10.04.2014

Spione im Weißen Haus

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Spione im Weißen Haus

von William Greider

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Nach der TV-Serie „House of Cards“ bin ich geradezu süchtig. Das gilt sowohl für die britische wie für die US-amerikanische Fassung des Politthrillers. Dabei muss ich allerdings bemängeln, dass beide in puncto Realitätsnähe voll danebenliegen.

In „House of Cards“ erklimmt ein fieser Intrigant mithilfe abgefeimtester Machenschaften – bis hin zu Mord – die höchste Stufe der Macht, also Downing Street 10 (englische Serie) respektive das Weiße Haus (US-Serie). Dagegen wirken die Politiker im realen Washington geradezu naiv. Die wahren Herren und Meister im Spiel um die Macht sind hier nämlich die Spione, die ihre mörderischen Intrigen hinter so nichtssagenden Initialwörtern wie CIA und NSA verbergen.

Seit einigen Wochen spielt sich in der US-Hauptstadt ein grelles Reality-Drama ab, dem der Ruch altmodischer Verschwörungstheorien anhaftet. Als Puppenspieler agieren dabei die beiden Geheimdienste, während die gewählten Politiker – bis hin zum Präsidenten – wie Marionetten an ihren Fäden zappeln. Ich hoffe, die Serienschreiber versäumen es nicht, diese erstklassige Storyline für eine dritte Staffel der Erfolgsserie festzuhalten: „House of Cards, the Reality TV Version“.

Die Geschichte begann in den finsteren Jahren nach 9/11, als sich die CIA im Krieg gegen den Terrorismus auf Foltern im globalen Maßstab verlegte.1 Anfangs schaute das offizielle, durch die Anschläge noch traumatisierte Washington weg und tat so, als wisse es über das Tun ihrer Geheimdienstler nicht Bescheid. Die verschleppten, von Afghanistan bis Italien, alle möglichen „Terroristen“ in alle möglichen Länder, die mit Verdächtigen weniger zimperlich umgehen. Auf diese Weise konnten sie und ihre einheimischen Helfer lauter Straf- und Foltertechniken anwenden, die in den USA verboten sind.

Als wachsame Journalisten die fürchterlichen Details aufdeckten, reagierte die politische Klasse zunächst schockiert. Bald jedoch wurden die Geheimdienstler als „unsere anonymen Helden“ gefeiert, die es den Bad Guys heimzahlen. CIA-Agenten zeichneten die Gräueltaten für ihr Archiv auf, und der TV-Sender Fox widmete den Folterern mit „24“ sogar eine eigene, sehr beliebte Fernsehserie.2 Die Bush-Regierung gab juristische Gutachten in Auftrag, die mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten belegen sollten, dass ihre Foltertechniken keine illegale Folter seien.3 Es dauerte eine ganze Weile, bis die Medien hier und da auch andere Meinungen über Praktiken wie Waterboarding und Schlafentzug zu veröffentlichen begannen.

Als dann irgendwann die Wahrheit über die offiziellen Lügen siegte und auch der Irakkrieg als gigantischer Betrug entlarvt war, hatten viele US-Bürger das gesetzlose Treiben in Washington langsam satt. Die CIA ließ ihre Folter-Videos diskret vernichten (was schlecht für die TV-Serien ist, denen damit vorzügliches Doku-Material verloren gegangen ist). Im Übrigen stritt die CIA alles ab und versprach im selben Atemzug, es nicht wieder zu tun. Der neue Präsident nahm ihr das ab und ermahnte die Bürger in versöhnlichem Ton, sich nicht in alte Streitereien zu verbeißen. Und der Kongress versicherte der Nation, die Geheimdienstausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus würden künftig äußerste Wachsamkeit üben und sich die CIA energisch zur Brust nehmen, falls man die Agentur erneut beim Lügen erwischen würde (wobei die Details leider als „geheim“ klassifiziert wurden, weil sie ja dem Feind nutzen könnten).

Die öffentliche Debatte wäre erneut zu dem Pseudoklartextdiskurs verkommen, der für Washington so typisch ist, wenn da nicht ein paar edelmütige Computerfreaks aufgetaucht wären und die Bunker der Staatsgeheimnisse in die Luft gesprengt hätten.

Als Erstes stellte die berüchtigte Wikileaks-Bande ganze Halden geheimer Regierungsdokumente ins Internet, was weltweit eine enorme Empörung auslöste. Die Lektüre eines vertraulichen Botschaftsberichts oder eines geheim ausgehandelten Handelsabkommens ist eine ausgesprochen lehrreiche Erfahrung, weil die Diplomatie damit ihre ehrwürdige Aura verliert.

Als Nächstes präsentierte uns der Bürger Snowden die Kronjuwelen der Staatsgeheimnisse, indem er die digitale Eroberung unserer Privatsphäre in ihrem ganzen schockierenden Ausmaß dokumentierte. Die staatlichen Behörden gehen tatsächlich so weit, unsere Gespräche auf der Straße mitzuhören und zu speichern. So etwas hatten früher nur Leute geglaubt, die auch behaupten, dass sie regelmäßig die Stimme Gottes oder die des Zauberers von Oz hören.

Bürger Snowden und die bösen Zwillinge

Heute zweifelt niemand mehr daran, dass die US-Bürger in ihrer Gesamtheit erfasst werden. Und dass ihre Telefongespräche für unsere Spione und Geheimdienstler gespeichert werden – für den Fall, dass die Behörden einen Grund finden, warum sie mehr über dich wissen wollen. Die CIA erklärt zwar, sie würde diese Möglichkeit nicht nutzen (es sei denn, es ist unbedingt nötig, um die Nation zu retten). Aber wir wissen ja inzwischen, dass der Geheimdienst Lügen auftischt, und zwar nicht nur dir und mir, sondern auch den Politikern, die in den Untersuchungsausschüssen des Kongresses sitzen.

Man kann NSA und CIA, trotz gelegentlicher Rivalitäten, als die „bösen Zwillinge“ des Staatsapparats betrachten, denen offiziell erlaubt ist, auf den Grundrechten herumzutrampeln – angeblich um die Nation vor fremden Mächten zu schützen. Nach den schockierenden Enthüllungen sind die beiden Agenturen sogar zu siamesischen Zwillingen verschmolzen. Beide versuchen auf plumpe Weise, ihren Nimbus aus dem Kalten Krieg zu bewahren, aber der Enthüllungssturm droht ihr Kartenhaus hinwegzufegen. Die Politikermarionetten werden dabei als hoffnungslos unfähige Kontrolleure der Geheimdienste entlarvt. Und auch die Puppenspieler stellen sich nicht gerade als Genies heraus.

Hoffnung macht derzeit allein, dass sich beide Organisationen gegenseitig an die Gurgel gehen. Dianne Feinstein, die dem Geheimdienstausschuss des Senats vorsteht und die Spionagedienste lange Zeit verteidigt hat, beschuldigte die CIA, ihren Ausschuss bei dessen verspäteten Ermittlungen zum Folterskandal überwacht zu haben. CIA-Chef John Brennan drehte den Spieß um und warf der Senatorin allen Ernstes vor, Mitarbeiter ihres Ausschusses hätten seine Behörde ausspioniert. Er wurde sogar beim Justizminister vorstellig und forderte, strafrechtliche Ermittlungen gegen das Kontrollgremium der Legislative einzuleiten. Daraufhin verlangte Feinstein, dass die Justiz gegen Brennan ermitteln solle. Eine wahrhaft bizarre Geschichte.

Eine Headline der Huffington Post brachte die ganze Absurdität auf den Punkt: „Senatoren finden das Ausspionieren von Bürgern in Ordnung, sind aber empört, wenn es den Kongress trifft.“ Man kann die Argumentation auch umdrehen: CIA und NSA nehmen sich heraus, routinemäßig gegen Recht und Verfassung zu verstoßen, verlangen aber zugleich, dass das Justizministerium sie vor einem allzu kritischen Kongress schützt. Die Reality-Version von „House of Cards“ hat also auch einige Comedy-Qualitäten. Bleibt die Frage, auf welche Seite sich Präsident Obama in dieser Farce schlagen wird.

Bürger Snowden setzt derweil seine Aufklärungskampagne fort und serviert laufend neue Enthüllungen über die National Security Agency. Dank Snowden konnte die Washington Post berichten,4 dass die NSA ein Überwachungssystem aufgebaut hat, das die Telefonkommunikation eines bestimmten Landes zu „100 Prozent“ aufzeichnen kann. Das offizielle Logo des Abhörprogramms namens Mystic ziert übrigens ein knorriger Zauberer mit violetter Robe und Spitzhut, der ein Handy hochhält. Dachten die Macher etwa, sie würden eine Comicfigur gestalten?

Warum ist Obama nicht wütend geworden?

In dem Artikel der Washington Post hieß es, „auf Verlangen von US-Behörden“ halte man einzelne Informationen zurück, die „geeignet sein könnten, das Land zu identifizieren, in dem das Programm eingesetzt wird, oder auch andere Länder, in denen sein Einsatz erwogen wurde“. Die Zeitung hat Kenntnis von mindestens fünf weiteren Zielländern, deren Namen sie aber nicht angibt. Sie berichtete außerdem, dass die NSA-Auswerter allmonatlich Millionen Gesprächsausschnitte aufbereiten und auf Dauerspeicher legen.

Handelt es sich bei den Ländern, die tagtäglich von Washington „abgesaugt“ werden, um Russland oder China? Oder gleich beide? Oder ist es ein Handelsrivale wie Deutschland? Was immer die Geheimdienste behaupten, wir sollten ihre Dementi nicht allzu ernst nehmen. Sie lügen, wenn sie glauben, dass sie lügen müssen, selbst gegenüber ihren vermeintlichen Kontrolleuren. Aber Snowden und seine Mitstreiter kennen die Antwort bestimmt. Sie könnten ein weltweites Quiz oder ihr eigenes Diskussionsforum aufziehen und die Teilnehmer raten lassen. Snowden könnte die Namen der Länder natürlich auch enthüllen, müsste dann aber darauf gefasst sein, dass ihm die Desktop-Krieger in Washington die Hölle heiß machen.

Je länger ich über die Frage nachgrüble, desto öfter denke ich an Washington. Vielleicht belauscht die NSA das eigene Land und seine Regierung? Das kann die Agentur aus offensichtlichen Gründen nicht zugeben, aber wenn sie den Mystic-Zauberer auf ihre eigenen Leute ansetzen würde, wäre der erzielte Mehrwert fantastisch – sei es für die Belange der nationalen Sicherheit, sei es für die eigene Sicherheit des NSA-CIA-Komplexes.

Der Gedanke klingt ziemlich verrückt, ich weiß, aber wenn die NSA das Handy von Angela Merkel in Deutschland abhören kann, kann sie zweifellos auch Barack Obama in Washington belauschen. Ich erhebe hier keine Anschuldigungen. Aber dass man auf die Frage kommen kann, verweist auf das abgrundtiefe Misstrauen, das die Regierung mittlerweile auf sich zieht.

Und wo bleibt in der ganzen Geschichte der Präsident? Obama wirkt meistens schlaff und wenig überzeugend. Er hat weder den CIA-Chef noch den NSA-Direktor gefeuert, obwohl beide den Kongress und die Öffentlichkeit belogen haben und zweifellos schuldig sind. Auch hat er keine ernsthafte unabhängige Untersuchung in die Wege geleitet. Er scheint nicht einmal zu begreifen, dass man ihm die Schuld gibt – egal ob das fair ist oder nicht.

Aber warum ist Obama nicht einmal wütend geworden? Weil der Präsident über all die geheimen Programme Bescheid weiß – und das macht ihn verwundbar für Vergeltungsschläge. Mag sein, dass die Lauscher die Leitungen des Weißen Hauses nicht abhören, aber ganz sicher wissen sie, wie viel Obama weiß, und das können sie jederzeit ausnutzen.

Dieses Spiel hat nicht erst mit Barack Obama angefangen. Sobald ein neuer Präsident in Washington antritt, bekommt er als Erstes die Topgeheimnisse mitgeteilt, über die er laufend gebrieft wird. Wenn die Geheimdienste das Weiße Haus immer tiefer in ihr Schattenreich hineinziehen, machen sie es einem Präsidenten umso schwerer, sein Veto einzulegen – und auch riskanter.5 Denn in der CIA oder in der NSA weiß man, was der Präsident gehört hat; und was er gesagt hat, als er in die Geheimnisse eingeweiht wurde. Sollte er sich entschließen, die schmutzigen Geschäfte der Dienste zu verurteilen, können die Spione den Medien stecken, wie ihnen der Oberste Befehlshaber hinter den verschlossenen Türen des Oval Office grünes Licht gegeben hat.

Fußnoten: 1 Siehe Stephen Grey, „Das stille System der Auftragsfolter. Entführt, verhört, versteckt“, Le Monde diplomatique, März 2005. 2 Jede Staffel beschreibt in Echtzeit 24 Stunden im Leben des Antiterroragenten Jack Bauer. Zwischen 2001 und 2010 wurden insgesamt 192 Episoden gesendet. Anfang Mai läuft bei Fox TV eine weitere Staffel an: „24: Live Another Day“. 3 Siehe Ruth Conniff, „Torturers in the White House“, The Progressive, 14. April 2008: www.progressive.org/mag_rc041408. 4 Siehe „NSA surveillance program reaches ‚into the past‘ to retrieve, replay phone calls“, The Washington Post, 18. März 2014. 5 Die vollständige Information des Präsidenten über das Agieren der Geheimdienste stellt eine Abkehr von dem Prinzip der „credible deniability“ dar. Nach diesem Grundsatz, der noch für die Kennedy-Administration galt, musste der Präsident in der Lage sein, seine Kenntnis von schmutzigen Geschichten glaubwürdig zu bestreiten. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke William Greider ist Washington-Korrespondent der Wochenzeitung The Nation. © Agence Global; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.04.2014, von William Greider