Somaliland hat es besser
Am Horn von Afrika schreibt sich die Kolonialgeschichte bis heute fort von Gérard Prunier
Am Horn von Afrika liegen die Gegensätze nahe beieinander: In Somaliland haben am 26. Juni Wahlen stattgefunden – mit die demokratischsten auf dem afrikanischen Kontinent in den letzten Jahren –, und direkt nebenan liegt Somalia, das erschreckende Beispiel eines gescheiterten Staats.
Ende des 19. Jahrhunderts besetzte Großbritannien das Gebiet im Norden Somalias. Dafür hatten die Briten sehr pragmatische Gründe: Erstens wollten sie den Franzosen den strategisch wichtigen Zugang zum Roten Meer versperren und zweitens ihre benachbarte Kolonie Aden, die von Wüste umgeben war, kostengünstig versorgen. Aus Somaliland selbst wollten die Briten nicht groß Profit ziehen. Sie begnügten sich mit einer minimalen Kolonialregierung und mischten sich ansonsten wenig in die indigene Verwaltung ein. Denn diese verfügte über effektive Mechanismen, um Konflikte unter den nomadischen Hirten zu lösen.
Die italienische Kolonisierung im somalischen Süden trug ein anderes Gesicht. Zum Zeitpunkt der Kongo-Kon-ferenz1 von 1884 war das gerade geeinte Italien von einem besonderen Geltungsdrang gegenüber den politisch und wirtschaftlich weiter entwickelten Staaten Westeuropas erfüllt. Doch weder strategisch noch ökonomisch führten die kolonialen Ambitionen Italiens zu einem Erfolg, der die nationalen Komplexe hätte kompensieren können. Allerdings konnte das Land durch seine Siedlungen in Ostafrika wenigstens die Massenauswanderung nach Amerika (vor allem Argentinien und die USA) eindämmen. Unter Mussolini entwickelte sich der nationale Geltungsdrang des italienischen Kolonialprojekts zu einem Drama, das während der 1920er Jahre in Massakern an der Bevölkerung und der Zerstörung aller indigenen sozialen Regulierungsmechanismen gipfelte.
Trotz der kolonialen Teilung in Nord und Süd blieben die Somalier kulturell miteinander verbunden und betrachteten die Unabhängigkeit als Chance zur Wiedervereinigung. Die Idee „Groß-Somalias“ wurde zum zentralen nationalen Projekt, und 1960 schlossen sich die beiden ehemaligen Kolonien unter der Führung der ersten freien somalischen Regierung zusammen. Die Vereinigung führte später zu Spannungen mit der 1963 gegründeten Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), die die Respektierung der Kolonialgrenzen zum Grundsatz erhoben hatte.2
Von Beginn an stand das unabhängige Somalia also unter ungünstigen Vorzeichen: Zwei Territorien – lange Zeit durch die geschichtlichen Umstände getrennt – wurden auf der Grundlage einer Ideologie wiedervereinigt, die an die italienische Irredentista erinnerte und ein allenfalls künstliches Einheitsgefühl bot.
Die Feuerprobe kam 1977, als Somalia unter der Führung des Autokraten Siad Barre3 in der äthiopischen Provinz Ogaden einmarschierte, als weiteren Schritt auf dem Weg zur „großsomalischen“ Einigung. Doch der Krieg ging verloren und der Traum von der nationalen Einheit zerplatzte. Die verschiedenen somalischen Clans schoben sich gegenseitig die Schuld für die Niederlage zu, und Siad Barre fand in den Clans des Nordens (im ehemaligen britischen Somaliland) den geeigneten Sündenbock.
Nach der Niederlage der somalischen Armee kamen eine Million somalische Flüchtlinge aus Ogaden nach Somalia. Siad Barre entschied, sie im Norden anzusiedeln und zu bewaffnen. Dass die Ankömmlinge ihre neue Heimat zunächst einmal hemmungslos plünderten, tolerierte der Diktator und erweiterte sogar ihre Machtbefugnisse. Nach dem Scheitern des „großsomalischen“ Projekts unterstützte das Regime in Mogadischu bestimmte Clans darin, andere niederzuhalten, und brachte so die Nord-Süd-Spaltung aus der Kolonialzeit zurück.
1981 rebellierte der Norden und leitete damit eine Periode des Bürgerkriegs ein, in der sich alle von der Macht Ausgeschlossenen nacheinander gegen die Diktatur erhoben. Siad Barre wurde schließlich 1991 gestürzt, doch damit begann erst der tiefe Fall des somalischen Staats. Keiner der Clans war fähig, die Netzwerke des Regimes durch konstruktive Allianzen zu ersetzen.
Der Norden griff die Gelegenheit beim Schopf, erklärte sich für unabhängig und entzog sich so den schwelenden Clanfeindschaften, in denen das ehemalige Italienisch-Somalia versank. Nach chaotischen Anfangsjahren gelang es dem Shir (Clanrat) von Borama 1993, funktionierende Institutionen aufzubauen, die das demokratische Fundament des Landes sicherten.
Während Somaliland also schnell zu einem inneren Gleichgewicht zurückfand, versank der Süden völlig im Chaos. Auf Initiative der USA besetzte die „internationale Gemeinschaft“ zwischen 1992 und 1995 im Rahmen der Operation „Restore Hope“ den somalischen Süden. Aber die 35 000 Soldaten aus über dreißig Ländern waren weit davon entfernt, die „Hoffnung zurückzubringen“. Der 5 Milliarden teure Militäreinsatz erreichte letztlich gar nichts, und die Soldaten mussten nach zweieinhalb Jahren evakuiert werden.4 Die Einmischung von außen schwächte das Land zusätzlich. Seit 1992 hat das Land vierzehnmal versucht, eine Regierung zu bilden, und ist genauso oft gescheitert.
Die Unterschiede im kolonialen Erbe zeigten sich deutlich: Der Norden kombinierte die traditionellen Konfliktlösungsmechanismen der Clans mit den Hinterlassenschaften des britischen Common Law und begründete so eine Form originärer Demokratie. Im Süden, wo die italienische Kolonialherrschaft das somalische Erbe gänzlich zerstört und der Faschismus keinerlei brauchbare politische oder administrative Strukturen hinterlassen hatte, verhinderte die Macht der Clans jeden Regierungsaufbau.
Die Übergangsregierung ist seit 2004 an der Macht und wird international anerkannt. Faktisch kontrolliert sie aber lediglich ein paar Straßenzüge im Zentrum der Hauptstadt Mogadischu – und auch das nur mit Hilfe der 6 000 Soldaten der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom).
Diese „Regierung“ ist durch persönliche Querelen und Korruptionsaffären zerrüttet und muss überdies mit dem Aufstand islamistischer Gruppen fertig werden, die erst im Juli durch Anschläge im ugandischen Kampala versuchten, die Krise international auszuweiten.5 Tatsächlich stützen sich die Kämpfer der Harakat al-Shabaab al-Mujahideen („Bewegung der kämpfenden Jugend“) weniger auf eine islamistische Ideologie als auf nationalistische Propaganda. Mit dem Verweis auf den vermeintlich notwendigen „nationalen Widerstand“ lassen sich mehr Menschen mobilisieren als mit religiösem Radikalismus.
Der innersomalische Konflikt hat in den letzten zwanzig Jahren mehrere hunderttausend Kriegs- und Hungertote gefordert, über eine Million Menschen ins Exil getrieben und 2 Millionen „Binnenflüchtlinge“ hervorgebracht. Somaliland gelang es bisher, sich aus dem Geschehen und der exzessiven Gewalt herauszuhalten. Trotzdem weigert sich die „internationale Gemeinschaft“, diese Insel der Demokratie und des Friedens offiziell anzuerkennen. Stattdessen hält sie an der Vereinigung von 1960 fest und legitimiert so einen „Staat“, der außer in seinem Namen nur auf dem Papier existiert, der sich auf kein demokratisches Verfahren stützen, geschweige denn den Frieden wiederherstellen kann. Zwar hegen Paris, London und Washington inzwischen Zweifel an dieser Politik, doch aus Rücksicht auf die arabischen Staaten Ostafrikas übt der Westen Zurückhaltung. Bei denen gilt das christlich geprägte Äthiopien als „Fremdkörper“ in einer mehrheitlich muslimischen Region. Insbesondere Ägypten hat sich immer ein geeintes und starkes Somalia als Partner gegen Addis Abeba gewünscht.6 Ein unabhängiges Somaliland würde da nur stören.
Unter diesen Umständen muss sich das kleine Land besonders musterhaft zeigen, um international anerkannt zu werden. „Von uns wird man mehr verlangen als von anderen, und wir werden dafür weniger bekommen“, prophezeite ein ehemaliger Vizepräsident vor der Präsidentschaftswahl im Juni. Und trotz mancher Fortschritte bleibt noch viel zu tun: Von 2002 an war Hassan Dahir Riyale Kahin Staatschef in Somaliland, der nicht gerade einen tadellosen demokratischen Werdegang vorweisen kann. Nach dem – natürlichen – Tod des damaligen Präsidenten Mohammed Ibrahim Egal kam er als Vizepräsident im Mai 2002 an die Macht. In der Folge manipulierte Kahin den „Guurti“, Somalilands Clan-Oberhaus, um die Wahlen immer wieder zu verschieben und im Amt zu bleiben.
Als er im September 2009 durch Ausschreitungen und zunehmende Kritik aus dem Parlament immer stärker unter Druck geriet, wies er seinen Armeechef an, in die Hauptstadt Hargeisa einzumarschieren – sehr wahrscheinlich mit dem Ziel, das Parlament aufzulösen. Nach 24-stündiger Bedenkzeit weigerte sich der Generalstabschef jedoch, bei dem „legalen Staatsstreich“ mitzumachen. Präsident Kahin blieb nichts anderes übrig, als einen Wahltermin festzulegen.
Laut Verfassung ist die Zahl der politischen Parteien in Somaliland auf drei begrenzt. Die UDUB (United Democratic People’s Party), gegründet vom „Vater der Republik“, Mohammed Ibrahim Egal, steht unter der Führung von Dahir Riyale Kahin. In den siebzehn Jahren, die sie an der Macht war, haben sich in ihr Klientelismus und Vetternwirtschaft breitgemacht. Diese für afrikanische Parteien üblichen Phänomene hielten sich bei der UDUB in Grenzen.
Das liegt an der Pressefreiheit, an der durch eine aktive Zivilgesellschaft verteidigten Redefreiheit und am Parlament, das zwar stellenweise korrupt, aber nie restlos käuflich ist. Mit der Kulmiye-Partei („Solidarität“) hat der alternde Mohammed Ahmed Silanyo eine starke und gut organisierte Opposition zur UDUB aufgebaut. Joker in diesem Spiel ist die recht junge, kleine Partei UCID („Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei“) unter der Führung von Faisal Ali Warabe. Sie öffnet sich zwar einerseits für Frauen, für Intellektuelle und für Minderheitenclans, hegt jedoch andererseits Sympathien für den radikalen Islam. Sie nutzt jedes Mittel, um die „historischen“ Parteien zu diskreditieren, und gilt deswegen als opportunistisch.
Warabe ist deutlich jünger als seine Rivalen Kahin und Silanyo und gehört nicht mehr zur Kriegsgeneration. Für ihn ist Somaliland weniger ein Wunder der Willensstärke als Schauplatz gewöhnlicher politischer Auseinandersetzungen. Diese Einstellung treibt ihm vor allem junge Wähler zu.
Die Präsidentschaftswahl am 26. Juni und 1. Juli 2010 verlief ohne Zwischenfälle. Die nationale Wahlkommission erklärte Mohammed Ahmed Silanyo mit 49 Prozent der Stimmen zum Sieger. Bei einer Wahlbeteiligung von 88 Prozent (bei 1,09 Millionen registrierten Wählern) kam Kahin auf 33 Prozent und Warabe auf 17 Prozent. Aufgrund des geordneten Wahlverlaufs hatten die 69 ausländischen Wahlbeobachter vor allem eine symbolische Legitimationsfunktion.
Ist das kleine Somaliland also auf dem besten Weg, durch seinen guten Willen und die vorzeigbaren Erfolge die internationale Anerkennung zu bekommen, die es sich wünscht? Sicher nicht in naher Zukunft. Denn es gibt viele Gegner: Nostalgiker der „großsomalischen“ Einheit, radikale Islamisten und konservative Diplomaten. Selbst Befürworter fürchten, dass eine volle Anerkennung die Gegensätze in Somalia noch verschärfen würde. Denkbar wäre ein Zwischenstatus für das Gebiet, das seit zwanzig Jahren ohne internationale Hilfe auskommt. Ein solcher Autonomiestatus würde ihm rechtliche und wirtschaftliche Vorteile bringen, ohne das rote Tuch der Unabhängigkeit.
Aus dem Französischen von Jakob Horst
Der Historiker und Experte für Ostafrika Gérard Prunier war von 2001 bis 2006 Direktor des französischen Zentrums für Äthiopien-Forschung in Addis Abeba.