Afghanische Patrioten
Die Paschtunen, die Nation und die Taliban von Georges Lefeuvre
Die Beschlüsse der jüngsten internationalen Afghanistan-Konferenzen in London (28. Januar 2010) und Kabul (21. Juli 2010) waren offensichtlich nicht geeignet, das endlose Sterben in Afghanistan zu beenden – genauso wenig wie die jüngsten Wahlen. Im vorigen Jahr, dem achten des Krieges, fanden 2 412 Zivilpersonen den Tod.1 Im angrenzenden Nordwesten Pakistans liegt die Gesamtzahl der Todesopfer (Zivilisten, Soldaten und Taliban) inzwischen bei schätzungsweise 12 000.2 Zudem sind beide Länder, die insgesamt 200 Millionen Einwohner haben, vom Zerfall bedroht. Eine Lösung des Konflikts erscheint also dringlicher denn je.
In dieser Situation sehen viele die einzige Lösung in einem Kompromiss mit den Taliban. Aber gibt es wirklich keine Alternative? Um andere Lösungsmöglichkeiten zu sondieren, muss man sich von den üblichen Vereinfachungen verabschieden. Das gilt insbesondere für einige heikle Themen, die seit der Kolonialzeit zwischen Kabul und Islamabad konsequent tabuisiert wurden.
Über die strategischen Fehler, die seit 2001 in Afghanistan begangen wurden, ist so gut wie alles gesagt. Kaum thematisiert wird dagegen ein grundlegendes Missverständnis, das am Anfang des Afghanistan-Problems steht.
Ussama Bin Laden setzte sich 1986 im Osten Afghanistans in der Gegend von Khost fest, nur wenige Kilometer von der pakistanischen Grenze entfernt. Jenseits dieser Grenze, in den Stammesgebieten von Wasiristan, operierte damals Dschalaluddin Haqqani, ein aus Khost stammender prominenter paschtunischer Führer der Bewegung Hisb-i-Islami. Er hatte seine Kämpfer in Miranshah konzentriert, die über die Grenze hinweg die 40. Sowjetarmee in Schach hielten.
Entlang dieser Achse Khost–Miranshah erstreckt sich heute das Hauptoperationsgebiet des extremsten wahhabitischen Terrorismus. Das ist durchaus kein Zufall. Für die radikalen Wahhabiten ist die Umma (die Gemeinschaft der Gläubigen) die eine unteilbare Nation. Deshalb zielt ihr Heiliger Krieg auf die Zerschlagung der Nationalstaaten, um den Weg zur Gründung eines einzigen muslimischen Staatswesens – des „Großen Kalifats“ – frei zu machen. Die Strategie ihres weltweiten Dschihad besteht darin, sich lokale nationalistischen Strömungen zunutze zu machen, um die Zentralgewalt der Staaten zu schwächen und die Grenzen allmählich aufzulösen.
Im Sinne dieser Strategie erwies sich der Konflikt um die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan für Ussama Bin Laden in den 1980er Jahren als ein Geschenk des Himmels. Die sogenannte Durand-Linie, die auch die Achse Kost–Miranshah durchschneidet, ist nach dem britischen Kolonialbeamten Mortimer Durand benannt, der sie 1893 als Demarkationslinie zwischen Britisch-Indien und dem aufständischen Afghanistan aushandelte.
Die Durand-Linie wird von Afghanistan bis heute nicht anerkannt, wogegen sie für Pakistan als unantastbar gilt. Am schmerzlichsten ist sie aber für die Paschtunen, weil sie mitten durch ihr Siedlungsgebiet verläuft. Das starke Gefühl ethnischer Zusammengehörigkeit hatte die Paschtunen auch zu ihrem Widerstand gegen die sowjetische Besatzung motiviert.
Die paschtunische Identität nährt sich aus dem Gefühl einer Benachteiligung, das wiederum von einem linguistischen Missverständnis wie von einer absurden demografischen Situation herrührt. In der persischsprachigen Welt werden die Paschtunen seit jeher „Afghanen“ genannt, egal in welchem Staat sie leben. In Pakistan dagegen bezeichnen sie sich selbst mal als Paschtunen, mal als Afghanen. Während aber die 12 bis 15 Millionen Paschtunen Afghanistans immerhin fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachen, ist die Volksgruppe der Paschtunen in Pakistan mit mindestens 25 Millionen doppelt so stark, repräsentiert dort aber nur einen Bevölkerungsanteil von 15 Prozent.
Das waren die Bedingungen, die Bin Laden ausnutzen konnte, um die Region zur Basis (Arabisch: al qaida) zu machen, von der aus er die Destabilisierung beider Staaten betreiben konnte. Sein Dschihad wurde damals von Saudi-Arabien und den USA großzügig finanziert, wobei das meiste Geld an Bin Ladens Förderer und Verbündeten Dschalaluddin Haqqani floss. Eine bessere Basis für ihre Aktivitäten hätte al-Qaida nirgends finden können. Im August 1996 proklamierte Bin Laden den weltweiten Dschihad mit seiner „Kriegserklärung an die amerikanischen Besatzer des Landes der zwei heiligen Stätten“ (Mekka und Medina in Saudi-Arabien).
Seit 1994 spielten aber auch die Taliban eine wichtige Rolle in der Region. Obwohl ihr Führer, Mullah Mohammed Omar, unter dem Kommando von Dschalaluddin Haqqani gekämpft hatte, hatte seine Bewegung ursprünglich nichts mit al-Qaida zu tun. Für Bin Laden war dies aber ein weiterer Glücksfall: Seine Organisation musste sich nur noch an diese regionale Bewegung anhängen und zum Wächter über ihre religiöse Orthodoxie erklären.
In dem blutigen Bürgerkrieg, der in Afghanistan seit dem Sturz des kommunistischen Regimes (1992) tobte, erwiesen sich die Taliban als die stärkste Kraft. Obwohl sie nicht als ethnische Gruppe, sondern unter dem Banner der Scharia angetreten waren, bedeutete ihr Sieg eine Rückeroberung der paschtunischen Siedlungsgebiete bis zum Fluss Amudarja. Unwissentlich dienten die neuen Herren damit aber auch den Interessen der USA, Saudi-Arabiens und Pakistans.
Das kalifornische Erdölkonsortium Unocal, das in den Verhandlungen mit den Taliban damals vom heutigen Präsidenten Hamid Karsai repräsentiert wurde, plante eine Gaspipeline durch Afghanistan, was ein befriedetes Land voraussetzte. Die Gründung eines streng rechtgläubigen sunnitischen Emirats an der Ostgrenze des schiitischen Iran wurde logischerweise auch von Saudi-Arabien unterstützt. Und sie passte Pakistan ins Konzept, denn in Islamabad fürchtete man den Einfluss des Iran auf die 20 Prozent Schiiten unter der eigenen Bevölkerung. Zudem hatte sich dort innerhalb der Regierung von Benazir Bhutto die Idee verfestigt, dass Pakistan „strategische Tiefe“ brauche.
Diese fixe Idee wird in der Regel so begründet, dass die pakistanische Armee im Falle eines Angriffs durch Indien ganz Afghanistan als Rückzugsraum brauche – eine schon angesichts der Topografie absurde Idee. In Wahrheit geht es um geopolitische Interessen. Kabul hat die Durand-Linie nie als offizielle Grenze anerkannt. In den 1950er bis 1970er Jahren entwickelte sich in Afghanistan eine starke nichtreligiöse paschtunische Nationalbewegung, die von der Sowjetunion gefördert wurde. Und Präsident Mohammed Daoud (1973–1978) erklärte sogar alle paschtunischen Siedlungsgebiete in Pakistan zu afghanischem Territorium und forderte ihre Rückgabe.
In Pakistan fürchtete man also, zusätzlich zu dem ewigen Kaschmir-Konflikt im Osten3 , eine neue Bedrohung im Westen. Deshalb war Islamabad darauf aus, in Kabul ein paschtunisches Regime an die Macht zu bringen, das auf die Unterstützung Pakistans angewiesen war, und zugleich alle nationalistischen Bestrebungen für ein „Groß-Paschtunistan“ zu unterdrücken.4 1994 war die pakistanische Führung überzeugt, dass die Taliban – als Muslime, Paschtunen und letztlich auch Nationalisten – für diese Rolle ideal geeignet seien. Vorausgesetzt, man konnte sie kontrollieren.
Der furchterregende Dschalaluddin Haqqani
Dieser Interessenverbund erwies sich als äußerst wirksam: Mit Hilfe kolossaler Geldsummen kamen die Taliban im September 1996 an die Macht. Die Nordallianz unter Führung des Tadschiken Ahmed Schah Massud (der im September 2001 ermordet wurde) leistete anhaltenden Widerstand, aber nach dem 11. September 2001 musste man schon sehr naiv oder geschichtsblind sein, um dieser Allianz aus Tadschiken, Hasara und Usbeken einen politischen Umschwung zuzutrauen. Massud war zwar eine Schlüsselfigur, taugte aber nicht zum Führer einer geeinten Nation. Man kann eine Familie nicht zusammenbringen, nachdem man die Hälfte ihrer Mitglieder ausgeschlossen hat.
An dieser Polarisierung war auch die „internationale Gemeinschaft“ nicht unschuldig: Schockiert von der rückschrittlichen Taliban-Ideologie, nahm man einen Teil des Volkes für das ganze. Die afghanische Übergangsregierung, deren Zusammensetzung im Petersberg-Abkommen vom Dezember 2001 festgelegt wurde, bestand aus 23 Ministern der Nordallianz, aber nur 7 Paschtunen. Zwar war Regierungschef Hamid Karsai ein Paschtune, wurde aber allgemein als Marionette der USA wahrgenommen.
Die paschtunische Zivilgesellschaft fühlte sich also nicht repräsentiert, sie war zutiefst unzufrieden. In den darauffolgenden acht Jahren bildeten sich drei Stufen paschtunischer Identität heraus: Das „Paschtunentum“ der Massen, die stark auf ihre Identität bedacht, aber nicht allzu nationalistisch sind; der „Talibanismus“, der sich als der bewaffnete Arm der Paschtunen darstellt; und schließlich die al-Qaida, als externe Hilfstruppe, die wie ein Virus in einem kranken Körper wirken sollte.
Nach ihrem Zusammenbruch im Oktober und November 2001 hätte sich die Taliban-Bewegung wahrscheinlich aufgelöst wie Zucker im Tee, wenn die paschtunischen Stämme ein echtes Mitspracherecht in Kabul gehabt hätten. Es geht hier keineswegs darum, Afghanistan vornehmlich als „Land der Paschtunen“ darzustellen, aber es ist einfach so, dass die Paschtunen dieser Vorstellung anhängen und sich dabei auf die Geschichte wie auf ihren Anteil an der afghanischen Bevölkerung berufen.
Man mag diesen Aspekt der politischen Ethnologie irritierend finden, aber man kann ihn nicht einfach unterschlagen. Von einer nationalen Versöhnung kann erst dann die Rede sein, wenn die Paschtunen die Völker des Nordens nicht mehr lediglich als „Landsleute“ der richtigen, weil „historischen“ Afghanen wahrnehmen, sondern als voll- und gleichwertige Patrioten. Das sollte nicht unmöglich sein, denn schließlich wollen die afghanischen Tadschiken nicht von Duschanbe aus regiert werden, so wenig wie die Usbeken nach Taschkent oder die schiitischen Hasara nach Teheran blicken. Alle Afghanen besitzen ein ausgeprägtes, fast schon heiliges Gefühl der Verantwortung für das Land, das sie über zwei Jahrhunderte gemeinsam vor dem Untergang bewahrt haben. Die ethnischen Differenzen sind also keineswegs unüberwindlich.
Solche falschen Wahrnehmungen haben immer wieder der al-Qaida in die Hände gespielt. Für die radikalen Islamisten ist der Rückhalt in Afghanistan existenziell wichtig. Sie müssen den Aufstand der Taliban ständig anheizen, denn ein Scheitern des nationalen Dschihad wäre zweifellos ein Rückschlag für den internationalen Heiligen Krieg.5 Ussama Bin Laden ist sich dessen sehr bewusst. Schon 1996 sah er die Verhandlungen zwischen den Taliban und dem Unocal-Konsortium als gefährliche Entwicklung, die womöglich zur Anerkennung des Regimes von Mullah Omar führen würde. Diese Gefahr wurde allerdings im August 1998 abgewendet, als die USA nach den Anschlägen auf ihre Botschaften in Kenia und Tansania einen Vergeltungsschlag gegen al-Qaida führten und dabei erstmals Afghanistan bombardierten.
Bin Laden wusste den Zorn von Mullah Omar geschickt zu nutzen: Im August 1998 einigte man sich auf eine Art Doppelherrschaft in Kandahar, die auch durch die Entwicklungen nach dem 11. September 2001 nicht erschüttert wurde. Die al-Qaida verschanzte sich in ihrem Kerngebiet um Khost und Miranshah, wo Dschalaluddin Haqqani mit seinen Kämpfern das Zusammenwirken von nationalem und internationalem Dschihad garantierte. Die Taliban von Mullah Omar dagegen kontrollierten die Region zwischen Kandahar und Quetta, schließlich gehörte die Mehrheit seiner Kämpfer zum Stamm der Ghilzai, der im Norden Balutschistans 85 Prozent der Bevölkerung ausmacht.
War damit jene „strategische Tiefe“ bedroht, die Pakistan so wichtig war? Die Strategen in Islamabad gingen davon aus, dass die Taliban in Afghanistan die Oberhand behalten würden, also richteten sich ihre Militäroperationen nur gegen militante Ausländer. Sie versuchten, deren terroristische Netzwerke zu zerschlagen, während sie die afghanischen Taliban bewusst verschonten. Al-Qaida bekam jedoch bald wieder Oberwasser – dank der Militäroperation „Hammer und Amboss“, die der US-General David Barno im Frühjahr 2004 anordnete.
Diese Operation hatte zum Ziel, die Kämpfer der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU), die Pakistan aus Südwasiristan vertreiben wollte, an der afghanischen Grenze einzukesseln. Es war der erste koordinierte pakistanisch-amerikanische Einsatz, bei dem die Pakistaner allerdings binnen eines Monats mehr als tausend Mann verloren. Am Ende mussten sie Verhandlungen mit Nek Mohammed führen, einem jungen lokalen Rebellenführer, der zwei Monate später durch eine US-Drohne getötet wurde.
Das machte Nek (genannt „Sohn ohne Vater“), der einer Streitmacht von 80 000 Mann standgehalten hatte, zum Volkshelden und Idol für eine ganze Generation junger Männer. Der Nachfolger Neks, der berüchtigte Baitullah Mehsud, verbündete sich mit al-Qaida gegen Pakistan und organisierte Überfälle auf Militärkonvois und Kasernen, terroristische Anschläge auf Gerichtsgebäude und sogar einen Angriff auf das Hauptquartier der Armee. Präsident Pervez Musharraf überlebte drei Attentate, nicht aber Benazir Bhutto, die im Dezember 2007 erschossen wurde.
In der Folge gründete Mehsud die Organisation Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), einen Zusammenschluss von etwa zwanzig Gruppierungen, der im gesamten Nordwesten des Landes großen Einfluss gewann. Diese TTP verlegte sich auch auf „religiöse Säuberungen“, indem sie im Oktober 208 zum Beispiel 162 Schiiten exekutierte.
Eine Alternative zu Verhandlungen mit den Taliban
In den Gebieten, in denen sich der jüngste Ableger der al-Qaida durchsetzte, praktizierten junge Auftragsmörder eine wahre Schreckensherrschaft. Mehr als 3 000 Stammesführern, denen man Spionage vorwarf, wurden die Kehle durchgeschnitten. Mehsud unterhielt auch enge Beziehungen zu terroristischen Netzwerken im Pandschab, etwa zur wahhabitischen Lashkar-i-Taiba und zu nichtwahhabitischen, aber anti-schiitischen Gruppen wie Lashkar-i-Jhangvi und Jaish-i-Mohammed. Das ging am Ende auch Mullah Omar zu weit. Der wollte Pakistans nicht destabilisieren, denn dort rekrutierte er ja die Unterstützer seines Widerstands. Deshalb konnte die pakistanische Armee bis zum Sommer 2009 bei ihren Aktionen gegen die von allen gefürchtete TTP auf die Unterstützung der Taliban zählen.
Die militärischen Erfolge hielten sich jedoch in Grenzen, obwohl Baitullah Mehsud getötet wurde. Mullah Omar versuchte dann mithilfe der Haqqani-Truppen die TTP zu besiegen, bei der Hakimullah Mehsud die Nachfolge seines Cousins angetreten hatte. Im Oktober startete die Armee eine neue Offensive in Wasiristan. Die TTP reagierte mit brutalen Schlägen gegen die Zivilbevölkerung: Von Oktober 2009 bis September 2010 kamen bei 81 Selbstmordanschlägen 1 680 Menschen ums Leben.
In dieser Situation wurden auf den jüngsten Afghanistan-Konferenzen in London und Kabul nur die alten Rezepte wieder aufgewärmt. Die Isaf-Truppen stehen mittlerweile stark unter Druck, in den Aufstandsgebieten lassen sich keine Entwicklungsprojekte realisieren, und politisch ist der Zug bereits abgefahren. Niemand glaubt mehr, dass es ausreicht, sich in Kabul um eine „gute Regierungsführung“ zu bemühen, um aus der Sackgasse herauszukommen.
Bleibt der Vorschlag von Präsident Karsai: Verhandlungen mit den Taliban. US-Präsident Obama zögert, doch mangels Alternativen wird er am Ende doch zustimmen. Die Lage in der Region hat sich weiter verschlechtert. Die TTP knüpft nicht nur die Fäden zwischen pakistanischen Taliban, al-Qaida und den Terrorgruppen des Pandschab, sie hat inzwischen auch die Macht in den pakistanischen Stammesgebieten übernommen, wo sie der Zivilbevölkerung das Leben zur Hölle macht. Und sie setzt weiter ungerührt auf terroristische Attentate.
Wie man in diesem islamistischen Sud verhandlungsbereite Taliban aufspüren soll, bleibt ein Rätsel. Aber selbst wenn die internationalen Politikstrategen sich auf Verhandlungen einlassen – wie wollen sie dann gewährleisten, dass sie nicht von den Vertretern eines etablierten Systems von Günstlingswirtschaft und Klientelismus ausgenutzt oder ausgetrickst werden? Vielleicht sind Verhandlungen mit den Taliban doch nicht die tollste Strategie. Und vielleicht wäre es besser, das Problem grundsätzlicher anzugehen.
Ausgangspunkt sollten zwei Erkenntnisse sein, die wir oben gewonnen haben: Zum einen ist al-Qaida auf den Rückhalt in Afghanistan angewiesen, zum anderen wäre eine befriedete paschtunische Zivilgesellschaft auf die Taliban als bewaffneten Arm ihrer nationalen Bestrebungen nicht mehr angewiesen. Daraus folgt zwingend, dass man auf die afghanischen Paschtunen zugehen muss.
Dagegen könnte man einwenden, dass das alte System der Stammesherrschaft unwiderruflich zerstört ist. Aber stimmt das wirklich? Die neu entstandenen Machtverhältnisse müssen keineswegs irreversibel sein. Es stimmt, dass traditionelle Stammesführer umgebracht wurden – aber was heißt hier „traditionell“? In unserer ethnozentrischen Sicht auf feudale Systeme wird dieses Wort meist gleichgesetzt mit dem Erbfolgeprinzip: Die Lehen wurden in Europa vom König vergeben, der sich als Herrscher von Gottes Gnaden sah; damit war eine dauerhafte Treuepflicht gegenüber Gott gestiftet und die Weitergabe des Erbes an die Nachkommen geheiligt. Im feudalen System des Orients wird die Macht aber nicht durch ein höheres Wesen vergeben – jeder Mensch kann zum Herrscher werden, wenn er stark genug ist und sich Gefolgsleute verschafft, die er für ihre Treue großzügig belohnen kann.
Demnach wäre jeder einflussreiche Paschtune ein potenzieller Verhandlungspartner, egal ob er den Taliban angehört oder mit ihnen sympathisiert oder nicht. Man könnte sogar die schockierende Behauptung wagen, der furchterregende Dschalaluddin Haqqani sei vor allem Paschtune – und erst in zweiter Linie ein Taliban und ein strategischer Bündnispartner Ussama Bin Ladens. Er will lediglich seine Macht und die Reichtümer behalten, die ihm sein Territorium bietet, das er sich zwischen Khost und Miranshah beiderseits der Durand-Linie erobert hat. Für Haqqani sind al-Qaida und die TTP nur Mittel zum Zweck; der globale Dschihad dürfte ihn kaum interessieren.
Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die Äußerung des pakistanischen Generalstabschefs Ashfaq Pervez Kayani zu verstehen, der am 2. Februar 2010 erklärte, er könne seinen Einfluss auf Haqqani nutzen. Kayani berief sich dabei zwar auf das Prinzip der „strategischen Tiefe“, stellte aber auch klar, man habe dabei „nur die Sicherung der pakistanischen Westgrenze und nicht die Herrschaft über Afghanistan“ im Auge. Nach diesem impliziten Hinweis auf die Durand-Linie übte er heftige Kritik am starken Einfluss Indiens in Afghanistan, die Islamabad als Teil einer feindlichen Einkreisung sehe.
Diese Wahrnehmung klingt vielleicht übertrieben, ist aber nicht völlig unbegründet. Während des Kalten Krieges gab es eine diplomatische Achse Washington–Islamabad–Peking, die quer zu der anderen Achse Moskau–Delhi stand. Und damals wurden die säkularen nationalen Bestrebungen der Paschtunen von der Sowjetunion wie von Indien unterstützt.
Hier stoßen wir auf das entscheidende verdeckte Problem, das die Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan belastet. Pakistan betrachtet die Durand-Linie seit seiner Gründung als legale Grenze, die nach dem Prinzip der „ererbten Verträge“ eine völkerrechtliche Bestandsgarantie haben. Afghanistan erkennt die Durand-Linie nicht an mit dem Argument, sie sei nie durch einen Vertrag zur internationalen Grenze erklärt worden. Wie soll man also etwas legalisieren, dem die Legitimation abgeht? Die Durand-Linie ist ein altes Geschwür, das wegen der Marginalisierung der Paschtunen nie verheilt ist – und wieder aufgebrochen ist, als es mit dem Al-Qaida-Virus infiziert wurde.
Sogar die säkularen nationalistischen Parteien der Linken, die einst mit der Sowjetunion paktierten, wie etwa die derzeit in Peschawar regierende Awami National Party (ANP), hadern mit der Durand-Linie. Im April 2007 fand, fast unbemerkt, ein hoch symbolisches Ereignis statt. Präsident Karsai reiste nach Dschalalabad, um dort ein Kulturzentrum zu eröffnen, das den Namen von Khan Abdul Ghaffar Khan (genannt Bascha Khan) tragen sollte. Der Gründer der ANP war 1948 von Pakistan ins Exil nach Afghanistan gegangen, wo er 1988 starb und begraben wurde. Natürlich war sein Enkel Asfandyar Wali Khan, der gegenwärtige ANP-Führer, unter den Ehrengästen. Der beschloss seine Ansprache mit dem Ausruf „Lar au bar, yao Afghan!“ (Ich bin Afghane, hier wie auf der anderen Seite!). Karsai klatschte heftig Beifall.
Mit der Durand-Linie sind derart heikle Probleme verbunden, dass es keinen Frieden in der Region geben wird, solange diese Grenze keinen eindeutigen rechtlichen Status hat. Schon die Bezeichnung „Linie“ erinnert eher an einen Waffenstillstand, also an einen ungelösten Konflikt. Ähnliches gilt für die Demarkationslinie, die Kaschmir in zwei Einflusszonen teilt. Aber wer würde heute noch die von beiden Staaten anerkannte Grenze zwischen dem Iran und Pakistan als „Goldsmid-Linie“ bezeichnen?
Afghanistan verweigert die Anerkennung der Durand-Linie schon so lange, dass auch Präsident Karsai in dieser Frage nicht einfach den Kurs wechseln kann, ohne heftige Kritik oder gar sein Leben zu riskieren. Andererseits hätte die Anerkennung dieser Grenze durch Kabul weitreichende Folgen: Das pakistanische Konzept der „strategischen Tiefe“ wäre endgültig gegenstandslos, die Anti-Terror-Allianzen könnten besser funktionieren, und selbst die Angst Pakistans vor der Einkreisung durch Indien würde nachlassen. Im August 2009 hatte Pakistan sogar gedroht, entlang der Durand-Linie Grenzzäune und Minenfelder einzurichten – eine aberwitzige Idee, denn das hätte mit Sicherheit lokale Rebellionen ausgelöst und die al-Qaida auf den Plan gerufen.
Der Schengenraum als Vorbild
Um regionale Erschütterungen zu vermeiden, muss aus dieser Bruchlinie endlich eine Friedensgrenze werden. Da sich Pakistan und Afghanistan wegen ihrer uralten Identitätsprobleme und Grenzkonflikte nicht aufeinander zubewegen, muss die internationale Gemeinschaft Hilfestellung leisten. Allerdings ist die Anerkennung einer gemeinsamen Grenze sicher nicht ohne Verhandlungen mit den Stammesführern auf beiden Seiten machbar. Hier sollte man eine praktische Lösung anstreben, die dem paschtunischen Volk einen gemeinsamen Raum ohne Trennlinien sichert, allerdings ohne die Souveränität der bestehenden Staaten infrage zu stellen. Als Vorbild könnte vielleicht der „Schengenraum“ der Europäischen Union dienen.
Bleibt der Einwand, dass eine solche Lösung alle möglichen Schmuggelaktivitäten begünstigen würde. Aber diese illegalen Geschäfte gibt es ohnehin schon immer, und sie würden in einer befriedeten Region eher abnehmen. Dagegen hätten die Regionen Afghanistans bessere Chancen, an die Verkehrs- und Handelsströme besser angebunden zu werden. Eine neue „Gebrauchsanweisung“ für die Grenze auszuhandeln, wäre überdies nichts Neues: Abkommen über die Durand-Linie hat es schon früher gegeben, nämlich 1893, 1905, 1919 und 1921. Dass diese so oft umgeschrieben wurden, ist gerade der Grund dafür, dass die Grenze immer wieder in Zweifel gezogen wurde.
Es spricht im Übrigen einiges dafür, dass die Paschtunen sich aus eigenem Entschluss von den Terrornetzwerken abwenden werden, sobald sie ihrer nicht mehr bedürfen. Auch dies spricht für das Konzept, beide Staaten mit den Stammesführern ohne Ansehen ihrer früheren Allianzen über die Paschtunenfrage verhandeln zu lassen, anstatt auf ziemlich aussichtslose Friedensverhandlungen mit den Taliban zu setzen. Khaled Aziz, ein ehemaliger Generalsekretär der Nordwestgrenzprovinz, hat das Problem schon 2008 korrekt beschrieben: „Es wird ein Interessenkonflikt zwischen den USA und Pakistan bestehen bleiben, solange die Frage der Durand-Linie als Grenze zu Afghanistan nicht geregelt ist.“6
Damit brachte er auf den Punkt, was man in Islamabad und Kabul längst weiß und was der pakistanische Generalstabschef auch schon öffentlich benannt hat: Der Prozess der nationalen Versöhnung in Afghanistan setzt zuallererst voraus, dass der Flächenbrand an der Grenze zu Pakistan gelöscht wird. Das ethnische Identitätsgefühl der Paschtunen mag von al-Qaida ausgenutzt werden, es dominiert aber auch bei allen säkularen Fraktionen, die erbitterte Gegner der Taliban sind.
Um dieser komplexen Konfliktkonstellation gerecht zu werden, muss die westlichen Diplomatie neue Wege beschreiten und über ihre üblichen Methoden hinausgehen. Wenn die so lange ausgegrenzten Paschtunen endlich wieder mitreden dürften, würden sie das nicht als grandiosen Sieg, sondern als Zeichen des ihnen zustehenden Respekts begreifen.
Für die mächtigsten Armeen der Welt würde das die Chance eröffnen, einen wenig glorreichen Rückzug anzutreten – womit ihnen immerhin die Blamage einer vollständigen Niederlage erspart bliebe.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Georges Lefeuvre ist Ethnologe und Diplomat, er war Berater der Europäischen Kommission in Pakistan.
Was wann geschah
12. November 1893 Großbritannien setzt in Verhandlungen die „Durand-Linie“ als Grenze zwischen Britisch-Indien und Afghanistan durch. Ein Teil des afghanischen Territoriums fällt unter britisch-indische Verwaltung und wird später Pakistan zugeschlagen.
8. August 1919 Nach dem dritten britisch-afghanischen Krieg erlangt Afghanistan im Friedensvertrag von Rawalpindi die Unabhängigkeit.
1973 Mohammed Daoud stürzt die Monarchie und proklamiert die Republik Afghanistan.
1978 Ein Staatsstreich bringt die kommunistische Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) an die Macht.
1979 Militärische Intervention der UdSSR, um die Herrschaft des DVPA-Führers Babrak Karmal zu sichern. Die USA beginnen die antikommunistischer Kräfte zu unterstützen.
14. April 1988 Afghanistan, die UdSSR, die USA und Pakistan schließen in Genf einen Friedensvertrag, der den Abzug der sowjetischen Truppen vorsieht.
16. April 1992 Nach dem Rücktritt des kommunistischen Staatspräsidenten Mohammed Nadschibullah beginnen Machtkämpfe zwischen den Milizen des tadschikischen Warlords Ahmed Schah Massud und des paschtunischen Warlords Gulbuddin Hekmatjar.
1994 Trotz des Friedensabkommens vom März 1993 kommt es in Kabul erneut zu Kämpfen. Erstmals sind daran die „Taliban“ (Koranschüler) beteiligt, die unter ihrem Führer Mullah Omar von Pakistan aus operieren.
27. September 1996 Die Taliban nehmen Kabul ein, damit kontrollieren sie zwei Drittel des afghanischen Territoriums. Ihr neues Regime ist streng an der Scharia orientiert.
26. Mai 1997 Pakistan erkennt die Taliban-Regierung in Afghanistan an.
1999 Der UN-Sicherheitsrat beschließt Sanktionen gegen Afghanistan: Beschränkungen des Luftverkehrs und der finanziellen Transaktionen.
2001 Im September wird der Kriegsherr Ahmed Schah Massud ermordet. Ussama Bin Laden, Führer des islamistischen Netzwerks al-Qaida, ruft zum Heiligen Krieg (Dschihad) auf.
7. Oktober 2001 Militärische Intervention unter Führung der USA (Operation Enduring Freedom), die zum Sturz des Taliban-Regimes führt.
5. Dezember 2001 Konferenz der afghanischen Fraktionen in Petersberg bei Bonn, auf der die Bildung einer Übergangsregierung unter Präsident Hamid Karsai vereinbart wird.
20. Dezember 2001 Der UN-Sicherheitsrat beschließt das Mandat für eine International Security Assistance Force (Isaf) in Afghanistan.
August 2003 Die Nato übernimmt offiziell die Führung der Isaf-Truppen.
26. Januar 2004 Ausrufung der Islamischen Republik Afghanistan. Am 9. Oktober gewinnt Hamid Karsai die Präsidentschaftswahlen.
18. September 2005 Bei den ersten Parlamentswahlen seit 1969 gewinnt das politische Lager von Präsident Karsai mit deutlicher Mehrheit (bei einer Wahlbeteiligung von nur 50 Prozent).
13. Juni 2008 Ein Taliban-Kommando stürmt das Gefängnis von Kandahar und befreit rund 1 000 Gefangene, darunter 400 Taliban.
17. Februar 2009 Präsident Obama verkündet die Verstärkung der Isaf-Truppen (56 000 Mann) durch weitere 17 000 US-Soldaten.
20. August 2009 Wahlen zu den Provinzparlamenten und Präsidentschaftswahlen. Nach dem ersten Wahlgang, der zwischen Karsai und seinem Herausforderer Abdullah Abdullah unentschieden ausgeht, zieht Abdullah seine Kandidatur zurück.
3. November 2009 Die aufständischen Taliban weisen Karsais Angebot zur nationalen Versöhnung zurück.
1. Dezember 2009 Präsident Obama kündigt die Entsendung weiterer 30 000 Soldaten nach Afghanistan an.
28. Januar 2010 Die internationale Afghanistan-Konferenz in London fordert die beschleunigte Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung und die „Reintegration“ ehemaliger Taliban.