Kuba voran
Mehr Markt, mehr Arbeitslose, mehr Demokratie von Janette Habel
Als „wichtige Entscheidungen, die einen strukturellen und konzeptionellen Wandel bedeuten“, präsentierte der amtierende kubanische Präsident Raúl Castro am 1. August 2010 die Beschlüsse des Ministerrats, mit denen überflüssiges Personal in den Staatsbetrieben abgebaut werden soll, vor der Asamblea Nacional del Poder Popular, der Nationalversammlung. Die konkrete Umsetzung dieser „Aktualisierung des Wirtschaftsmodells“ begann am 14. September 2010 mit der Ankündigung der kubanischen Zentralgewerkschaft (Central de Trabajadores de Cuba, CTC), bis März 2011 im staatlichen Sektor insgesamt 500 000 Arbeitsplätze zu streichen. Die – ebenfalls staatliche – Gewerkschaft rechtfertigt diese Entscheidung mit der Notwendigkeit, „die Produktivität und Qualität der Dienstleistungen zu erhöhen, die enormen Sozialausgaben zu senken sowie ungerechtfertigte Gratisleistungen und verschwenderische Subventionen zu streichen“.
80 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in Kuba, das sind 4,25 Millionen Beschäftigte, werden vom Staat bezahlt. Nach Meinung Raúl Castros ist davon jeder vierte überflüssig. Die Kurskorrektur, die 12 Prozent der Staatsbediensteten betrifft, ist demnach nur die erste Stufe einer Reform, die insgesamt 20 Prozent der Erwerbstätigen ihren Job kosten wird – für den Schriftsteller Leonardo Padura „eine erschreckende Zahl“.
Am 8. September 2010 hatte Fidel Castro in einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift The Atlantic erklärt: „Das kubanische Modell funktioniert nicht einmal mehr für uns.“ Auch wenn die Interpretation dieser Äußerung umstritten war, kann man sie angesichts der nur eine Woche später abgegebenen Erklärung des CTC durchaus auf die radikale Umstrukturierung des kubanischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells beziehen.
Nach der Erholungsphase in den 2000er Jahren befindet sich Kuba inzwischen wieder in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Lage. „Die Einkommen reichen nicht aus, um die Grundbedürfnisse einer durchschnittlichen kubanischen Familie zu decken, wenn man die hohen Lebensmittelpreise auf den Märkten in die Berechnung einbezieht“, stellt der Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny Pérez fest.1 Viele nehmen Nebenjobs an, um zu überleben. Das kubanische Wirtschaftsinstitut (Centro de Estudios sobre la Economía Cubana, CEEC) zählt mehrere Ursachen für die Verschärfung der Wirtschaftskrise auf. Zunächst die konjunkturellen: die Verschlechterung der Terms of Trade2 (Verfall des Weltmarktpreises für Nickel, Verteuerung der Energie- und Nahrungsmittelimporte), die Folgen der drei Wirbelstürme, die die Insel im Jahr 2008 verwüstet haben, und die Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise.
Dann die strukturellen Ursachen: Neben dem US-Embargo sehen Wissenschaftler diese vor allem in den Schwächen und dem inneren Ungleichgewicht der Planwirtschaft sowie in den verhängnisvollen wirtschaftlichen Konsequenzen des doppelten Währungssystems, in dem eine schwache Währung (der kubanische Peso, CUP) und eine starke Währung (der konvertierbare Peso, CUC) nebeneinander bestehen. Ein weiteres Problem ist die äußerst geringe Produktivität in den staatlichen Agrarbetrieben (70 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion wird privat erwirtschaftet), die das Land dazu zwingt, mehr als zwei Drittel der benötigten Lebensmittel zu importieren. Für Raúl Castro hängt dieses Thema direkt mit der „nationalen Sicherheit“ zusammen. Die seit Jahren sinkenden Zuckerrohrerträge (etwa eine Million Tonnen im Jahr 2010) bezeichnete auch Granma, die Zeitung der kommunistischen Partei, als „betrüblich“.
Seit seiner Amtsübernahme vor vier Jahren hat Raúl Castro stets die Notwendigkeit „struktureller Reformen“ betont. Doch bis vor kurzem wurden nur begrenzte Lockerungen in der Landwirtschaft (vor allem die Landvergabe an Privatpersonen3 ) und im Dienstleistungsbereich umgesetzt, um die Privatinitiative anzukurbeln. Die neuerdings häufige Verurteilung des „Egalitarismus“ in den offiziellen Reden ging mit dem schleichenden Abbau von unterschiedlichen Subventionen einher: Kantinen in Staatsbetrieben wurden geschlossen, Stipendien und Studentenzahlen an den Universitäten reduziert; dazu das Rentenalter um fünf Jahre angehoben. Außerdem ist von einer möglichen Abschaffung der libreta, des Bezugsscheinhefts für Lebensmittel, die Rede. Diese Entscheidungen haben Unruhe bei der Bevölkerung ausgelöst, vor allem bei den Ärmsten.
Schätzungsweise 20 Prozent der kubanischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.4 In der Erklärung der CTC vom 14. September heißt es jedoch, „es wird ab jetzt nicht mehr möglich sein, entlassene Arbeiter zu schützen oder ihnen ein unbefristetes Einkommen zu garantieren“. Die Reform soll von den Gewerkschaftsführern „unter der Leitung der Partei“ umgesetzt werden. Wer vor die Tür gesetzt wird, soll sich einen neuen Job suchen, ob in solchen Staatsbetrieben, in denen es an Personal fehlt (Landwirtschaft, Bauwesen, Industrie), oder in der Privatwirtschaft: Hier waren bislang Mitarbeit in Kooperativen, Zimmervermietung und – eingeschränkt – Selbstständigkeit möglich. Neue Gesetze liegen jetzt vor, die diese Optionen ausweitet, so können jetzt auch ganze Häuser privat vermietet werden und Selbstständigen wird erlaubt, Arbeiter einzustellen, so dass sich ein kleiner Arbeitsmarkt entwickeln könnte. Es zeichnen sich also Wirtschaftsreformen ab, die dem Markt eine wesentlich wichtigere Rolle zuschreiben und verschiedene Eigentumsformen zulassen. Der Staat hat die Aufgabe, diese zu „regulieren“, und kann sich zugleich von sozialen Pflichten entlasten.
Doch ist es sinnvoll, den Entlassenen (Angestellten oder Funktionären) eine Arbeit als Bauer oder Bauarbeiter nahezulegen? Kann die Privatwirtschaft die Massenentlassungen kompensieren? Viele zweifeln daran und kritisieren die Entscheidungen als dirigistisch und bürokratisch, zumal der 6. Parteikongress der PCC, der erste seit nunmehr dreizehn Jahren, auf dem die bereits angekündigten Reformen beschlossen werden sollten, verschoben wurde. Und die von Raúl Castro im August 2009 angekündigte Nationalkonferenz, die einem Parteikongress vorauszugehen pflegt, hat nicht stattgefunden.
Angesichts der Krise wird schon seit Jahren über die strategische Entwicklung Kubas und die Beibehaltung der sozialen Errungenschaften debattiert. Innerhalb des Regimes lassen sich grob drei – fluktuierende – Richtungen unterscheiden.
Da ist einmal die Staatsführung, die für liberale Reformen eintritt: Raúl Castro hat das Führungsgremium weitgehend neu besetzt, jetzt haben ehemalige Armeefunktionäre dort zahlreiche Posten inne. Für sie sind „Egalitarismus“ und „Paternalismus“ – darunter verstehen sie nicht etwa Bevormundung, sondern überzogene Sozialleistungen – die Ursprünge allen Übels. Sie besitzen de facto die Unterstützung Fidel Castros. Anstatt die Ursachen der schwachen Arbeitsproduktivität und der „Ineffizienz“ des Systems zu analysieren, beklagen sie den Motivationsmangel der Arbeiterschaft.
Als Raúl Castro am 1. August 2010 erklärte, „Kuba kann nicht das einzige Land der Welt sein, in dem man leben kann, ohne zu arbeiten“, stieß er allerdings auf Widerspruch: Wer in Kuba am Arbeitsplatz fehlt, arbeitet oft gerade woanders, illegal, um zu überleben. Man kann von Offizieren, die eine Fabrik leiten, hören, Kuba habe keine Wahl, es müsse sich „nach dem Vorbild Vietnams oder Chinas“ den Anforderungen der Globalisierung anpassen und zugleich seine Eigenheiten wahren. Dahinter lauert auch die Angst, eine zu starke Abhängigkeit von Venezuela, Kubas wichtigstem Handelspartner, könnte das Land schwächen, wie es in der Vergangenheit durch das zu enge Bündnis mit der Sowjetunion geschehen ist. 18,5 Prozent der kubanischen Exporte gehen nach Venezuela, von dort kommen auch 29,2 Prozent der Importe, dazu noch 96 000 Barrel Öl täglich.
Die zweite, häufig als „konservativ“ bezeichnete Position vertreten Funktionäre der PCC und manche Verwaltungsbeamte. Sie stehen noch unter dem Schock der vom „Zauberlehrling Gorbatschow“ ausgelösten Ereignisse und wollen am liebsten gar nichts ändern, weil sie Angst haben, einen unkontrollierbaren Prozess in Gang zu setzen. Auch wenn sie sich kaum öffentlich äußern, repräsentieren sie doch eine beträchtliche Beharrungskraft.
Eine dritte, sehr zersplitterte Richtung wird von Intellektuellen, Studenten, PCC-Aktivisten und Künstlern unterstützt, die vor allem die Demokratie in den politischen Institutionen ebenso wie in den Produktionsstätten und in der Gesellschaft weiter ausbauen wollen. Diese auf „Beteiligung“ ausgerichtete Fraktion leidet jedoch an ihrer Heterogenität.
So hatte etwa der ehemalige Diplomat Pedro Campos, der in der Vergangenheit im Innenministerium tätig war, im Jahr 2008 „Programmatische Vorschläge für einen partizipativen und demokratischen Sozialismus“ vorgelegt. Sie wurden niemals öffentlich zur Diskussion gestellt. Dennoch gibt es viele, die Alarm schlagen und fordern, die Verfahren zur Beteiligung und Selbstverwaltung müssten diskutiert werden, um „ein Modell, das seine innere Widerstandskraft verloren hat“5 , zu verändern. Der Schriftsteller Leonardo Padura meint: „Die Regierung will das politische System nicht ändern. […] Sie sucht nur nach wirtschaftlichen Alternativen, die ihre politische Position stärken.“6
Die Diskussion um politische Alternativen wird in verschiedenen universitären Instituten, in bekannten Zeitschriften wie Temas oder im Internet geführt (man schätzt, dass von den 11 Millionen Kubanern etwa 1,6 Millionen das Internet nutzen). Sie taucht jedoch in den großen landesweiten Medien, die unter der Kontrolle der kommunistischen Partei stehen, nicht auf. Die katholische Kirche, die schon bei der Freilassung und Ausreise von politischen Gefangenen 2003 eine Vermittlerrolle gespielt hat, veranstaltet jetzt einige der wenigen öffentlichen Diskussionen – wie etwa die 10. Katholische Sozialwoche, an der nordamerikanische und kubanische Intellektuelle teilnahmen und deren Beiträge in der Zeitschrift Espacio Laical veröffentlicht wurden.
Die Beziehungen zwischen Havanna und Washington machen dagegen nur langsam Fortschritte. Das Embargo wird aufrechterhalten, während nebenbei sehr diskrete Gespräche über Tourismus und Ölindustrie stattfinden. Die Aussicht auf eine wirtschaftliche Öffnung des Landes, die sich US-amerikanische Unternehmer wünschen, ruft bei der wohl kaum der Castro-Verehrung verdächtigen Zeitschrift Foreign Affairs seltsamerweise Bedenken hervor: „Jede Maßnahme zur Aufweichung der Beschränkungen von Handel und Reisen zwischen den USA und Kuba würde zweifellos das kubanische Gesundheitssystem schwächen. Zunächst würde vermutlich mit dem Exodus tausender gut ausgebildeter kubanischer Mediziner und Krankenschwestern die öffentliche Gesundheitsversorgung zusammenbrechen. Dann könnten gewinnorientierte US-amerikanische Unternehmen aus dem Rest des Systems ein Mekka des Medizintourismus machen.“7
Muss man wie das Wall Street Journal daraus schließen, dass sich Kuba mit seinem „Massenentlassungsprogramm dem Kapitalismus zuwendet“?8 Auch wenn eine solche Entwicklung von der kubanischen Regierung kategorisch ausgeschlossen wird, besteht die Möglichkeit jedoch durchaus. Die neue soziale Schichtung nach den Marktreformen der 1990er Jahre hat zur Herausbildung von Ungleichheiten geführt, unter denen vor allem die schwarze Bevölkerung leidet.9 Der Forscher Armando Chaguacedas meint, dass, wenn der Markt eine immer stärkere Rolle spiele, ohne dass Kontrollmechanismen eingeführt werden, sich die neue bürgerliche Schicht (die es in der Praxis bereits wieder gibt) auch ganz offiziell etablieren werde. Dann wäre es vorbei mit dem gesellschaftlichen Modell Kubas.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Janette Habel ist Wissenschaftlerin am Institut für Lateinamerikastudien (IHEAL), Paris.