Pakete für Corjeuti
Ein moldawisches Dorf verliert seine Einwohner von Zoé Lamazou
Seit vier Jahren treffen sie sich einmal im Monat in der kleinen Zweizimmerwohnung im Pariser Vorort Maisons-Alfort. Die 34-jährige Stella1 öffnet die Tür, und Igor tritt ein, ein gedrungener Mann mit angespannten Gesichtszügen, immer hat er dieselbe Waage dabei. Er kommt von weit her, aus Corjeuti, Stellas Heimatdorf im Nordwesten Moldawiens, doch er nimmt sich nicht einmal die Zeit, seinen Parka abzulegen. Er wiegt die große Plastiktasche mit dem rot-weiß-blauen Karomuster: 17 Kilo Kleidung und Konserven, das macht 20 Euro. Stella hält ihm den Schein hin, Igor steckt ihn in ein und verschwindet mit seiner Fracht.
Kaum zwei Tage später hat die Tasche mehr als 2 500 Kilometer zurückgelegt und fünf Grenzen passiert, bis nach Corjeuti. Neben Internet und Telefon ist Igor Stellas Verbindung zur Familie. Vor neun Jahren kam sie nach Frankreich – mit einem Touristenvisum, das nur sieben Tage gültig war. Deshalb kann Stella nicht quer durch Europa fahren, um ihre Familie zu besuchen. Ohne Aufenthaltsgenehmigung wäre das eine Reise ohne Rückkehr. Und ihr Glück wieder in Moldawien zu versuchen, kommt für sie nicht infrage.
Die Republik Moldau entstand beim Zerfall der Sowjetunion zwischen der Ukraine im Osten und Rumänien im Westen. Sie ist das ärmste Land in Europa. In Corjeuti sagen die Leute, ein Drittel der 8 000 Einwohner sei in Paris und ein Drittel unterwegs. In Wirklichkeit gibt es keine genauen Zahlen. Viele haben wie Stella keine Papiere und werden nicht erfasst.
Igor ist einer von zehn Fahrern, die mit ihren Minibussen die regelmäßige Verbindung zwischen Corjeuti und Paris sicherstellen. Er schätzt seinen potenziellen Kundenkreis in der französischen Hauptstadt auf 3 000 Personen. Einmal im Monat dreht er seine Runde als informeller Postbote, liefert die Sendungen aus der Heimat ab und sammelt ein, was nach Moldawien gehen soll: Briefe, Geld oder Plastiktüten voller Lebensmittel. Sein Tarif von 1,50 Euro pro Kilo ist konkurrenzlos günstig. „Manchmal reichen 20 Kunden, um den Kofferraum voll zu kriegen, manchmal sind es 80. Aber auf dem Rückweg nach Corjeuti ist der Wagen immer voll“, sagt Igor. Oft sitzen zwischen seinen Paketen auch Mitfahrer: „Dieses Mal habe ich vier hergebracht und nehme zwei wieder mit zurück.“ Pro Person verlangt er 100 Euro, aber ein Schleuser ist Igor nicht: Alle Leute, die er nach Frankreich transportiert, haben gültige Papiere, entweder einen rumänischen Pass oder ein Touristenvisum.
Zwischen den Weltkriegen gehörte Moldawien zu Rumänien und wurde 1944 teilweise von der Sowjetunion annektiert. Nach der Unabhängigkeit 1991 wollte die Mehrheit der Moldawier die rumänische Staatsangehörigkeit.2 Deshalb können sich Igor und seine Chauffeurkollegen mit ihren rumänischen Pässen frei im Schengenraum bewegen, seit Rumänien 2007 Mitglied der Europäischen Union wurde. Im rumänischen Konsulat in der moldawischen Hauptstadt Chisinau ist die Zahl der Anträge auf die rumänische Staatsbürgerschaft seit 2007 explodiert. Doch das Verfahren dauert Jahre, und so verlieren viele, wie Stella, die Geduld und stellen erst gar keinen Antrag.
Schon als Stella 2001 Moldawien verließ, war es fast unmöglich, durch eine persönliche Vorsprache im Konsulat ein Schengen-Visum zu bekommen. Sie bezahlte schließlich 1 000 Euro an windige Vermittler, die sich unter dem Deckmantel eines Reiseveranstalters auf die Beschaffung der begehrten EU-Eintrittskarten spezialisiert hatten. Diese Agenturen betreiben einen blühenden Handel mit Visa: Heute muss man dafür zwischen 2 000 und 5 000 Euro zahlen.
Viele Moldawier verschulden sich, um in den Westen zu kommen. Es spielt keine Rolle, wie lange das gekaufte Besuchervisum gültig ist – Hauptsache, man kommt über die Grenze. Stella hat ein Diplom in Französisch und Englisch, doch seit neun Jahren hält sie sich mit nichtangemeldeten Jobs über Wasser: als Putzkraft, Kindermädchen oder Nachhilfelehrerin. „Wenn man keine hohen Ansprüche stellt, findet man immer eine Arbeit“, sagt sie.
„Jeder dritte Moldawier verlässt das Land“, sagt Valeriu Mosneaga, Präsident des Fachbereichs Politikwissenschaften an der Universität Chisinau. „Und nicht nur in Richtung Westeuropa, sondern auch nach Russland, in die Ukraine, nach Israel oder in die Türkei.“ Die Arbeitsemigration prägt viele Familiengeschichten in Moldawien. „Als er noch Arbeiter in der Kolchose war, verließ mein Vater regelmäßig das Dorf, um als Saisonarbeiter auf den ukrainischen Feldern zu arbeiten“, erinnert sich Stella. „Damals war das ganz einfach und wurde sogar gefördert. Die großen Landwirtschaftsbetriebe brauchten Arbeitskräfte.“ Vor der Unabhängigkeit bewegten sich die Migranten innerhalb der sowjetischen Grenzen, und bis heute ist Moskau das wichtigste Ziel.
„Als Ende der 80er die Grenzen geöffnet wurden, wandten sich die Leute nach Westeuropa, weil die Gehälter dort besser sind. Und diese Tendenz hat sich mit der Wirtschaftskrise in Russland 1998 noch verstärkt“, sagt Mosneaga. Trotz aller Schwierigkeiten reißt der Menschenstrom nicht ab. Und auch die Geldbeträge, die die Ausgewanderten in die Heimat schicken, nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM)3 eine der Haupteinnahmequellen moldawischer Haushalte, sind trotz Finanzkrise kaum gesunken.
Victor Andronic, Bürgermeister von Cerjeuti und ehemaliger Zollbeamter, findet das Ausbluten des Dorfs und die Abwanderung nach Frankreich nicht dramatisch. „Das ist sogar gut“, meint er. Ein Verwaltungsangestellter verdient hier kaum mehr als 200 Euro im Monat. Das Prunkstück der lokalen Industrie ist eine kleine Fabrik, in der Gurken als Konserven verpackt werden. Einkünfte erzielen sie hier größtenteils mit Kartoffeln für den moldawischen Markt. Die schwarze Erde ist fruchtbar, aber die Landwirtschaft hat sich seit der Zeit der Kolchosen zu wenig mechanisiert. Der Agrarsektor beschäftigt zwar den Großteil der Arbeiter, wirft aber nur wenig ab.
Dass es in Corjeuti bergauf geht, liegt vor allem an dem Geld, das aus dem Ausland kommt: Neue Ziegelhäuser verdrängen die mit Holz und Blech verzierten traditionellen Hütten, und auf den ungepflasterten Straßen rasen Geländewagen an Pferdegespannen und uralten Ladas vorbei. Wie in Chisinau setzt sich in Corjeuti ein neues Konsumdenken durch. „Es ist nicht unbedingt der Mangel, der die Menschen von hier forttreibt“, sagt Valeriu Mosneaga: „Die Moldawier wollen ein Auto, eine Wohnung oder ein Haus, und ihre Kinder sollen studieren können.“ Mit den landesüblichen Gehältern aber werden solche Träume niemals wahr.
Sichtbarer Reichtum, den man nicht mit einem großzügigen Verwandten in Frankreich erklären kann, ist in Corjeuti verdächtig. Dann wird vermutet, der Betreffende zehre von im Kommunismus ergatterten Pfründen. Von einem anderen heißt es, er lebe vom Zigarettenschmuggel. Die Migration, auch die illegale, ist dagegen ein ehrlicher Broterwerb. Und so klammert sich Corjeuti an Paris und seine Vorstädte. In den 90ern machte sich zum ersten Mal einer aus dem Dorf auf die lohnende Reise. Seitdem haben es ihm viele gleichgetan. Die Männer arbeiten meist auf dem Bau, die Frauen als Mädchen für alles. Oft lassen Eltern ihre Kinder im Dorf zurück und sehen sie erst Jahre später wieder. Bis zu ihrer endgültigen Rückkehr bleiben sie in Frankreich und hoffen, dass die Polizei sie nicht entdeckt. Denn dann beginnt alles von vorn.
Etappensiege im Papierkrieg
So ist es Slavic ergangen. Mit 22 kam er aus Corjeuti mit einem gefälschten rumänischen Pass nach Frankreich. Zwei Jahre lebte er in Paris und arbeitete für eine Baufirma. Aber er wurde bei einer Polizeikontrolle erwischt und bekam die Aufforderung zur Ausreise.4 Seit seiner Rückkehr nach Moldawien hat Slavic nur einen Gedanken: Zurück nach Frankreich. In der Zwischenzeit fährt er durchs Land und macht im Auftrag seiner ehemaligen französischen Arbeitgeberin mit einen Katalog voller Fotos von schmiedeeisernen Gittern und Toren die Runde bei Handwerkern. Ein kleiner Gefallen für die Chefin Catherine, die mit dem Gedanken spielt, einen Teil der Produktion nach Moldawien zu verlagern. Sie hat ihm versprochen, eine Einstellungsbestätigung und ein Arbeitsvisum zu schicken. Slavic glaubt ihr: Cathérine hat schon seinem Schwager und zwei anderen zu einem legalen Status verholfen.
„Aber bei Slavic ist es schwieriger“, seufzt Catherine, eine Frau mit wuchtiger Statur und schnippischer Stimme. Sie kennt sich aus. In ihrem kleinen Unternehmen in einem Vorort von Paris beschäftigt sie dreizehn Leute, darunter sechs Ausländer, die ihren Aufenthaltsstatus alle ihr zu verdanken haben. Vor Slavic hat sie den 30-jährigen Andrei eingestellt, den Schwager aus Corjeuti. Sie hatte ihn auf der Baustelle eines Subunternehmers aufgelesen. Als Andrei ihr eröffnete, er komme aus Moldawien und halte sich folglich illegal in Frankreich auf, fand Catherine eine Lösung – die gleiche wie immer.
Bei der französischen Arbeitsagentur (Agence Pôle Emploi) reichte sie eine Stellenausschreibung ein, bei der niemand alle geforderten Kriterien erfüllen konnte. „Wenn sich nach zwei Monaten keiner gemeldet hat, kann mir keiner mehr einen Vorwurf machen, weil ich mich außerhalb der EU umsehe“, erklärt Catherine. Um eine solche Einstellung zu rechtfertigen, muss die ausgeschriebene Stelle außerdem einer der dreißig Berufsgruppen zugerechnet sein, die auf dem europäischen Arbeitsmarkt offiziell „unter Druck“ stehen, das heißt, in denen Arbeitskräftemangel herrscht. Nur dann kann der Arbeitgeber die Einstellungsbestätigung für einen Arbeiter aus dem EU-Ausland ausfüllen.
„Die betreffende Person ist offiziell natürlich noch nie hier gewesen. Wenn kontrolliert wird und der ausländische Arbeiter auffliegt, muss er das Land wieder verlassen“, erklärt Catherine engagiert. Mit der Bestätigung bekam Andrei beim französischen Konsulat in Moldawien ein Visum und, zurück in Paris, auch eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Allerdings kann ein solcher Papierkrieg mehrere Monate dauern, und eine Erfolgsgarantie gibt es nicht.
Warum tut Catherine sich das an? „Ich bin nicht Mutter Teresa. Ich will einfach keine Truppe von Drückebergern. Die Leute, die ich einstelle, kommen mir nicht mit ihrer 35-Stunden-Woche, wenn es Probleme und Zeitdruck auf den Baustellen gibt. Ich drohe ihnen niemals, aber hier wäscht eine Hand die andere. Ich weiß, wie man den Papierkram erledigt, und beschaffe ihnen eine Unterkunft. Und sie ackern dafür. Für das gleiche Geld bekomme ich keine Leute mit einer so positiven Arbeitseinstellung, wenn ich eine Stelle bei der Arbeitsagentur ausschreibe.“
Als Slavic aufflog, hatte Catherine bereits die ersten Schritte für die Legalisierung seines Status eingeleitet. Von seinem letzten Lohn kaufte sie ihm eine Rückfahrkarte nach Moldawien. Seitdem hat sie schon vier Anfragen bei den Behörden gestellt, doch ein Arbeitsvisum hat er immer noch nicht.
Ob mit oder ohne Visum – Slavic wird zurückkommen nach Frankreich. Wie beim ersten Mal wird er mit den Papieren eines anderen arbeiten. Und trotz dieser widrigen Umstände ist Catherine bereit, ihn wieder einzustellen. Sie hat sich erkundigt: Ein Personalausweis oder eine Aufenthaltsgenehmigung kostet auf dem Schwarzmarkt in Frankreich 200 bis 300 Euro. Aber die Dokumente braucht man nur, wenn der Arbeitgeber alles ordnungsgemäß anmelden will. Die meisten arbeiten ohnehin schwarz. „Man muss doch nur die Augen aufmachen“, schimpft Catherine, „alle wissen doch Bescheid, auch die Polizei.“
In ihrer kleinen Pariser Vorortwohnung schaut Stella Igor hinterher, wie er mit der karierten Tasche nach Corjeuti verschwindet. Nächsten Monat wird sie ihn nicht brauchen. Gerade hat sie ihre erste befristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen, die es ihr erlaubt, ihre Mutter und ihre Schwester in Moldawien zu besuchen. Danach wird sie zum Arbeiten nach Frankreich zurückkommen. Ihr Exil hat dann zehn ganze Jahre gedauert. Sicher, das Dorf hat ihr gefehlt, aber ihr Leben in Frankreich, das hat sie gewollt. Ebenso wie Slavic, der auf der anderen Seite, in Moldawien, seine CD mit französischen Popsongs in einer Endlosschleife hört. Die Ansage seiner Mailbox hat er auf Französisch gesprochen – als wäre er schon wieder dort.
Aus dem Französischen von Jakob Horst
Zoé Lamazou ist Journalistin.