist Hillary Clinton mit der Rüstungsindustrie verbandelt. Von den Kandidaten der Präsidentschaftsvorwahlen von 2008 erhielt keiner mehr Spenden von Raketenproduzenten als die heutige Außenministerin.7
Präsident Lee – Rückkehr zu autoritären Tendenzen
Auch der rüde Einsatz des südkoreanischen Präsidenten Lee zugunsten der neuen Flottenbasis für Zerstörer hat eine anrüchige Seite, denn Lee war bis 1992 Vorstandschef von Hyundai, das diese Schiffe bauen darf. Nach Aussage des Vorsitzenden der koreanischen Antikorruptionsbehörde wurde weder von seinem Amt noch vom koreanischen Parlament noch von dessen Wahlkommission jemals untersucht, ob das Lockheed-Hyundai-Geschäft die finanziellen Interessen Lees oder eines seiner Minister berührt.
Während Peking seine Kriegsflotte aufrüstet und Washington die Nachbarländer Chinas mit neuen Waffensystemen versorgt und Marinemanöver in der pazifischen Region veranstaltet, halten sich die normalen Bürger bemerkenswert zurück – obwohl das Verhalten der Regierung an das autoritären Gebaren der Vergangenheit erinnert. In Seoul wird traditionell auf dem Platz vor dem Rathaus protestiert. Diesen Platz ließ Lee einfach sperren, als Demonstranten mit Lichterketten gegen die Aufhebung des Einfuhrverbots für US-amerikanisches Rindfleisch protestierten. Wer dort heute auch nur ein Plakat entrollt, wird sofort festgenommen.
Nachdem Präsident Barack Obama den Koreanern zur Ausrichtung des G-20-Gipfels im kommenden November verholfen hatte, fuhr der UN-Sonderberichterstatter für Meinungs- und Pressefreiheit Frank LaRue nach Seoul, um die demokratischen Verhältnisse unter der neuen Regierung zu untersuchen. Sein Bericht vom Mai 2010 kommt zu einem eindeutigen Schluss: Das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Versammlungsfreiheit haben gelitten, und dieser Prozess begann wenige Monate nach dem Amtsantritt Lees.
Das zeigte sich erstmals im Mai 2008, als der Fernsehsender MBC einen kritischen Bericht über die Aufhebung des Einfuhrverbots für Rindfleisch aus den USA brachte. Die Antwort des Regimes bestand darin, die Verantwortlichen des Magazins „PD Notizen“ nächtens aus ihren Betten zu holen und zu verhaften. In dem folgenden Prozess konnte die Anklagebehörde die von ihr geforderten Haftstrafen von zwei und drei Jahren zwar nicht durchsetzen, aber der ganze Vorfall hat die unabhängigen Medien zutiefst verschreckt.
Der Prozess gegen die Redakteure von MBC dauerte zwei Jahre. In dieser Zeit verfügte Lee die Entlassung mehrerer Direktoren öffentlicher Fernsehanstalten und des Vorsitzenden der südkoreanischen Medienkommission und ersetzte sie durch Parteigänger. Der neue Kommissionsvorsitzende sorgte sofort dafür, dass rechtslastige Tageszeitungen ins Kabelfernsehen einsteigen konnten.
Die unabhängigen Medien hielten sich die ganze Zeit über mit Kritik zurück. Auch große Demonstrationen, wie sie die Ausstrahlung des inkriminierten Fernsehberichts noch ausgelöst hatten, kamen nicht mehr zustande.
Nur in Jeju ließ sich die Bevölkerung nicht unterkriegen. Als der Verteidigungsminister am 3. Juni in einer Nacht-und-Nebel-Aktion versuchte, Baukräne auf dem Gelände der geplanten Basis aufzustellen, lebte der zivile Widerstand wieder auf. Die Kräne mussten wieder abziehen, und die Inselbewohner erklärten feierlich, dass sie für ihre Lebensweise kämpfen würden „bis zum Tod“. Doch angesichts einer Atmosphäre wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, die durch den neuen Konflikt mit Nordkorea entstanden ist, werden sie nur wenig Nachahmer finden.
Viele junge Leute scheinen den Wunsch nach politischen Freiheiten ihrem persönlichen Wohlstand unterzuordnen. „Ich bin eine derjenigen, die an dieser Situation schuld sind“, meint eine Studentin der Yonsei-Universität. „Ich denke nur ans Studium und an einen Job. Mit Politik beschäftige ich mich nicht.“ Sie spricht für viele ihrer Kommilitonen, deren Eltern noch zu der Generation gehören, die Ende der 1980er-Jahre die Bereitschaftspolizei vom Campus vertrieben hatte.
Mehr Zuversicht äußert Nueung Hee Cho, einer der angeklagten MBC-Produzenten: „Wir sollten Vertrauen in die Koreaner haben. Jetzt verhalten sie sich noch ruhig, aber wenn es hart auf hart kommt, ist auf sie Verlass.“
Aus dem Englischen von Jörg Dauscher
Matthew Reiss ist Journalist, lebt in Washington und New York und schreibt für das Nachrichtenmagazin In these Times und für Asia Times online.