Herr Modi aus Gujarat
von Christophe Jaffrelot
Die politischen Wurzeln des umstrittenen BJP-Spitzenkandidaten Narendra Modi liegen in der hinduistischen Nationalbewegung, dem Rashitriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationale Freiwilligenorganisation). Für den RSS verkörpert nur die hinduistische Kultur die indische Identität, da die Hindus die „Söhne der Erde“ seien und 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Der RSS wurde 1925 als Reaktion auf die panislamische Khilafatbewegung gegründet, die später in der größeren Unabhängigkeitsbewegung aufging. Immer wieder trug er gewalttätige Konflikte mit anderen Religionsgruppen aus, vor allem mit den Muslimen. So auch bei der Teilung Indiens 1947. Nach Ansicht des RSS sollen Muslime (14 Prozent der indischen Bevölkerung) und Christen (2 Prozent) ihren Glauben privat ausüben können, haben sich aber in der Öffentlichkeit der dominierenden Kultur anzupassen.
Obwohl der RSS traditionell mit den höheren Kasten Indiens verbunden ist, entstammt Narendra Modi einer Familie aus den niederen Kasten Gujarats. Als Kind betrieb er mit seinem Vater einen Teestand, ehe er sich innerhalb der RSS-Hierarchie hocharbeitete: vom Freiwilligen zum pracharak (Vollzeitkader). Das bedeutete den Verzicht auf Berufsausübung und Familie, denn der RSS kann über seine Pracharaks frei verfügen: Er kann sie in entlegene Landesteile schicken, aber auch in den RSS-Studentenvereinigung oder die RSS-Arbeitergewerkschaft delegieren. Oder in seine politische Partei, die BJP.
1980 wurde Modi der BJP zugeteilt, wo er den Posten eines Parteisekretärs übernahm. Zunächst arbeitete er in Gujarat, später in der Zentrale in Delhi, wo er sich mit aller Kraft der Neustrukturierung der Partei widmete. Im Oktober 2001 wurde er von der Parteiführung, zu der auch Premierminister Atal Bihari Vajpayee gehörte, zum Chief Minister von Gujarat berufen. Hier begann Modi seine eigene Politik umzusetzen: eine Kombination aus hinduistischem Nationalismus, ökonomischem Neoliberalismus und Hightech-Populismus.
Anfang 2002 kam es in Gujarat zu den blutigsten Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen seit der Teilung Indiens. Am 27. Februar verübten vermutlich Muslime einen Brandanschlag am Bahnhof von Godhra, bei dem in einem Zug 59 Hindu-Aktivisten und Pilger den Tod fanden. Die Reaktion der Hindu-Nationalisten artete in ein Pogrom gegen die muslimische Bevölkerung aus. Nach Angaben glaubwürdiger NGOs kamen dabei mehr als 2 000 Menschen ums Leben. Die offizielle Zahl der Opfer lag nur halb so hoch.
Ein solcher Gewaltausbruch war nur möglich, weil die Polizei Anweisung hatte, die Aktionen der Hindu-Milizen zu dulden. Polizisten, die versucht hatten, ihre Pflicht zu erfüllen, wurden kaltgestellt; diejenigen dagegen, die weggesehen oder sogar mitgemacht hatten, wurden befördert.
Diese Politik zielte darauf, die Gesellschaft Gujarats zu spalten und hinduistische Wähler der BJP in die Arme zu treiben. Modi löste das Parlament auf und rief vorgezogene Neuwahlen aus. In dem aggressiven Wahlkampf beutete er die Angst vor dem Islamismus aus, indem er pakistanische Islamisten für den Zugbrand von Godhra verantwortlich machte. Der Sieg Modis fiel überwältigend aus.
Das Klima der Angst wurde nach den Wahlen weitergeschürt, vor allem durch „fake encounters“. Ein „vorgetäuschter Zusammenstoß“ ist zum Beispiel, wenn die Polizei jemanden ermordet und hinterher behauptet, er sei ein Terrorist oder er hätte sich der Verhaftung widersetzt oder das Feuer auf die Sicherheitskräfte eröffnet. Zwischen 2003 und 2005 hat die Polizei in Gujarat mehr als 20 Menschen getötet, die meisten von ihnen Muslime. Mitunter behauptet die Polizei, die Opfer hätten versucht, Bomben zu legen oder Modi zu ermorden. Zurzeit warten etwa 20 Polizeibeamte auf ihren Prozess wegen Fälschung von Beweismitteln.
Neuerdings will Modi ein gemäßigteres Image bieten. Er hält gebührenden Abstand von den Anführern der Hindu-Nationalisten, die wegen ihrer Verwicklung in das Pogrom von 2002 angeklagt waren – wie etwa Maya Kodnani, ein Staatsminister in Modis Regierung, der zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Modi bemühte sich zudem, die Muslime zu umwerben, indem er sich als „Botschafter der Gemeinschaftsharmonie“ (sadhbavana) inszenierte, durch Gujarat tourte und sich 2011 an einer traditionellen Fastenmission (Sadbhavana-Mission) beteiligte.
Muslime werden systematisch diskriminiert
Aber diese Aktionen blieben weitgehend symbolisch. Die BJP hat in Gujarat noch nie einen Muslim als Parlamentskandidaten aufgestellt. Und Modis Regierung ist die einzige in Indien, die es ablehnt, die Förderstipendien der Zentralregierung für muslimische Studenten zu vergeben oder mitzufinanzieren. Und zwar mit dem Argument, dies komme einer religiösen Diskriminierung gleich.
Wegen mangelnder Bildungschancen und beruflicher Diskriminierung sind in Gujarat viele Muslime zum sozialen Abstieg verurteilt: 25 Prozent der muslimischen Bevölkerung in den Städten lebte Mitte der Nullerjahre unterhalb der Armutsgrenze (neuere einschlägige Daten gibt es nicht). Selbst die Dalits (ehemals „Unberührbare“) mit 17 Prozent und die Adivasi1 mit 18 Prozent sind in Gujarat bessergestellt, obwohl sie anderswo die Allerärmsten sind. Beide Gruppen profitieren von Antidiskriminierungsprogrammen wie einer Quote für die Beschäftigung im öffentlichen Sektor.2
Modi hat auch die Tradition der Iftar-Feste3 aufgegeben, die seine Vorgänger begründet hatten, um das Ende des Ramadan auch offiziell zu feiern. Und nichts wurde gegen die Ghettoisierung unternommen, eine Folge der Abwanderung armer wie auch wohlhabender Muslime aus den Stadtzentren. Viele von ihnen waren nach den Gewaltausbrüchen von 2002 weg- und in relativ sichere Randbezirke gezogen. Heute werden sie durch die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt dazu gezwungen, weil zahlreiche Hausverwalter keine Muslime in ihren innerstädtischen Gebäuden haben wollen.
Modi hat es geschafft, den öffentlichen Raum fast vollständig zu vereinnahmen. Mit seinen häufigen Rundreisen durch Gujarat versetzt er den Staat in einen Zustand quasi permanenter Mobilisierung. Dabei setzt er in beispielloser Weise auf moderne Kommunikationsmittel, darunter auch die sozialen Medien oder massenhafte SMS-Botschaften. Während des letzten Wahlkampfs gründete Modi seinen eigenen Fernsehsender, Namo Gujarat, um seine Positionen und Argumente zu verbreiten. 2012 verwendete er sogar holografische Videoprojektionen, um auf 20 Veranstaltungen gleichzeitig sprechen zu können.
Modis PR-Strategie wurde von der US-amerikanischen Agentur Apco Worldwide entwickelt, die unter anderem das Image von Diktatoren in Afrika und Zentralasien aufpolieren half. Der Beratungsvertrag, den Modi schon 2007 mit Apco abgeschlossen hat, steht für eine neue Form des Populismus, die eine direkte Beziehung des Kandidaten zu möglichst vielen Wählern anstrebt.
Diese aufwändige PR-Strategie wird großenteils von der Wirtschaft finanziert, die in Guajarat aufgrund einer langen Tradition erfolgreicher Handels- und Finanzunternehmen gut entwickelt ist. Diese Kreise machen aus ihrer Wertschätzung für die neoliberale Wirtschaftspolitik der Modi-Regierung keinen Hehl. Die hat die Zahl der Sonderwirtschaftszonen (SEZ) erhöht, wo speziell für die Exportwirtschaft reduzierte Steuersätze gelten und gewisse Arbeitsgesetze außer Kraft gesetzt sind (viele Häfen Gujarats sind SEZ).
Modi hat darüber hinaus konkurrenzlos günstige Bedingungen für indische und ausländische Investoren geschaffen. So soll die Tata-Gruppe für die Verlagerung der Produktion ihres Billigautos Nana nach Ahmedabad das neue Werksgelände weit unter dem Marktpreis bekommen haben und dazu noch langfristige zinsfreie Darlehen und eine 20-jährige Steuerbefreiung.
Diese Anreize und die günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Gujarat mit seiner guten Verkehrs- und Energieinfrastruktur bietet, haben viele Investoren angelockt und das Wachstum im Bundesstaat angekurbelt. Zwischen 2004/05 und 2011/12 wuchs der Industrie- und Dienstleistungssektor um 10 Prozent und der Agrarsektor um mehr als 8 Prozent; beide Werte lagen damit deutlich über dem nationalen Durchschnitt.
Aber der wachsende Wohlstand kommt nicht allen zugute. Die Wirtschaftspolitik des von Modi favorisierten Entwicklungsmodells vertieft zugleich die soziale Spaltung. Neben den Muslimen (9 Prozent der Bevölkerung) gehören die Adivasi (17 Prozent) und die Dalits (9 Prozent) zu den Hauptverlierern dieser Politik, vor allem wenn sie auf dem Land leben. Dort ist der Prozentsatz der Armen bei den Adivasi auf 35 Prozent gestiegen, bei den Dalits auf 22 Prozent, bei anderen niederen Kasten auf 19 Prozent und der weiterer Gruppierungen (meist Hindus aus den höheren Kasten) auf 5 Prozent.4
Unterstützung erhält Modi vor allem aus den höheren Kasten, der Elite und der städtischen Mittelschicht. In den Städten hat seine Regierung die öffentlichen Verkehrsmittel ausgebaut und bereits 2009 neue Flächennutzungspläne durchgesetzt. Nach diesen Plänen dürfen die Stadtverwaltungen maximal 5 Prozent der Flächen für die „schwächeren Schichten“ der Gesellschaft reservieren – wohingegen die Slums im Durchschnitt etwa 18 Prozent ausmachen. Damit können Armenviertel viel leichter in Wohnsiedlungen umgewandelt werden, die sich nur die Mittelschicht leisten kann. Die hat deshalb die Regierung Modi von Anfang an unterstützt, obwohl einige der Minister und Abgeordneten, die ihr nahestanden, im Gefolge der Pogrome von 2002 vor Gericht gestellt wurden.
Aus einer Studie von Indiens größtem Umfrageinstitut geht hervor, dass die Wähler mit wachsendem Wohlstand zur BJP tendieren, während die Ärmeren eher für die Kongresspartei stimmen. 57 Prozent der wohlhabendsten Wähler (und 61 Prozent der höheren Kasten) wählten 2012 bei den Parlamentswahlen für den Bundesstaat Gujarat die BJP – und sicherten Modi damit ein dritte Amtszeit. 44 Prozent der ärmsten Bevölkerungsschichten (und 72 Prozent der Muslime) stimmten dagegen für die Kongresspartei.5
Die städtische Mittelschicht wird Modi mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei den nationalen Parlamentswahlen unterstützen. Ihr liegt vor allem am wirtschaftlichen Wachstum, das unter der aktuellen Regierung unter 6 Prozent abgesunken ist. Sie möchte einen starken Mann am Ruder sehen – und einen mit Saubermann-Image. Die Kongresspartei wird im Gegensatz zur BJP von Korruptionsskandalen erschüttert und hat kein überzeugendes Führungspersonal zu bieten. Die städtische Mittelschicht fühlt sich aber auch von der neuen Aam Aadmi Party (AAP, Partei des kleinen Mannes) angezogen, die aus der Antikorruptionsbewegung von 2011 hervorgegangen ist und bei den Wahlen im Dezember 2013 ihren Durchbruch auf nationaler Ebene hatte, als AAP-Chef Arvind Kejriwal zum Chief Minister des Hauptstadtterritoriums Delhi gewählt wurde.
In Gujarat konnte die BJP von der Unterstützung der breiten städtischen Mittelschicht profitieren. Aber Indien als Ganzes ist nicht Gujarat. Es ist weit weniger urbanisiert, und die Mittelschicht ist weniger einflussreich; die niederen Kasten einschließlich der Dalits sind im Norden Indiens besser organisiert als in Gujarat.
Dieser Umstand könnte die BJP die absolute Mehrheit im Parlament kosten und sie zwingen, eine Koalition einzugehen. Für diese Aufgabe bietet allerdings Modi, der von anderen Parteigrößen wegen seines autoritären Stils kritisiert wird, nicht unbedingt die besten Voraussetzungen