Warten in Ouargla
Der Süden Algeriens hat Öl, aber keine Jobs für junge Leute von Pierre Daum
Ouargla liegt mitten in der algerischen Wüste. Im alten Kino „Le Sedrate“ ist seit mindestens zwanzig Jahren kein Film mehr gelaufen. Es gibt kein Theater, kein Kulturzentrum, keine Bibliothek, keinen Park und auch kein Fußballstadion. Es gibt nicht einmal eine Bar, und sei sie noch so winzig, in der man ein Bier oder billigen Whiskey trinken könnte. Nur kaputte Bürgersteige, eine Festungsruine und ein Meer von Satellitenschüsseln. Die einzigen lebendigen Orte sind die Cybercafés, in denen Jugendliche hocken und die Zeit totschlagen. Auch der konservative FLN (Front de la Libération Nationale) hat in seinen Büros ein Internetcafé eingerichtet.
Dabei leben in Ouargla immerhin 200 000 Menschen. Die Stadt – 750 Kilometer von Algier und dem Mittelmeer entfernt – ist sogar das Verwaltungszentrum der gleichnamigen Wilaya (Verwaltungsbezirk). Doch sie wurde jahrelang vernachlässigt. Bis heute sind nur die Hauptstraße und ein paar Nebenstraßen befestigt, in denen sich aber auch schon wieder tiefe Risse durch den Asphalt ziehen. Ansonsten geht man hier über staubige Wege aus festgestampfter Erde. „Die lassen uns krepieren, während direkt nebenan das Öl liegt, das ihnen Milliarden einbringt“, empört sich der 29-jährige Mabrouk. Der junge Mann mit der schwarzen Haut der Südalgerier hat „nie gearbeitet“, das heißt, er hatte noch nie eine feste Stelle. Die Schule hat er vor dem Abitur abgebrochen und danach eine Kurzausbildung als Mechaniker gemacht. Mabrouk wohnt mit seiner Frau in einem kleinen Zimmer im Haus seiner Eltern.
Arbeitet seine Frau? „Nein.“ Sucht sie denn nach Arbeit? „Nein. Wenn ich nicht arbeite, kann sie auch nicht arbeiten. Das wäre schlecht für meinen Ruf. Es ist nicht gut für einen Mann, wenn seine Frau arbeitet.“ Sie leben von der Unterstützung der Eltern, und ein paar Mal im Monat jobbt Mabrouk für 500 Dinar (5 Euro) am Tag auf dem Bau oder hilft auf dem Markt aus.1
Jeden Morgen, außer freitags, sitzen Mabrouk, Omar, Tahar, Abdelmalek, Tarek, Chaled, Hamza und ein Dutzend weitere Freunde an den Plastiktischen der Sedrate-Cafeteria vor dem geschlossenen Kino. Sie trinken Kaffee, rauchen und diskutieren stundenlang über ihre Situation. Keiner von ihnen hat eine richtige Arbeit, alle sind Schulabbrecher. Und alle haben nur einen Traum: eine feste Stelle in einem der Staatsunternehmen in Hassi Messaoud, der größten Ölförderstätte Algeriens, 80 Kilometer östlich von Ouargla.2 Dort lagern 71 Prozent der Rohölreserven des Landes, täglich werden 400 000 Barrel aus der Erde gepumpt, Algerien verdient damit im Jahr etwa 16 Milliarden Dollar.3
„Ich will nicht für ein ausländisches Unternehmen arbeiten“, sagt Omar. „Die bezahlen schlecht und können dich nach drei oder sechs Monaten, oder sogar nach drei Jahren rausschmeißen, ohne irgendeine Entschädigung oder Arbeitslosengeld.“ Wenn man in der Wüste lebt, sind 80 Kilometer ein Steinwurf. Alle wissen, dass die Arbeit „drüben“ auf dem streng bewachten Gelände, wo Ausländer keinen Zutritt haben, hart ist, aber gut bezahlt wird. Zwölf-Stunden-Tage bei bis zu 50 Grad Hitze. „Als Rohrschweißer kannst du leicht 8 Millionen verdienen“, erzählt Chaled mit leuchtenden Augen. 8 Millionen Centimes, das heißt 80 000 Dinar, etwa 800 Euro im Monat. „Und ich kenne einen einfachen Hilfsarbeiter, der 12 Millionen verdient!“ Hamza hat selbst drei Jahre in Hassi Messaoud gearbeitet, als Bäcker in einem Zulieferbetrieb. „Ich hab nur 3 Millionen verdient. Das war zu wenig, deshalb hab ich wieder aufgehört.“
Mabrouk, Chaled, Hamza und die anderen gehören zum Millionenheer der jungen Arbeitslosen in Algerien, über deren Lage die Politiker und Kommentatoren in den Medien ständig reden. Das Land hat 38 Millionen Einwohner, von denen 57 Prozent unter 30 Jahre alt sind. Laut offiziellen Statistiken sind 1,2 Millionen Algerier arbeitslos – das entspricht einer Quote von 9,8 Prozent, 70 Prozent von ihnen sind unter 30. Diese Zahlen erscheinen erstaunlich niedrig. Sie verschleiern ein Beschäftigungsproblem, das in Wahrheit viel gewaltiger ist. In Algerien geben 83 Prozent der Frauen an, nicht auf Arbeitssuche zu sein. Sie tauchen also in keiner Arbeitslosenstatistik auf, genau wie die Studenten.
Pseudobeschäftigungen und leere Versprechen
Im Lauf der letzten zwanzig Jahre sind die Studentenzahlen von 195 000 auf 1,2 Millionen gestiegen. Es wurden zwar viele neue Universitäten gebaut, aber die Qualität der Ausbildung konnte mit dem Ansturm nicht Schritt halten. Viele Absolventen fanden keine Arbeit. Deshalb hat der Staat 1998 ein spezielles Beschäftigungsprogramm aufgelegt, das „pré-emploi“. Für ein monatliches Gehalt von 15 000 Dinar (150 Euro), das der Staat zahlt, sollen alle öffentlichen Einrichtungen die jungen Studienabgänger offiziell beschäftigen. „Ich kenne den zuständigen Beamten im Rathaus“, erzählt Murat. „Der schickt mich morgens nach einer Stunde wieder nach Hause. Es gibt sowieso nichts zu tun, und am Monatsende stecke ich die 15 000 Dinar ein. Ich bin 28 und wohne noch bei meinen Eltern, ich brauche nichts.“ Um eine genauere Vorstellung von der Arbeitslosigkeit in Algerien zu bekommen, sollte man sich eher die Beschäftigungszahlen ansehen: Offiziell gehen 10,8 Millionen Algerier einer geregelten Arbeit nach, das sind 28 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wenn man die jungen Leute abzieht, die unter das Beschäftigungsprogramm „pré-emploi“ fallen, kommt man auf 25 Prozent.
Im Februar 2011, kurz nach dem Arabischen Frühling, gründeten Mabrouk und seine Freunde die erste unabhängige Arbeitslosenbewegung: die Nationale Koordination für die Verteidigung der Rechte der Arbeitslosen (Coordination nationale pour la défense des droits des chômeurs/CNDDC). Tahar war lange Zeit ihr Sprecher und Abdelmalek ihr Vorsitzender.4 Ihr großer Tag war der 14. März 2013, als sich mehrere tausend Menschen – sie selbst sagen 10 000 – vor dem Gebäude der Regionalverwaltung versammelten. Gleichzeitig unternahmen die lokalen Abgeordneten und Notabeln alles, um die Bewegung zu zerschlagen. Die Anführer wurden beschuldigt, für ausländische Interessenvertreter zu arbeiten, und die jungen Leute aufgefordert, zu Hause zu bleiben.
Als die CNDDC-Aktivisten am 28. September 2013 zu einem neuen „Tag der Wut“ aufriefen, schlossen sich ihnen nur noch ein paar hundert Leute an, um auf die Straße zu gehen. Die Polizei wartete bereits auf sie – mit Schlagstöcken und Sturmhauben. Ali Bougerra, der Wali (Provinzgouverneur) von Ouargla, wandte sich in der Presse an die Demonstranten: „Die Kinder der Wilaya sind unsere Kinder. Dank der grandiosen Projekte, die das Gesicht ihrer Stadt verändern werden, werden die Arbeitslosen Antworten auf ihre Fragen finden.“5 Und was sagt Tahar dazu? „Wir haben die Schnauze voll von diesen paternalistischen Tönen und den leeren Versprechen! Wir wollen eine gerechte Verteilung der Reichtümer des Landes und dass das Recht auf Arbeit, das die lokale Bevölkerung gesetzlich bevorzugt, endlich respektiert wird, damit auch die Leute aus Ouargla etwas davon haben.“
Tatsächlich verpflichtet dieses Gesetz von 2004 jedes Unternehmen, das eine Stelle zu vergeben hat, sich zuerst an das örtliche Arbeitsamt (Agence nationale de l’emploi, Anem) zu wenden. „Aber die Kartei hier ist manipuliert“, sagt ein Anem-Mitarbeiter in Ouargla. Sein Chef ist gerade unterwegs, deshalb kann er offen sprechen: „Wegen der hohen Gehälter, die in Hassi Messaoud gezahlt werden, verschaffen sich tausende Arbeitslose aus dem Norden Scheinadressen in Ouargla, um hier registriert zu sein. Und auch wenn die Unternehmen Leute aus dem Norden einstellen, ohne sich vorher an uns zu wenden, gehen sie kein Risiko ein, denn sie werden nie kontrolliert.“
Kein Wunder, dass die Algerier kein Vertrauen in ihren Staat haben. Alle gehen davon aus, dass das Gesetz sowieso nicht zählt und dass es nur auf maârifa ankommt, auf Beziehungen. „Du brauchst eine Adresse in Ouargla? Du willst Arbeit in Hassi Messaoud? Du hast ein Darlehen vom Staat bekommen6 und kannst es nicht zurückzahlen? Kein Problem! Wenn du die richtigen Leute kennst, ist alles möglich!“, sagt der Chemiestudent Farid und verzieht dabei angewidert das Gesicht. Alle seine Freunde, die um ihn herum auf dem Campus stehen, stimmen ihm zu, und jeder hat dazu mindestens eine Geschichte auf Lager. In der neuesten Studie zur Arbeitslosigkeit stellt das Amt für Statistik fest, dass „78 Prozent der Arbeitslosen angeben, bei der Arbeitssuche auf persönliche Beziehungen zurückgegriffen zu haben“.
Ein weiterer Knackpunkt ist die Ausbildung der jungen Leute. Die Fachhochschulen für Berufe in der Ölbranche sind im Norden des Landes, in Boumerdes, Skikda und Oran. Das verstärkt bei den Südalgeriern das Gefühl, benachteiligt zu werden. Ihre Diskriminierung, die auch mit ihrer dunkleren Hautfarbe zu tun hat – in Algerien gibt es einen ausgeprägten Rassismus gegen Schwarze –, hat zudem historische Gründe: Die Algerier aus dem Süden standen schon immer unter dem Verdacht, sie seien im Befreiungskrieg gegen Frankreich keine „echten Nationalisten“ gewesen. Noch heute, fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit, stehen sie unter dem Druck, ständig ihre Verbundenheit mit der Nation beweisen zu müssen.
Letztes Jahr eröffnete der staatliche Ölkonzern Sonatrach in Hassi Messaoud zwei große Ausbildungszentren für Schweißer und Bohrer mit 190 Plätzen – ein Tropfen auf den heißen Stein. Letztendlich wird die wichtigste Maßnahme des Staats, um auf die Forderungen der Jugend im Süden einzugehen, die Eröffnung von Polizeischulen in mehreren Städten gewesen sein: „16 000 Neueinstellungen im Jahr“,7 kündigte der Direktor der Personalabteilung der algerischen Polizei, Oberstleutnant Mohamed Benaire, auf einer Konferenz an, die im April 2013 an der Universität von Ouargla unter dem Motto „Arbeitsplätze in der Region, eine konkrete Realität“ stattfand. „Wir wollen Arbeit, und alles, was sie uns anbieten, ist, Bulle zu werden!“, zischt Tarek. „Das ist wirklich zum Kotzen!“
Frauen sind bei den morgendlichen Treffen im Sedrate nicht dabei. In der ganzen Stadt sieht man sowieso keine einzige Frau auf der Terrasse eines Cafés sitzen. In Ouargla gehört die Straße den Männern – ein Phänomen, das hier noch ausgeprägter ist als in anderen Städten des Landes. „Ich weiß, dass meine Freundin mich unterstützt“, sagt Abdelmalek. „Aber ich kann sie nicht mit ins Sedrate nehmen, die anderen würden sie nur anstarren, und das will ich nicht.“ Toufik versucht sich zu rechtfertigen: „Es macht nichts, dass die Frauen nicht da sind, wir vertreten doch auch ihre Interessen.“ Wenn das Gespräch einzuschlafen droht, steckt man sich eine Zigarette an. Viele rauchen mehr als zwei Schachteln am Tag. Das kostet 40 Euro im Monat. „Für einen Arbeitslosen ist das viel Geld“, räumt Abdelmalek ein und lacht dabei laut auf.