Wahltheater in Algerien
von Jean-Pierre Séréni
Vergangenen Sommer wurden in Algerien zehn Minister entlassen, darunter die der Schlüsselressorts Inneres, Auswärtiges, Verteidigung und Justiz. Sie alle – mit Ausnahme des Außenministers Medelci, der zum Präsidenten des Verfassungsrats gemacht wurde – bekamen beim Abschiedstreffen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Sellal zu hören: „Deine Leistungen stehen außer Frage, aber …“ In den höchsten politischen Kreisen sei geradezu Panik ausgebrochen, erzählt einer der Exminister. „Innerhalb weniger Tage wurden Regierung, Partei, Geheimdienst und Armee komplett auf den Kopf gestellt.“
In aller Eile und gegen den ausdrücklichen Willen des Zentralkomitees wurde ein neuer Generalsekretär an die Spitze der ehemaligen Einheitspartei FLN (Nationale Befreiungsfront) gesetzt. Doch auch dieser neue Chef, Amar Saïdani, war kein unbeschriebenes Blatt: Vor sieben Jahren hatte er wegen undurchsichtiger Machenschaften, die niemals aufgeklärt wurden, vom Amt des Parlamentspräsidenten zurücktreten müssen.
Saïdani legte sich gleich mit dem ebenso geheimnisvollen wie ewigen Chef des algerischen Geheimdienstes DRS (Département du renseignement et de la sécurité) an: General Mohamed Mediène, genannt „Toufik“, wurde von Saïdani öffentlich „ausgezogen“, was im algerischen Sprachgebrauch so viel wie „gedemütigt“ bedeutet. Wichtige Unterabteilungen der DRS wurden dem Geheimdienst entzogen und unter die Aufsicht des Generalstabs der Armee gestellt oder direkt der Präsidentschaft zugeordnet.1
Angefangen hatte alles im August 2013 mit einem Skandal, der in Mailand ans Licht kam. Ein Manager des italienischen Unternehmens Saipem, einer Tochter des Energiekonzerns Eni, hatte ausgepackt: Knapp 200 Millionen Dollar hätte Saipem an algerische Mittelsmänner gezahlt – als Gegenleistung für Aufträge in einer Höhe von 11 Milliarden Dollar. Einen Monat zuvor war Präsident Bouteflika zurückgekehrt, nachdem er wegen eines Schlaganfalls drei Monate in Paris behandelt worden war.
Palastintrigen und ein Korruptionsskandal
Was die Regierung beunruhigte, war weniger die hohe Geldsumme als die Tatsache, dass zum ersten Mal Richter in Italien, Frankreich und den USA eine algerische Korruptionsaffäre untersuchten. Das war etwas vollkommen anderes als die Skandale, die in den vergangenen fünf Jahren Anlass zu allerlei Gerede gegeben, aber nie zu einem Gerichtsverfahren geführt hatten. Die algerische Justiz ist an Gehorsam gewöhnt. „Wenn ich in einem heiklen Verfahren verkünde, dass sich das Gericht nun zur Beratung zurückzieht, heißt das in Wahrheit, dass wir im Hinterzimmer sitzen, Kaffee trinken und so lange warten, bis der Anruf kommt, der uns mitteilt, wie das Urteil zu lauten hat“, erzählt der Vorsitzende Richter eines Landgerichts im Westen alles andere als stolz.
Am 1. September 2013, dem Tag seiner Inthronisation als Generalsekretär der FLN, suchte Saïdani Justizminister Mohamed Charfi auf. Der neue Parteichef wollte ihn zwingen, einen Namen aus den Untersuchungsakten zu tilgen: Chakib Khelil, ehemaliger Energieminister und enger Vertrauter von Präsident Bouteflika. Sollte sich Charfi weigern oder irgend etwas schiefgehen, werde er seinen Posten verlieren. Elf Tage später wurde der Justizminister geschasst – und mit ihm neun weitere Minister.
Die Spitze des Regimes deutet nun, im Hinblick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, den Mailänder Korruptionsskandal als Destabilisierungsversuch, vergleichbar mit der verhängnisvollen Tonbandaffäre des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Die Anstifter sitzen im Ausland, heißt es in den staatlichen Medien, Namen werden jedoch nicht genannt. Und, so wird weiter angedeutet, sie könnten auch Verbündete in Algerien haben.
Der Geheimdienst DRS ist zwangsläufig in die Angelegenheit verwickelt, schließlich ist er für Ermittlungen im Bereich Korruption zuständig und hat bereits mehrere Affären aufgedeckt. die für das Umfeld des Präsidenten überaus peinlich sind. Eine davon, genannt „Sonatrach I“, betraf ebenfalls den Ölsektor; eine andere den Bau der großen Ost-West-Autobahn, bei dem die Vergabe von Aufträgen an chinesische und japanische Firmen unter zwielichtigen Umständen zustande gekommen war. Es wurde also höchste Zeit, den obersten Geheimdienstchef, General Toufik, zu „neutralisieren“.
Mit dieser Aufgabe wurde eine Gruppe von Männern von betraut, die das persönliche Vertrauen des geschwächten Präsidenten besitzt, eine algerische Version der „Viererbande“.2 Die Rolle, die Maos Witwe Jiang Qing 1976 in China spielte, hat im heutigen Algerien Saïd Bouteflika inne, der 20 Jahre jüngere Bruder des 77-jährigen Präsidenten. An seiner Seite stehen der Leiter von Bouteflikas Wahlkampagne, Abdelmalek Sellal (der dafür sein Amt als Regierungschef an den Energieminister Yousfi abgab), der FLN-Generalsekretär Saïdani sowie der Transportminister Amar Ghoul, der in islamistischen Kreisen großen Einfluss besitzt und dafür gesorgt hat, dass der Korruptionsskandal um die Ost-West-Autobahn keine allzu hohen Wellen schlug.
Saïd Bouteflika, offiziell Sonderberater des Präsidenten, fungiert als Kommunikator zwischen seinem Bruder, der unter medizinischer Betreuung zurückgezogen in einer Villa außerhalb der Hauptstadt lebt, und dem Rest der Welt. „Er ist es, der das Land regiert, und sein einziger Rivale ist der Geheimdienst“, erklärt der pensionierte General Hocine Benhadid, der behauptet, im Namen seiner ehemaligen Kameraden zu sprechen.3 „Alle kriechen vor Saïd Bouteflika: die Minister, die Walis [Provinzgouverneure], die Polizei, hohe Beamte … Er sitzt am Telefon des Präsidenten, also gehorchen ihm die Leute.“ Innerhalb der Armee werde Saïd von Generalstabschef Ahmed Gaïd-Salah unterstützt. „Aber ich sage ganz klar: Gaïd-Salah als Person – nicht die Armee als Institution“, versichert Benhadid. Der 74-jährige Gaïd-Salah ist berüchtigt für seine Brutalität und Kurzschlusshandlungen. Tatsächlich ist er ein fünftes Mitglied der „Viererbande“, und zweifellos das mächtigste.
„Seit den abgebrochenen Parlamentswahlen4 von 1992 entschied eine Versammlung von Militärs über den weiteren Kurs“, erklärt der ehemalige DRS-Oberst Chafik Mesbah, der zusammen mit anderen, die weniger wahrgenommen werden, praktisch die Öffentlichkeitsarbeit für sein „Haus“ leistet. „Auf der einen Seite gab es den Generalstab, die einzelnen Regionalkommandos und die Kommandeure der großen Einheiten; und auf der anderen Seite den Geheimdienst, der als Schnittstelle zu den politischen Institutionen fungierte. Aber die Entscheidungen wurden stets im Konsens gefällt.“
Mit der Ernennung von Gaïd-Salah zum Vizeminister für Verteidigung im Zuge der Kabinettsumbildung vom 11. September 2013 hat Bouteflika einen seiner Leute an die Spitze jenes Zirkels von Generälen gesetzt, der die Armee – und teilweise auch das Land – lange Zeit regiert hat. Drei Generäle wurden im Januar 2014 in den Ruhestand versetzt. Ein vierter, General Abdelkader Aït Ouarab, der seit 2008 die Antiterroreinheiten der Armee befehligte, weigerte sich zurückzutreten und wurde vor das Militärgericht in Blida gebracht.5 Die anderen halten still. Bislang haben sie auf den feierlichen Appell des ehemaligen „Reform“-Regierungschefs Hamrouche (1989 bis 1991) vom Februar nicht reagiert: „Ich rufe die Nationale Volksarmee dazu auf, Algerien zu retten.“
Die „Viererbande“ inszeniert eine Kampagne zur Wiederwahl des Präsidenten, der seit 15 Jahren an der Macht und dafür selbst zu schwach ist. Im Laufe seiner drei Amtszeiten wurde der algerische Staat zunehmend durch einen einzigen Mann beherrscht, der über fast alles allein entschied. Für Minister und Vertreter der staatlichen Institutionen blieb dabei nur die undankbare Rolle austauschbarer Statisten übrig. „Der Umgang mit ihm ist schwer“, sagt ein ehemaliger Regierungschef. „Er ist autoritär, pedantisch, argwöhnisch; im Geist ein Bonapartist.“ Bouteflika versteckt kaum seine Verachtung für das mittelmäßige Parlament, das aus dem von ihm geduldeten, wenn nicht sogar geförderten Wahlbetrug hervorgegangen ist. Der Präsident bevorzugt Verordnungen statt Gesetze, Ernennungen statt Wahlen, Intrigen statt Debatten.
Der kleine Bruder und die „Viererbande“
Die Opposition hat ihm dabei bisher kaum Steine in den Weg gelegt. Islamisten, Nationalisten und Demokraten sind in unzählige verschiedene Strömungen, rivalisierende Cliquen und Gruppen gespalten. Auch jetzt, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, bekämpfen sie sich vor allem untereinander. Soll man einen eigenen Kandidaten aufstellen, die Wahl boykottieren oder die offizielle Kandidatur unterstützen? Alle Positionen sind vertreten. Die dschihadistischen Gruppen, die immer noch in bestimmten Bergregionen und im Süden des Landes aktiv sind, machen der Bevölkerung mehr Angst als den Behörden, obwohl sie mit ihrem Überfall auf die Gasförderanlage in In Aménas im Januar 2013 der wichtigsten Industrie Algeriens einen schweren Schlag versetzt haben.6
Eine herausragende Figur innerhalb der Opposition ist Ali Benflis – er ist jemand, dessen Wahlkampf diese Bezeichnung auch wirklich verdient. Der 1944 geborene Politiker hat eine bewegte Vergangenheit: Im Sommer 1991 war er aus Protest gegen die Einrichtung von Lagern, in denen Angehörige der FIS ohne Prozess festgehalten wurden, als Justizminister zurückgetreten.7 Während der ersten Amtszeit Bouteflikas (1999 bis 2004) war er Ministerpräsident, überwarf sich aber mit dem Präsidenten und trat bei den Wahlen 2004 gegen ihn an. Bei der manipulierten Abstimmung erhielt er 6 Prozent.
Als ehemaliger Präsident der Anwaltskammer von Batna hat Benflis einigen Rückhalt in Justizkreisen, ebenso in der FLN, deren Generalsekretär er von 1999 bis 2004 war. Außerdem verfügt er über ein landesweites Netzwerk von Unterstützern, das bis ins islamistische Milieu reicht. Benflis schlägt vor, den demokratischen Übergang in Algerien durch eine nationale Konferenz einzuleiten, in der alle gesellschaftlichen Strömungen vertreten sind. Diese soll eine neue Verfassung ausarbeiten, die Unabhängigkeit der Justiz garantieren und der Legislative mehr Gewicht verleihen.
Die Stimmung auf der Straße ist derweil so skeptisch wie noch nie. Der 37-jährige Anstreicher Chaled sitzt in einem Café im Viertel Hussein Dey in Algier und fasst zusammen: „Bouteflika, der ist abgelaufen! Die Wahl wird nichts ändern, das Drehbuch ist schon vorher geschrieben. Selbst wenn Barack Obama zum Präsidenten von Algerien gewählt würde, ändern würde sich nichts.“ Und doch, Algerien verändert sich. Fährt man über die neue sechsspurige Ost-West-Autobahn, sieht man eine Landschaft im Wandel und viele Baustellen; aus Dörfern werden Städte, und über das Land breiten sich große neue Agrarbetriebe aus, die mit modernen Maschinen arbeiten. Im Osten des Landes, zwischen Bordj Bou Arreridj und Sétif, sind die Anfänge einer privatwirtschaftlich organisierten Industrialisierung zu beobachten: Ziegeleien, Limonadenhersteller, Steinbrüche, Mühlen, Lebensmittelbetriebe und Montagefabriken säumen die alte Nationalstraße. Condor, ein Familien-Mischkonzern in Bordj mit 6 500 Beschäftigten, stellt Solarpaneele, Klimaanlagen, Flachbildfernseher, Mobiltelefone und Tablet-Computer her. „Wir erweitern die Produktpalette, soweit es rentabel ist“, erklärt der Geschäftsführer Abdelmalek Benhamadi.
Im äußersten Westen des Landes, in Tlemcen,8 verhandelt ein algerisches Unternehmen mit einem europäischen Konzern über die Verlegung einer Druckerei nach Algerien. Das wäre eine Premiere. Die Unternehmer im Land profitieren von geringen Personalkosten (durchschnittlich werden 200 Euro monatlich bei einer 40-Stunden-Woche gezahlt), Darlehen zu besonders günstigen Konditionen und billiger Energie. Das große Geschäft wird allerdings nach wie vor mit öffentlichen Aufträgen gemacht (mehrere Milliarden Dollar pro Jahr), wo man vor allem gute Beziehungen zur Regierung braucht.
In Algier sind die neuesten Errungenschaften der Mittelschicht überall an den Fassaden und auf den Straßen zu sehen: Klimaanlagen und Autos. Leitende Angestellte brauchen morgens oft über eine Stunde ins Büro, ebenso am abends für den Weg nach Hause in die oft weit außerhalb gelegenen Siedlungen inmitten von Brachland, Schafherden und verstreuten Slums. Die Ansprüche wachsen, und der Staat kann sie nicht erfüllen. Immer mehr private Schulen und Kindergärten werden gegründet. An den Bürgerhäusern der Altstadt versprechen Werbeplakate Lehrgänge und Sprachkurse. Im Viertel Dély Ibrahim auf den Hügeln von Algier wurde 2005 die Privatklinik Al Azhar mit 100 Betten und 300 Angestellten gegründet. „Eine gute Gesundheitsversorgung wird immer mehr nachgefragt. Die Ärzte der öffentlichen Krankenhäuser schicken viele Patienten zu uns“, erzählt Chefarzt Khodja-Bach.
Amira Bouraoui war die Wortführerin bei der ersten Demonstration gegen Bouteflikas erneute Kandidatur. Sie ist ebenfalls Ärztin. „Ich bin Gynäkologin in einem öffentlichen Krankenhaus, und ich bin empört darüber, dass sich Frauen nach der Entbindung ein Bett teilen müssen, während sich euer Kandidat in Paris im Val-de-Grâce behandeln lässt!“, schleuderte sie in einer Talkshow9 dem FLN-Abgeordneten entgegen, der sich für eine vierte Amtszeit Bouteflikas starkmachte. Algerien entwickelt sich schneller als seine politische Führung.