Von Peking nach Krasnojarsk
Mit Schmugglern, Studenten und Geschäftsleuten in der Transsibirischen Eisenbahn von Klavdij Sluban
Bevor er weiterspricht, wendet Hong Jiang den Blick langsam zum Abteilfenster und nimmt, ohne auf die herabfallende Asche zu achten, einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Genau in dem Moment, als er mit seiner Geschichte hätte fortfahren können, taucht auf der Straße neben den Eisenbahnschienen ein Motorrad auf und fesselt seine Aufmerksamkeit. Alle anderen Fahrgäste schauen nun ebenfalls wie gebannt auf die wilde Staubwolke, die das Gefährt aufwirbelt, das im Sichtfeld des Fensters in den Sanddünen auf- und absteigt.
Nachdem Ross und Reiter, die wie durch Zauberhand auf einmal aufgetaucht waren, genauso plötzlich in der Wüste Gobi verschwunden sind, sinken die Reisenden zurück in das Dämmerlicht des Abteils. Hong Jiang blickt auf den rechten Seitenstreifen neben den Gleisen: Der weiße Markierungsstein zeigt 630 Kilometer an. Vor mehr als vier Stunden, noch vor Ulan-Bator, am Kilometerstein 404, hatte er mit seiner Geschichte begonnen und sie seitdem immer wieder unterbrochen. Jeder hängt wieder seinen Gedanken nach.
Die junge Yen Li fragt sich bestimmt, was in diesem Augenblick wohl ihre 18 Monate alte Tochter macht, die sie in der Obhut ihrer Eltern in einem Dorf in der südchinesischen Provinz Kanton zurückgelassen hat. Tsai Tao, einem pausbäckigen Dreißigjährigen, ist anzumerken, dass er sich schon darauf freut, sein Studentenleben wiederaufzunehmen – in Ulan-Ude, gleich hinter der russischen Grenze. Und jener Fahrgast, der sich bei der Abfahrt in Peking mit „I am Professor“ vorgestellt hat, ohne seinen Namen zu verraten, wacht besorgt über vier große Sporttaschen, die er auf der oberen, schon am helllichten Tag heruntergeklappten Schlafliege abgestellt hat.
Jedes Mal, wenn der Zug wegen der Bodenwellen unter den Gleisen mächtig ruckelt und die neu Zugestiegenen aufspringen, um nachzusehen, ob der Zug nicht vielleicht doch entgleist ist, überprüft Professor den Inhalt seiner Taschen. Flaschenklirren und Flüche auf Mongolisch. Nachdem er den Schlamassel beseitigt hat, setzt er sich wieder hin und verharrt regungslos hinter seiner Sonnenbrille, die ihn aussehen lässt wie einen gealterten Star. Nichts und niemand stellt diesen Status infrage, auch dann nicht, als er beim chinesischen Zoll seine vier Taschen öffnen muss und Dutzende Schnapsflaschen zum Vorschein kommen. Professor besitzt eine natürliche Selbstsicherheit, die ihm gestattet, nicht mal vor Zollbeamten die Sonnenbrille abzunehmen.
Nach der langen düsteren Trostlosigkeit der Strecke füllt sich in der Mongolei der Zug mit Arbeitern und Schmugglern, die in Ulan-Bator zugestiegen sind.
„Schöne Socken haben Sie.“ Mit diesen Worten stellt sich mir der Dolmetscher von Hong Jiang vor. Es ist bestimmt nicht das Design, wohl aber die Qualität meiner Strümpfe, die mir die Ehre verschafft, in den Kreis des Herrn Hong Jiang aufgenommen zu werden, der sich wieder einmal auf die Socken gemacht hat: Zweimal hat man ihm schon auf dem Moskauer Flughafen die Einreise verweigert. Diesmal versucht er die Eroberung Russlands auf dem Landweg in Angriff zu nehmen. Er will auf dem russischen Markt Fuß fassen. Auf die Frage, wie viele Arbeiter er in seinen chinesischen Fabriken denn beschäftige, zieht der Geschäftsmann nachdenklich an seiner Zigarette, schaut lange aus dem Fenster und antwortet dann mit gesenkter Stimme „… und sogar noch mehr“.
Landschaften ziehen vorüber. Flüchtig gerät die Chinesische Mauer in den Blick, und es taucht der Gedanke auf an die Million Menschen, die bei ihrem Bau umgekommen sind. Und wie viele Leben hat die Tibetbahn gefordert, die in Höhen von über 5 000 Metern dem Permafrost trotzt? In allen Waggons erklingt jetzt eine liebliche Stimme, die die technischen Finessen dieser höchsten Eisenbahn der Welt preist, und auf den Plasmabildschirmen in allen Abteils tauchen Schaubilder auf, die die gelungene Symbiose von Planung und Bau des Streckenabschnitts mit dem umgebenden Ökosystem beweisen. Der Fernseher lässt sich nicht abschalten, die Lautstärke nicht regulieren. Die liebliche Stimme erklärt, dass Sauerstoffmasken zur Verfügung stünden.
Die Reisenden in der Transsibirischen Eisenbahn lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Für die eine ist das Überqueren der Grenzen ein Abenteuer, für die anderen ist es eine Frage des Überlebens. Zur ersten Kategorie gehören Eisenbahnfanatiker, Studienabbrecher, Amerikaner auf ausgedehnter Sauftour und nicht zu vergessen jene, die dem Weltenbummler Blaise Cendrars (1887–1961) auf den Leim gegangen sind, um erst am Ende zu merken, dass die Lektüre der „Prosa von der Transsibirischen Eisenbahn“ viel intensiver war als die Wirklichkeit dieser angeblich mythologischen Reise.
Innerhalb der zweiten Kategorie unterscheiden sich die Reisenden durch den Inhalt ihres Gepäcks: Wer sich auf den Weg in eine bessere Welt gemacht hat, trägt Wertgegenstände bei sich, persönliche Erinnerungsstücke und Kleider; die anderen haben ihre Taschen vollgepackt mit Konsumartikeln von jenseits der Grenze, die so gewinnbringend wie möglich weiterverkauft werden sollen, damit sich die aufwendige Reise auch lohnt.
In unserem Abteil herrscht auch nicht im entferntesten die Atmosphäre einer Vergnügungsreise. Vielleicht rührt daher der aufrichtige Umgang miteinander, denn jeder scheint die Beweggründe der anderen zu verstehen. Während der endlosen Wartezeiten an der Grenze lösen sich die Zungen. Zumal es Stunden dauert, bis alle Zollformalitäten erledigt sind und die Jagd auf Schwarzhändler aller Art beendet ist. Außerdem müssen an allen Waggons die Fahrgestelle ausgewechselt werden, weil in der Mongolei, wie in der ehemaligen Sowjetunion, die Spurweite der Schienen größer ist als in China.
In der erzwungenen Bewegungslosigkeit fragt Yen Li plötzlich in die Stille der Nacht hinein: „Stimmt es, dass die russischen Männer, wenn sie betrunken sind, sehr gewalttätig werden können?“ Als sie merkt, dass der Fremde, an den sie ihre Frage gerichtet hat, darauf nichts Klärendes zu erwidern weiß, erklärt die junge Frau auf Russisch, dass sie nach Moskau fahre, um dort auf Märkten als Dolmetscherin zu arbeiten – und vielleicht auf Baustellen. „Auf jeden Fall auf Märkten, das steht fest.“
Die chinesischen Zollbeamten kommen gerade in dem Moment herein, als sie anfängt zu berichten, was man sich in ihrem Dorf über die Untaten betrunkener russischer Männer erzählt.
Beim Grenzübertritt ist jeder verdächtig. Während sich verschiedene Uniformen durch das Abteil zwängen, zeichnen sich entlang des Zuges alle hundert Meter die Silhouetten von Wachtposten ab. Eingemummt in ihre wattierten grünen Mäntel, müssen sie in der winterlichen Nacht bei minus 25 Grad reglos ausharren und nach potenziellen Missetätern Ausschau halten. Von Zeit zu Zeit sieht man einen Wächter wanken, der im Stehen eingeschlafen ist, starr vor Kälte, ein zusehends schieferer Turm von Pisa, bis er sich im letzten Moment aufrichtet.
Als die Zollbeamten wieder verschwunden sind und alle Reisenden noch ihre Pässe in der Hand halten, kommt das Gespräch auf die Visa. Mit Typ 261, dem Geschäftsvisum, darf man maximal drei Monate in Russland bleiben. Es kostet 700 Dollar. Für ein Arbeitsvisum, das ein Jahr gilt und schwieriger zu bekommen ist, muss man 1 000 Dollar hinblättern.
Der Zug ruckt an, die Unterhaltung bricht mitten im Satz ab. Jedes Wiederanfahren ist wie ein Triumph, und je länger man zuvor hatte warten müssen, desto größer ist die Freude. Jeder schweigt in seiner eigenen Sprache, jeder hat im Kopf die nächste Grenze und seine eigene Einstellung zu dem, was kommen wird.
Später dann, in der Trägheit eines Nachmittags, gleitet die Transsibirische Eisenbahn majestätisch über die Schienen. Der Reisende macht es sich auf seinem Liegeplatz in der weichen Klasse bequem (in China gibt es die Komfortklassen „weich“ und „hart“) und frönt einem hemmungslosen Oblomowismus.1 Auf manchen Reisen sind es die weißen Samen der Pappeln, die ihn aus seinen Träumen reißen, auf anderen Reisen sind es ersten Schneeflocken.
Von Reise zu Reise überlagern sich, ohne einander zu verdrängen, die Landschaftseindrücke als eine Sammlung von Jahreszeitenbildern. Erst fedrige Halme, die auf der Steppe wogen wie eine Meereswelle, dann der zugefrorene Baikalsee. Eine Autokolonne rast über das Eis. Sobald das Eis dick genug ist, fährt man in Sibirien lieber auf zugefrorenen Flüssen und Seen mit leidlich glatter Oberfläche als auf den schadhaften Straßen.
Auf dem Bahnsteig in Krasnojarsk bleibt der Reisende vor der Bahnhofsuhr stehen. Er hat einen Passanten nach der Zeit gefragt, es ist neun Uhr morgens Ortszeit. Er weiß, dass die Bahnhofsuhren immer auf Moskauer Zeit gestellt sind, und in Moskau ist es gerade fünf Uhr früh. Warum aber zeigt die Bahnhofsuhr dann 12 Uhr mittags an? Während er versucht, das Rätsel mithilfe verschiedener Zeitzonen zu lösen, wird er von einem Russen angeschnauzt, der sich schon am frühen Morgen kaum noch auf den Beinen halten kann: „Das kannst du auch gar nicht kapieren, weil die verdammte Uhr noch nie richtig getickt hat.“ Dann, beim Weggehen: „Andererseits geht sie vielleicht doch nicht so falsch … Sie zeigt einfach von Anfang immer die genaue Uhrzeit von Peking. Früher oder später richten wir uns sowieso alle nach Pekinger Zeit.“
Als der Reisende wieder in den Zug steigt, geht für die Russen im Abteil die Nacht nach Moskauer Zeit schon langsam zu Ende, während die Chinesen im Nachbarabteil nach Pekinger Zeit mit dem Mittagessen beginnen.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Klavdij Sluban ist Fotograf. Für sein Buch „Go East“, Heidelberg (Edition Braus), bekam er 2009 den Publishers Award for Photography.