08.10.2010

Treffpunkt Rio

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Treffpunkt Rio

Internationaler Widerstand gegen einen multinationalen Konzern von Philippe Revelli

Sudbury, Kanada, 11. März 2010. In der 400 Kilometer nördlich von Toronto gelegenen Kleinstadt gehen die Bergleute von Vale Inco zur Urabstimmung. Sie streiken schon seit acht Monaten, eine Woche zuvor sind die Verhandlungen zwischen dem Konzern und der Metallarbeitergewerkschaft United Steel Workers (USW) gescheitert.

Auslöser des Arbeitskampfs war ein neuer betrieblicher Tarifvertrag: Die Löhne sollten für drei Jahre eingefroren, die an den Profit des Unternehmens gekoppelten jährlichen Sonderzulagen gekürzt werden (sie hatten zuvor durchschnittlich 25 Prozent des Grundlohns ausgemacht); zudem sollte die Berechnungsgrundlage für die Inflationsanpassung revidiert und das Betriebsrentensystem verändert werden.

Ein Streikender, der gerade aus der Wahlkabine kommt, verbrennt den Zettel mit den Vorschlägen des Managements, viele tun es ihm nach. Das Ergebnis der Urabstimmung ist eindeutig: 88,7 Prozent der Arbeiter sind für die Fortführung des Streiks.

Für die Kumpel ist es nicht ihr erster harter Streik. Die International Nickel Company of Canada (Inco) baut seit über hundert Jahren Nickel in ihrer Region ab; die Stahlarbeitergewerkschaft hat sich in vielen Tarifkonflikten als ein Verhandlungspartner erwiesen, an dem die Unternehmensführung nicht vorbeikommt. Und ähnlich wie bei einem Flug über die Region all die klaffenden Wunden sichtbar werden, die der Bergbau der Landschaft zugefügt hat, macht eine Übersicht über die lange Reihe der Arbeitskämpfe deutlich, wie viele wichtige soziale Rechte erstritten wurden, die der gesamten Gemeinde zugutekamen. Zumindest bisher.

Das alles änderte sich 2006 mit der Übernahme des kanadischen Unternehmens durch den brasilianischen Bergbaumulti Vale. Die Konzernleitung von Vale Inco nahm die Finanzkrise zum Vorwand, um die Zugeständnisse wieder zurückzunehmen, die sie der Regierung in Ottawa gemacht hatte, um deren Bedenken gegen die Übernahme von Inco durch einen ausländischen Konkurrenten zu zerstreuen.

Vom brasilianischen Staatskonzern zum Multi

Als die Aufkündigung des alten Tarifvertrags zum Arbeitskampf führte, sah das Management die Chance gekommen, sich von den bislang gültigen (mehr oder weniger informellen) Verhandlungsregeln zu verabschieden und die perplexen kanadischen Kumpel mit ganz neuen Usancen zu überraschen. „Dass Streikbrecher unsere picket lines durchbrechen, das hatte es zuvor nie gegeben“, erzählt Pascal Boucher vom Vorstand der USW-Ortsgruppe. Der „gesellschaftliche Dialog neuen Typs“ bot den Gewerkschaftern zugleich einen Crashkurs im Fach Einschüchterungstechniken, vermittelt durch die vom Unternehmen angeheuerten Sicherheitsleute: „Sie gehen so weit, uns zu beschatten; sie parken vor unseren Häusern und filmen ganz offen, wer kommt und geht.“

Der UWS-Funktionär Doug Olthuis, zuständig für internationale Angelegenheiten, führt diese Entwicklung auf die veränderten Kräfteverhältnisse zurück, die sich aus den Dimensionen des neuen Konzerns ergeben: „Bei Inco machte der Nickel aus Sudbury 30 Prozent des Umsatzes aus, bei Vale sind es nur noch 3 Prozent. Für die ist kein Bergwerk mehr unersetzlich. Entsprechend hat sich auch die Verhandlungsposition der Gewerkschaft verschlechtert.“ Ist der Multi also zu groß geworden, als dass Widerstand möglich wäre? Too big to be resisted?

Gegründet wurde Vale in dem brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, einer alten Bergbauregion. Es begann mit der Förderung von Gold, im 18. Jahrhundert kamen Eisenerze hinzu, die im Zweiten Weltkrieg große strategische Bedeutung für die Alliierten erlangten. Im Washingtoner Abkommen von 1942 vereinbarten die Regierungen der USA und Großbritanniens mit Brasilien die Übergabe der bis dahin von der British Itabira Company betriebenen Minen an einen brasilianischen Mischkonzern, der mit Hilfe US-amerikanischer Kredite geschaffen wurde: die Companhia Vale do Rio Doce (CVRD).

Zehn Jahre später übernahm der brasilianische Staat das Ruder bei der CVRD. Die festigte ihre Position in der Bergbauzone von Minas Gerais und dehnte ihre Aktivitäten nach der Entdeckung von Eisenerzvorkommen in der Serra do Carajas auch auf den Amazonas-Staat Parà aus. In den 1980er Jahren wurde CVRD zum größten Eisenerzexporteur der Welt. Im Jahr 1997 zählte Vale do Rio Doce zu den profitabelsten Unternehmen des Landes – die Regierung von Fernando Henrique Cardoso sah den Zeitpunkt gekommen, den Konzern zu privatisieren.

Die Privatisierung vollzog sich unter dubiosen Umständen. CVRD wurde für 3,14 Milliarden Dollar verkauft. Man könnte auch sagen: verschleudert – das Unternehmen ist heute 139 Milliarden wert, nahezu das 45-Fache. Seine Eisenerzreserven wurden vor dem Verkauf auf zwei Milliarden Tonnen geschätzt, nur wenige Tage später war von einem dreifachen Volumen die Rede. Zudem hatte die Bankengruppe Bradesco bei der Berechnung des Unternehmenskapitals etwa sechzig Tochterunternehmen gar nicht erst berücksichtigt. Wundert man sich, dass Bradesco anschließend als Großaktionär bei der neuen Gesellschaft einstieg? 1

Mit Roger Agnelli, der 2001 die Firmenleitung übernahm, begann eine neue Ära aggressiver Expansion im Ausland (siehe Kasten). Als multinationaler Konzern entwickelte sich CVRD zum wichtigsten Eisenerzlieferanten Chinas und erweiterte sein Geschäftsfeld auf weitere Rohstoffe wie Nickel, Kupfer, Mangan, Bauxit und Phosphate.

2006 stieg der Multi zum zweitgrößten Bergbauunternehmen der Welt (nach BHP Billiton) auf, indem er Inco aufkaufte und damit in Kanada, Indonesien und Neukaledonien Fuß fassen konnte. Seit 2007 trägt der Konzern den Namen „Vale“, unter dem er seinen Expansionskurs fortsetzt. Heute ist er auch im Kohlebergbau (im Distrikt Moatize in Mosambik) und in der Kunstdüngerproduktion (durch Beteiligung am Fosfertil-Konzern) engagiert.

Heute ist der Multikonzern auf allen fünf Kontinenten und in mehr als 30 Ländern vertreten. Das Konglomerat umfasst etwa 60 Unternehmen mit 150 000 Beschäftigten, in seinem Besitz sind neun Millionen Schienenkilometer, acht Häfen und mehrere Wasserkraftwerke. Im Rekordjahr 2008 erwirtschaftete Vale einen Profit von 13,3 Milliarden Dollar2 , wovon 2,75 Milliarden Dollar an seine Aktionäre ausgeschüttet wurden. Die Lohnsumme für Arbeiter und Angestellte belief sich dagegen nur auf 1,9 Milliarden Dollar.

Nun sind leider nicht alle Brasilianer glückliche Besitzer von Vale-Aktien. Entlang der Bahnlinie, die die Bergwerke von Carajás mit dem Hafen São Luís verbindet, sind die Börsianer noch dünner gesät als im Landesdurchschnitt. Weshalb hier auch niemand, wenn von Vale die Rede ist, an Dividende denkt.

Parteispenden, Schmiergelder und andere Zuwendungen

Schon gar nicht José Ribama. Der Vorsitzende der Landarbeitergewerkschaft von Canaã dos Carajás im Staat Pará, schildert die Folgen für seine Gemeinde, in der fünf Bergwerke betrieben oder gerade eröffnet werden: „Die Explosionen, der Lärm der Maschinen, der Dauerverkehr der Lastwagen setzen den Einwohner tagtäglich zu und verschrecken die Tiere. Millionen Tonnen Abraum3 und Abfälle liegen offen herum, werden vom Regen verteilt und vergiften das Wasser und die Böden.“

Um neue Bergwerke zu erschließen, kauft Vale noch mehr Land in der Gegend, das mit Stacheldraht eingezäunt wird. Die Folge: „Die Bauern, die ihren Grundbesitz nicht verkaufen wollten, finden sich umzingelt, den Landarbeitern wird mit Vertreibung gedroht.“

In Parauapebas, etwa 50 Kilometer weiter, sitzt die regionale Leitung des Konzerns. Was vor wenigen Jahren nur ein kleines Dorf war, ist heute eine Stadt von 150 000 Einwohnern. Sie besteht, jenseits von wenigen Wohlstandsinseln aus endlosen Elendsquartieren: 45 Prozent der Haushalte haben kein fließendes Wasser, 90 Prozent sind nicht an die Kanalisation angeschlossen. Die kommunalen Steuern, die der Konzern zahlt4 , reichen bei weitem nicht aus, um die Infrastruktur der Einwohnerzahl entsprechend auszubauen.

Jede Woche kommen hier dutzende Familien an, angelockt von der Aussicht auf einen Arbeitsplatz bei Vale. Für viele bleibt das ein Wunschtraum, doch sie lassen die Reservearmee anwachsen, aus der das Unternehmen seine „verbrauchten“ Arbeitskräfte ersetzen kann. Unter diesen Bedingungen bedeutet eine Verletzung am Arbeitsplatz, dass man alles verlieren kann.5

Da 60 Prozent des Personals über Vermittlungsfirmen eingestellt werden, die sich um das Arbeitsrecht kaum scheren, hält sich die juristische Streitlust der Beschäftigten in Grenzen. Zumal Polizei, Behörden und Gerichte sich kaum für sie ins Zeug legen, da sie an dem Geldsegen teilhaben – in Form von Wahlkampfspenden, Schmiergeldern und anderen Zuwendungen.

Angesichts dessen war es ein kleines Wunder, dass im April 2010 ein Arbeitsrichter in Marabá den Konzern zu einer Entschädigung von 300 Millionen Reais (135 Millionen Euro) plus Zinsen an mehrere hundert Arbeiter zu verurteilen wagte. Allerdings hob wenige Tage später das Oberste Arbeitsgericht in Brasília das Urteil wieder auf. Und Vale hat schon angekündigt, eine Klage gegen den Richter anzustrengen.

Die wachsende Zahl der Konflikte entlang der Bahnlinie trug dazu bei, dass 2007 die Kampagne „Justiça nos Trilhos“ („Gerechtigkeit auf den Schienen“) ins Leben gerufen wurde.6 Zwei Jahre später trafen sich die brasilianischen Vale-Gegner beim Weltsozialforum in Belém erstmals mit anderen Gruppen aus verschiedenen Ländern, die ebenfalls Konflikte mit dem Bergbaugiganten austragen. In ihrer gemeinsamen Erklärung hieß es: „Die Multis sind zu mächtig, als dass man sie nur vor Ort oder auf nationaler Ebene bekämpfen könnte; man muss die Kämpfe globalisieren.“

So entstand im Januar 2009 die Idee einer internationalen Widerstandsbewegung gegen Vale. Der Streik der kanadischen Kumpel von Vale Inco, der einige Monate später ausbrach, wirkte wie ein Katalysator. Bereits im April 2010 kam es zum ersten internationalen Treffen von Vale-Opfern in Rio de Janeiro, also am Sitz der Unternehmenszentrale.

Ein Resultat dieses Treffens ist die „internationale Karawane“ durch den Bundesstaat Minas Gerais: Über die Pisten der Serra do Gandarela holpern zwei Kleinbusse mit Gewerkschaftern und Repräsentanten von Bauern-, Indigenen- und Umweltorganisationen aus Peru, Chile, Mosambik und Kanada. Warum sie gerade diese Gegend besuchen, erklärt die Biologin Isabela Cançado: „Die Serra do Gandarela ist ein Naturschutzgebiet, in dem 40 Prozent der noch erhaltenen Wasserreserven des Bundesstaats liegen.“

Cançado vertritt das Movimento Pelas Serras e Águas (Bewegung für Gebirge und Wasser) von Minas. Die neuen Bergbauprojekte, mit denen Vale seine Operationen in dieser Region ausdehnen und seine Eisenerzproduktion verfünffachen will, machen ihr große Sorgen: „Die Abbaulizenzen für das Unternehmen enthalten zahlreiche irreguläre Punkte, zudem verstoßen sie gegen die Bestimmungen zum Schutz der Gewässer und der Biodiversität.“

Die Teilnehmer der Karawane kommen in ihren Versammlungen und Gesprächen immer wieder auf die Frage, wie sich die Bergbauaktivitäten auf das Wasser auswirkten. Sie diskutieren über die Wasserqualität, die Menge der verbleibenden Reserven und ob die für die einheimische Bevölkerung zugänglich bleiben. Die Kanadier berichten über die Probleme auf Neufundland, wo Vale im See Sandy Pond giftige Abfälle lagern will, die bei der Gewinnung von Nickel anfallen. Die chilenischen Vertreter befürchten die „Veruntreuung eines öffentlichen Guts“, wenn riesige Wassermengen, die zur Erzverarbeitung benötigt werden, zu den geplanten neuen Bergwerken in der Provinz Choapa gepumpt werden. Und die Bauern unter den Teilnehmern erzählen, was sie tagtäglich beobachten: wie die Wasserläufe verdrecken, wie grauer Schlamm auf ihren Weiden angeschwemmt wird und wie die Fische verschwinden.

„2006 erhielt Vale eine Konzession für den Kupfertagebau im Bezirk Cajamarca in Peru“, berichtet José Lezma, Vorsitzender des Vereins zur Verteidigung des Rio-Cajamarquino-Beckens. „Aber wir haben dort schon bitter erfahren müssen, welche Schäden der Bergbau verursacht. Und was die von Vale versprochenen Jobs betrifft, so lässt sich schnell ausrechnen, dass in der Landwirtschaft mehr Arbeitsplätze verloren gehen. Also haben wir haben beschlossen, die Mine zu verhindern.“

Der Konzern versuchte alles, um mit Unterstützung der Behörden die Bauernbewegung zu stoppen, man rekrutierte dafür sogar vorbestrafte Kriminelle und Figuren aus dem Drogenmilieu. Lezma selbst wurde eingesperrt, seine Wohnung auseinandergenommen. 2007 gelang es dennoch 500 Bauern, drei Monate lang das für den Tagebau ausersehene Gelände zu besetzen. Am Ende musste der Konzern seine Maschinen wieder abziehen.

An dem internationalen Treffen der Vale-Opfer in Rio nahmen etwa 160 Menschen teil. Wissenschaftler, Bauern, Fischer, Indigene, Gewerkschafter, Umweltaktivisten – alle waren sich einig: Die durch den Bergbau entstehenden Umweltschäden könnten durch technische oder juristische Maßnahmen begrenzt werden. Doch die stehen bei Vale offenbar nicht auf der Prioritätenliste. Jacques Boenghik, Berater der Kanak-Entwicklungsagentur, zitiert eine interne Richtlinie des Betriebs in Goro (Neukaledonien): Gewisse Maßnahmen zur Kontrolle und Überwachung der Anlage werden empfohlen, „aber nur wenn Sie dafür Zeit haben … und genügend Personal zur Verfügung steht“. Dies ist kein Einzelfall.

Die indigenen Karonsi’e Dongi aus Sorowako in Indonesien wurden vom Land ihrer Ahnen vertrieben und hausen heute neben dem Golfplatz von Vale; in Mosambik wurden in der Region Moatize 5 000 Bauern umgesiedelt, die heute auf kargeren Böden leben und fern der Märkte, auf denen sie ihre Produkte verkaufen können.

Das größte Stahlwerk Lateinamerikas

In der Bucht von Sepetiba im Westen von Rio de Janeiro, wo das Konsortium ThyssenKrupp-Vale das größte Stahlwerk Lateinamerikas errichtet, hat man für das Sicherheitspersonal einige der örtlichen Paramilitärs rekrutiert. Und der Vorsitzende eines Verbands der Fischer erhielt Morddrohungen und musste seine Wohnung aufgeben. Heute lebt er, betreut durch das nationale Programm zum Schutz von Menschenrechtsaktivisten, in einem anderen Bundesstaat.7

Alle Teilnehmer des Treffens von Rio de Janeiro sind der Ansicht, dass der Konzern nur mit Unterstützung der Regierungen der Länder, in denen er operiert, sich so verhalten und ungestraft Gesetze brechen kann. In Mosambik ist nach einem Bericht der Tageszeitung O País der Präsident des Unternehmens zugleich Berater für internationale Angelegenheiten des Staatschefs Armando Guebuza.8 Aus Goro berichtet Boenghik, dass ein Anbau der Polizeikaserne auf dem Betriebsgelände von Vale errichtet wurde. Außerdem dürfen die Polizisten umsonst in der Kantine essen, und die Firma stellt ihnen Fahrzeuge zur Verfügung. Substanzieller sind freilich die steuerlichen Entlastungen, die der französische Staat dem Unternehmen Goro Nickel zugesagt hat: Sie belaufen sich auf 47 Milliarden Euro über die nächsten zwanzig Jahren.9

In Brasilien, wo der einstige Staatsbetrieb Vale stets volle staatliche Unterstützung genoss, etwa in Form von Krediten, Infrastrukturinvestitionen und verbilligten Stromtarifen10 , ermittelte das oberste Wahlgericht, dass 46 Parlamentsabgeordnete, sechs Senatoren, sieben Gouverneure und sogar Lula da Silva selbst im Wahlkampf 2006 von Vale Spendengelder bezogen haben.11

Die Verbindungen zwischen den höchsten Sphären des Staats und des Konzerns werfen einige interessante Fragen auf. Kurz nachdem die brasilianische Nationalbank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (BNDES) Vale 2008 einen Kredit von 7,3 Milliarden Reais (3,3 Millionen Euro) bewilligt hatte (der größte, den die BNDES je vergeben hat), wurde der geschäftsführende Direktor der Bank, Luciano Siani Pires, zum Leiter der strategischen Planungsabteilung des Konzerns berufen.

In Brasilien hat das Image der Firma in letzter Zeit zweifellos gelitten.12 Missstände aufzuzeigen löst noch nicht das Problem, wie man sie beseitigen kann. „Die Aufgabe, die uns bevorsteht, ist gewaltig, und viele Fragen bleiben offen“, meint Ana García, eine der Organisatorinnen des Treffens. Wie kann man die unterschiedlichen Ansichten und politischen Rahmenbedingungen unter einen Hut bringen? Wie lassen sich die langfristigen Ziele mit den unmittelbaren Nöten der Betroffenen in Einklang bringen; oder die Forderungen der Gewerkschaften mit der Kritik an einem Entwicklungsmodell, das auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht; oder die Kämpfe vor Ort mit der brasilianischen Forderung nach erneuter Verstaatlichung.

In Sudbury und Port Colburne haben die kanadischen Bergleute von Vale Inco ihren Streik nach einem Jahr beendet. Die Zugeständnisse, die sie erringen konnten, sind nicht überwältigend, aber zumindest haben die Kumpel ihr Gesicht gewahrt.

Der Arbeitskampf geht jetzt in Voisey’s Bay weiter. „Im Verlauf des letzten Jahres“, schreibt Jamie West, ein Bergmann, der an dem Treffen von Rio teilgenommen hat,12 „haben wir viel über unseren Arbeitgeber erfahren. Wir haben auch viel über uns selbst gelernt, über die Bedeutung der Gewerkschaften und die Solidarität, und zwar nicht nur innerhalb unserer lokalen Gewerkschaft, sondern mit Arbeitern aus der ganzen Welt. Wir haben gelernt, dass viele von uns eine Kampfbereitschaft entwickeln, wenn der richtige Anlass da ist, sie zu wecken.“

Fußnoten: 1 Die Wut, die diese Privatisierung hervorrief, ist immer noch lebendig: Im Jahr 2007 sprachen sich bei einer von der Kampagne „Vale gehört uns“ organisierten Abstimmung rund 3,7 Millionen Brasilianer für die Wiederverstaatlichung des Unternehmens aus. 2 Im Jahr 2009 belief sich der Gewinn trotz Krise immer noch auf 5,3 Milliarden Dollar. 3 Gestein ohne verwertbaren Rohstoffgehalt. 4 2008 betrugen sie kaum 1,7 Prozent des Werts des geförderten Erzes. 5 Der Verein zur Verteidigung der Opfer von Arbeitsunfällen betreut derzeit 63 Beschäftigte, die nach einem Arbeitsunfall entlassen und aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. 6 www.justicanostrilhos.org. 7 Siehe www.linksfraktion.de/nachrichten/fischer-gegen-stahlwerk-thyssenkrupp. 8 O País (Mosambik), 23. Februar 2010. 9 „L’activité nickel en Nouvelle-Calédonie: pertes et profits“, März 2009, Action Biosphère NC; www.actionbiosphere.com/. 10 Vale verbraucht allein 5 Prozent des gesamten brasilianischen Stroms, den das Unternehmen zu einem subventionierten Preis bezieht. 11 Valor Econômico (São Paulo), 16. Mai 2007. 12 Im Mai warnte die Forestry, Logging & Industrial Workers’ Union of Liberia in einem Schreiben an die liberianische Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf vor den geplanten Vale-Projekten im Lande.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Philippe Revelli ist Journalist und Fotograf, siehe www.philipperevelli.com.

Gute Verbindungen

Roger Agnelli übernahm die Leitung der Companhia Vale do Rio Doce (CVRD) im Jahr 2001, kurz vor der Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva zum Staatspräsidenten. Der ausgebildete Volkswirt begann seine Karriere bei Bradesco, der damals größten Privatbank Brasiliens. In den Vorstand rückte Agnelli 1998 auf, ein Jahr nach der umstrittenen Privatisierung der CVRD, bei der Bradesco zugleich Richter und Partei war. Unter seiner Führung stieg die CVRD in eine neue Liga auf und entwickelte sich zu dem multinationalen Giganten Vale.

Zur gleichen Zeit durchlief Brasilien während der beiden Amtszeiten Lulas eine politische und wirtschaftliche Entwicklung, die das Land auf globaler Ebene zu einer maßgeblichen politischen Größe machte. Dass Agnelli seine Karriere genau in dieser Zeit vorantreiben konnte, ist keinesfalls zufällig. Das bezeugt schon seine Position im brasilianischen Rat für wirtschaftliche und soziale Entwicklung, dem er von 2003 bis 2007 angehörte, und im Unternehmerrat Brasilien–China, dessen Gründung im Jahr 2004 die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder seitdem in spektakulärer Weise beflügelt hat.

Der Aufschwung Brasiliens beruht in makroökonomischer Hinsicht vor allem auf einer massiven Entwicklung der Rohstoffindustrie, zu der ganz wesentlich der Bergbau zählt. Hier spielte der Staat eine entscheidende Rolle: Die nationale Entwicklungsbank (BNDES) gewährte dem Bergbausektor im Jahre 1999 Kredite in Höhe von insgesamt 285,5 Millionen Reais (128 Millionen Euro); bis 2008 stieg dieses Kreditvolumen auf 3,3 Milliarden Reais (1,5 Milliarden Euro). Die staatliche Politik der regionalen Integration finanzierte darüber hinaus große Infrastrukturvorhaben (wie Staudämme, Straßen, Schifffahrtswege, Häfen), von denen vor allem brasilianische Unternehmen profitierten.

Aufgrund dieser aktiven Rolle hat die brasilianische Bundesregierung im Bereich der Wirtschaft sowohl erhebliche organisatorische Macht als auch eine wichtige Schiedsrichterrolle.

Im Falle des Konzerns Vale hält der Staat zwar nur noch 3 Prozent der Aktien, doch dank der sogenannten golden shares verfügt er über das faktische Vetorecht in allen strategischen Entscheidungen des Konzerns. Zum Beispiel übte Lula 2009 offene Kritik an der Konzernleitung von Vale, weil diese (unter dem Vorwand der Folgen der Finanzkrise) 1 900 Beschäftigte entlassen hatte. Außerdem monierte er, dass das Investitionsvolumen des Konzerns in Brasilien unzureichend sei.

Diese Kritik nährte das Gerücht, Agnelli müsse demnächst seinen Hut nehmen. Der Nachfolger Agnellis an der Konzernspitze von Vale könnte aus der engeren Umgebung Lulas kommen: Es kursieren die Namen von Antonio Palocci, dem ehemaligen Finanzminister, der für eine orthodoxe Haushaltsführung steht, und von dessen Amtsnachfolger Guido Mantega. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass der Staat den Bergbaugiganten enger an die Leine nehmen will. Oder nur ein weiterer Beweis für die Existenz engster Beziehungen zwischen dem Konzern und der Regierung.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2010, von Philippe Revelli