13.10.2006

Die notwendige Verbindung zwischen Hier und Dort

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Die notwendige Verbindung zwischen Hier und Dort

Nur wer sich die Freiheit nimmt, über Grenzen zu gehen, begegnet dem anderen – aber für manche Menschen sind Grenzen unpassierbar von Edouard Glissant

Wir erleben Grenzen nicht als Zeichen und Momente des Nichtmöglichen, sondern als Orte des Übergangs und des Wandels. In der echten Beziehung1 erfordert die gegenseitige Beeinflussung der Identität eine wirkliche Autonomie aller individuellen oder kollektiven Identität. Eine so verstandene Beziehung bedeutet nicht Verwirrung oder Auflösung. Ich kann mich im Austausch mit dem anderen verändern, ohne mich dabei zu verlieren oder zu verfälschen. Deshalb brauchen wir Grenzen, nicht damit sie uns aufhalten, sondern damit wir die Freiheit haben, uns von uns selbst weg und zum anderen hin zu bewegen, damit wir das Wunderbare des Diesseitigen spüren.

Es ist nicht einfach, sich an die Stelle von Menschen zu versetzen, die wirkliche Niederlagen und Tränen ertragen mussten. Aber wir können die Orte unserer Leiden und Niederlagen zu Orten der Verheißung machen, können insofern auch die Grenze zu Orten überschreiten, an denen andere menschliche Gemeinschaften gelitten und ausgeharrt haben, und können den Lobpreis und die Pracht dieser Orte begreifen. Zwischenstaatliche Grenzen ohne Zwänge und bürokratische Schikanen zu überqueren, ist angenehm. Wie selbstverständlich kommt man aus der Atmosphäre Marokkos in die Atmosphäre Algeriens, vom französischen zum spanischen Lebensgefühl, von der Luft, die wir in Savoyen atmen, zur Luft der Toskana („Ist es noch weit bis zur Toskana?“), von den blauen Wüsten Perus zu den ockerfarbenen in Chile. Als wäre man ein Gewand losgeworden, von dessen Existenz man nichts wusste, erfüllt von einem Vorgeschmack auf das, was kommen wird. Die Grenze ist eine Einladung, die Unterschiede zu genießen, sie macht die Abwechslung zum Vergnügen.

Kommen wir nun jedoch auf die Menschen zurück, denen diese Freude verwehrt ist: zu den ausgesperrten Migranten. Versuchen wir zu erfassen, wie schwer und schrecklich dieses Verbot auf ihnen lastet. Eine Grenze zu übertreten ist ein Privileg, das niemandem versagt sein sollte, mit welcher Begründung auch immer. Grenzen sind da, damit wir uns daran freuen, auf die andere Seite zu gelangen, die Unterschiede in uns aufzusaugen und sie gemeinsam zu erleben. Wenn Not und Elend Menschen zwingen, welche Grenze auch immer zu verletzen, dann ist das genauso skandalös wie die Hintergründe dieses Elends.

Nach der langen, dramatischen Jagd auf illegale Migranten in Europa – England, Frankreich, Spanien und Italien, jedes noch so winzige Fürstentum hat sich zum Mitmachen bewegen lassen – zeigte ein Fernsehsender Anfang 2006 ein paar Illegale, die mit Gewalt nach Mali zurückgebracht worden waren. Einer von ihnen hat dort, mitten in der Wüste, auf einem ungenutzten Gelände eine Installation geschaffen, an der die Kinder des Ortes lernen, was es heißt, eine Grenzsperre überwinden zu wollen. Da steht ein verrosteter, verbogener Gitterzaun, der eher auf das Vorhandensein eines Gartens hindeutet, als dass er ihn tatsächlich beschützen könnte. Und dieser Zaun ist übersät mit menschlichen Gestalten, klein wie Fliegen, es sieht aus, als würde das Gitter sie auffressen, darunter winzige zerfetzte Verletzte, die versuchen, über diese unermessliche Höhe hinüberzuklettern. Die Kamera macht einen Schwenk vom Sand in der Umgebung auf die Gesichter der Kinder, auf die ruhigen Bewegungen des Mannes, der die Installation zeigt.

Ich hätte mir dieses Kunstwerk, dieses Exempel einer wirklichkeitsnahen Geschichtsschreibung gern aus nächster Nähe und lange angesehen, aber die Kamera schwankt und wackelt. Mit der Kamera gelingt es eben nicht immer, die magische Spur, die elementare Kraft oder auch die geheime Verbundenheit zu erfassen. Eine Installation, die keine ist, das Gitter klappert im heißen Wind, dies ist wirklich keine Kunst im buchstäblichen Sinn. Sie öffnet ausnahmsweise den Raum um uns herum, sie wendet sich dem Flüchtigen zu und der vernünftigen Regellosigkeit allen Bluts unter der Sonne. Da spricht der Mann, der die Installation aufgebaut hat, seelenruhig nicht zu den Kindern, die es schon wissen, sondern in die Kamera, dass er es wieder tun werde, er könne einfach nicht mit leeren Händen in sein Dorf zurückkehren, er werde es wieder versuchen, er habe keine Angst vor dem Tod, schließlich seien auch die mit menschlichem Fleisch gespickten Stacheldrahtzäune nicht unüberwindlich.

Deshalb berührt uns der Anblick von Häfen, ob sie (wie das westafrikanische Gomée) einst Sklavenumschlagplatz waren oder nicht, und auch Grotten, Höhlen, Zellen, unüberwindliche Ferne und ausweglose Enge, Orte, unter denen du leidest, und Orte, von denen du nichts weißt, die namenlosen und die herausragenden, Auschwitz und das Nichtmitteilbare, Gorée, Robben Island, das Fort de Joux und die Höhle von Tjibaou, Saint Pierre auf Martinique und alle Vulkane des amerikanischen Kontinents, die Osterinsel, Zentrum des Unfasslichen, Matouba in Asche, die von Zuckerrohr umstellte Plantage, Karthago und das schwarze Salz, der Bauch der Sklavenschiffe, die Salzsteuer und das rote Salz, Hiroschima und Nagasaki, die Smala von Abdelkader und die Große Mauer, so unerreichbar und lang, und die Zelle des Sokrates, die Bibliothek von Timbuktu, New Orleans und die Wirbelstürme auch vor „Katrina“, die Pestizide, durch die Bananenstauden für immer ungenießbare Früchte tragen, und der Vulkan Empedokles, die Favelas, die sich überall auf der Welt häufen, der Handel mit den Feuern der Sahara und der Wüsten des Ostens, die Garotte Atahualpas, Kirke im nebligen Schlund des Vergessens, Lissabon und San Francisco mit ihren Erdbeben, Atlantis, Bagdad, der Styx und für mich die Agonie des Lézarde-Flusses. Aber Sie können noch lange so weiterreden, Sie werden das Ende der Spur nie erreichen.

In gewisser Weise ist ein Hafen eine Höhle, mit seinen Becken und seiner Enge. Es gibt keinen Ort, der uns so nah und so fern ist wie ein Hafen, vielleicht nur ein Felsblock oder eine Reihe von Felsen im Meer, oder ein Gulag am Ende eines Schneefelds gelegen wie ein eigener, unzugänglicher Kontinent, oder eine Goldmine unter freiem Himmel in Brasilien. Warum wollen Sie Leute, die vergessen haben, zwingen, sich zu erinnern, wenn Sie selbst nicht genügend Atem haben, um in unsere gemeinsame Höhle hineinzugelangen und durch sie hindurchzugehen, oder Ihnen die freundliche Unbedarftheit fehlt, in der Ferne alles miteinander zu vermengen. Wir alle müssen uns zusammen erinnern, unsere Gedächtnisse nehmen aneinander teil wie ein Wurzelgeflecht, ein Rhizom. Häfen sind die offenen Grenzen der Fantasie.

Diese Häfen und diese Grenzen, die Isthmen, Passagen, Meerengen, Deltas glauben wir in den Legenden und Geografien der Träume von Riesen bewacht, denn der Riese überblickt beide Seiten der Grenzlinie, er erfasst sowohl die Identität des Hier als auch die des Dort, er begreift ihre notwendige Verbindung und bewahrt und verteidigt ihre notwendige Besonderheit. In den meisten Mythen ist der Riese gut, weil er alles begreifen kann, beiderseits der Grenze. So wie die Figuren der Anabell Guerrero. Sie sind mit den kleinen Dingen ihres Alltags beschäftigt und schauen dabei in die Ferne, über die Schranke oder das Gitter oder die Sperre der Grenze hinweg. Sie sind keine Insignien, die etwas Gewaltiges bezeichnen, sondern Wegweiser zur echten Beziehung.

Fußnote: 1 Für Glissant beinhaltet Beziehung eine Spannung, aber auch die innere Verbindung zwischen den Menschen in den Ländern des Nordens und des Südens, ehemaligen Kolonisten und ehemals Kolonisierten, zwischen den reichen und den armen Ländern auf der Welt [Anm. d. Ü.]. Aus dem Französischen von Beate Thill Edouard Glissant wurde 1928 auf Martinique geboren. 1946 kam er nach Paris, um dort Geschichte, Literatur, Ethnologie und Philosophie zu studieren. Er engagierte sich in antikolonialistischen Bewegungen, veröffentlichte Gedichte, Romane, Essays und Stücke und gilt als der bedeutendste Autor der französischsprachigen Karibik. Er lebt in Martinique, Paris und New York und lehrt an der City University New York.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von Edouard Glissant