13.10.2006

Stolz auf den Beton

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Stolz auf den Beton

Vor einem Jahr brannten in den französischen Vorstädten die Autos. In der ganzen Welt sind Jugendliche zornig, lästig und laut – mit guten Gründen von Denis Duclos

Nachdem im Herbst letzten Jahres in französischen Vorstädten hunderte von Autos in Flammen aufgegangen waren, gab es allerlei vorschnelle Erklärungen und Schlussfolgerungen. Die Revolte habe etwas mit den ethnischen, kulturellen und religiösen Folgen von schlecht integrierten Immigranten zu tun, meinten die einen. Andere hielten sie für den Ausdruck zerrütteter Familienstrukturen und forderten moralische, pädagogische und disziplinarische Maßnahmen für die Jugendlichen und ihre Eltern. Für wieder andere waren die Gewaltausbrüche die Quittung dafür, dass die Jugendlichen in den sogenannten zones urbaines sensibles (ZUS, städtische Problemviertel) vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und zum Leben in tristen Betonstädten verurteilt sind.

Ein Vergleich mit ähnlichen Phänomenen in anderen Ländern macht allerdings einige französische Besonderheiten deutlich. So waren die Aufstände in den Banlieues weitgehend unberührt von ethnischen, kulturellen oder religiösen Gegensätzen, was auch erklärt, dass sie letztlich ziemlich glimpflich verliefen und nur wenige Verletzte forderten.

Aggressive städtische Aufstände, die religiösem Hass entspringen, fordern zuweilen tausende von Opfern, wie zum Beispiel 1992 in Bombay/Mumbai bei den Zusammenstößen von Muslimen und Hindus. Und auch Aufstände, bei denen in einem Stadtviertel verschiedene Nationalitäten oder Ethnien aneinandergeraten, können, wie bei den „urban riots“ in den USA der 1960er- und 1990er-Jahre, hunderte von Menschenleben kosten. Auch können alte Feindschaften immer wieder aufflammen und schweres Leid verursachen (wie in Palästina oder Nordirland1 ) oder sogar in einen Bürgerkrieg (wie im Beirut Ende der 1970er-Jahre) oder in einen Genozid münden (Ruanda 1994).

All diese Beispiele erinnern uns daran, dass auch solche Situationen gewaltträchtig sind, in denen die (oft minoritäre) „Problembevölkerung“ nicht ausländischer Herkunft ist, sondern eine seit Jahrhunderten „heimische“ Community darstellt. Das gilt etwa für die Schwarzen in den USA, die Muslime in Indien oder die Katholiken in Nordirland, die auch – von ihrer religiösen Orientierung abgesehen – ähnliche Lebensgewohnheiten wie ihre „Gegner“ pflegen.

Die meisten rebellischen Jugendlichen in Frankreich sind Kinder von Migranten. Doch bislang haben fundamentalistische Imame offensichtlich noch nicht versucht, jene potenziell egalitär und staatsfeindlich eingestellten Jugendlichen für sich zu gewinnen, die eher republikanische (oder gar anarchistische) Forderungen im Sinn haben, als dass sie nach religiöser Reinheit streben würden.

Die religiösen Autoritäten mögen noch so sehr ihr pazifistische Einstellung betonen: Wenn eine religiöse Gruppe erst einmal die Tendenz zu einer identitären Abspaltung entwickelt, ist dies weitaus gefährlicher – und auch viel nachhaltiger – als jedes Aufflammen jugendlicher Empörung. Die Regierenden und die Intellektuellen, die den Rückbezug auf einen klaren ethnisch-religiösen Rahmen propagieren, sind wie die Zauberlehrlinge, die das Klima religiöser und ethnischer Konfrontation schüren, das sich in Nordeuropa auszubreiten beginnt, am deutlichsten mit der „Islamophobie“ im flämischen Belgien, in den Niederlanden, in Dänemark und anderswo.

Für Frankreich wäre dies eine rückwärts gewandte Versuchung. Zumal es hier nicht mehr zu physischen Zusammenstößen zwischen Bevölkerungsgruppen kommt und auch reaktionäre, chauvinistische Gruppen kaum noch imstande sind, „Ausländer“ in ihren „Gettos“ zu provozieren – im Gegensatz zu Großbritannien, wo die rechtsradikale National Front 2001 in den nordenglischen Städten Bradford und Oldham noch Straßenschlachten provozieren konnte, in denen sich die Wut junger Pakistaner und Bangladescher austobte. Angesichts dessen stellt sich eine andere Frage: Wie ist es erklärbar, dass in einer weitgehend säkularen2 und offenen Gesellschaft wie der französischen, in der keine religiöse oder politische Gruppierung die Jugendlichen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe aufs Korn nimmt, unter diesen Jugendlichen eine derart explosive Wut entsteht?

Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Allein der Staat ist heute in der Lage, solche Zusammenstöße auszulösen oder einzudämmen. So hat sich in Frankreich gezeigt, dass die rechten Regierungen die Zeche für die Verbissenheit zu zahlen hatten, mit der sie alle – echten oder bloß symbolischen – Brandmauern zerstört haben, die ihre sozialistischen Vorgänger errichtet hatten, zum Beispiel die staatlich geförderten Arbeitsplätze für Jugendliche.

In einem solchen Land ist nur die Regierung in der Lage, die staatlichen Bediensteten feindselig oder aggressiv zu stimmen. Die politische Elite tut also das, was anderswo das gesunde Volksempfinden fordert, und darf sich dafür als Garant der öffentlichen Ordnung aufspielen (während sie tatsächlich doch die Unordnung schürt). Das ist ein gefährliches politisches Verhalten, bedeutet jedoch zugleich eine Art letztes Bollwerk, einen letzten Schutzwall (man denke an den Ausdruck „Berliner Mauer der Banlieues“) vor der notwendigen Einsicht, den anderen am Ende in seinem Anderssein anzuerkennen.

Was Paris mit London und Los Angeles gemeinsam hat

Nach der grundlegenden und stets wiederkehrenden Ursache der städtischen Revolten braucht man also nicht lange zu suchen: Sie liegt fast ausschließlich in der „Missachtung“ oder „Nichtanerkennung“ des Einzelnen, insbesondere des Jugendlichen, seitens der Repräsentanten des französischen Staates, die auf Gleichgültigkeit, Misstrauen, Überheblichkeit oder polizeiliche bzw. behördliche Schikanen zurückgeht, aber auch in den begrenzten Möglichkeiten, eine Arbeit oder auch nur sinnvolle Kontakte zu finden.

Darin zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit den Vereinigten Staaten: Hier brütet ein Klima institutioneller Verachtung zwangsläufig ein „auslösendes Ereignis“ aus: Ein Mitglied der angeblich „schwierigen“ Minderheit wird zu Unrecht verfolgt, verhaftet, verurteilt oder im Rahmen einer Polizeiaktion verprügelt oder verletzt. Das spricht sich unter Freunden und Bekannten rasch herum: Die Jüngeren reagieren mit einer – politisch eher inkorrekten – Kampfbereitschaft, die sich vor allem gegen Symbole staatlicher Autorität oder ökonomischer Macht richtet. Dabei entsteht häufig erheblicher Sachschaden, doch gibt es in der Regel kaum Schwerverletzte oder Tote, es sei denn die Polizei treibt die Einschüchterungstaktik auf die Spitze oder besteht darauf, „das letzte Wort“ zu haben.

Je stärker also der repressive Staat auf die – mehr oder weniger bewusste – Logik der Vergeltung setzt, desto mehr Tote wird es geben. Der französische Staat hat es bisher nicht zu massenhaften tödlichen Zusammenstößen kommen lassen. Aber in dem Maße, in dem er Erziehern, Sozialarbeitern, vor allem aber Polizei (oder Militär) gestattet, in Begriffen der „Kontrolle der Bevölkerung“ zu denken, werden sich Situationen häufen, in denen sich Jugendliche erniedrigt fühlen und aus denen dann zwangsläufig städtische Revolten entstehen. Eine Politik, die den schlimmsten Fall antizipieren und bestimmte Stadtteile mit bewaffneten Kräften besetzen würde, hätte den Bürgerkrieg zum Ergebnis, den sie gerade zu vermeiden vorgibt.

Anders als manche Soziologen glauben, erschwert das Prinzip einer administrativen Wohnungszuweisung, dass sich einzelne Stadtviertel zu ethnischen oder religiösen Gettos entwickeln. Der soziologische Effekt ist ein ethnischer Schmelztiegel, den man im Großbritannien der armen Weißen, die gegen die Pakistaner zu Felde ziehen, oder im Australien der „Anglokelten“, die den jungen Libanesen ihre Strände verbieten wollen, noch immer vergeblich sucht.3 Dasselbe gilt für die USA, wo nach wie vor eine starke ethnische Segregation herrscht und Ängste vor anderen Minderheiten geschürt werden.4

Die als „Los Angeles Riots“ bekannt gewordenen Aufstände von 1992 in South Central, einem armen Vorort von Los Angeles, entstanden zum Beispiel aus den ständigen Reibereien dreier ethnischer Communities (Latinos, Asiaten, Afroamerikaner)5 , die bis Ende der 1990er-Jahre für 300 Morde jährlich verantwortlich waren. Hinzu kommt, dass der rassistische Ausschluss der Armen aus den exklusiven Reichengettos (den „gated communities“6 ) einen Rassenhass verschärft, der in Frankreich noch so gut wie unbekannt ist.

Die Pariser Cités legen sich wie ein großer Festungsgürtel um die Stadt. Das erschwert zwar einerseits die polizeiliche Kontrolle, andererseits aber auch Provokationen durch Milizen und nationalistische Parteien – oder so etwas wie die heimtückischen Brandanschläge auf von Türken bewohnte Häuser in Deutschland.

Anders als in den illegalen Siedlungen vieler Stadtzentren, in denen viele illegale Migranten in erdrückendem Elend leben, wohnen in den Cités überwiegend ordnungsgemäß gemeldete Staatsbürger, die den Beweis ihrer minimalen wirtschaftlichen Tüchtigkeit erbringen mussten. Zwar liegt das Einkommen hier ein Drittel unter dem Landesdurchschnitts, und die Jugendarbeitslosigkeit ist zwei- bis dreimal höher als anderswo.7 Zwar bleibt vielen, die arbeiten wollen, nichts anderes übrig, als ohne Führerschein und mit einem unversicherten Auto zu weit entfernten Gelegenheitsjobs zu fahren. Aber dank Beihilfen, Zuschüssen und verschiedenster Initiativen – und dank der nicht nur dunklen Seiten der realen Schattenwirtschaft – braucht in den Banlieues immerhin niemand zu verhungern.

Die mancherorts dramatische Verwahrlosung der Vorstädte ist weder das unvermeidliche Resultat eines (realen) ökonomischen Problems noch bloße Folge kulturell geprägter Verhaltensweisen. Sie geht vielmehr im Wesentlichen auf einen ohnmächtigen Zorn zurück, den im Übrigen auch viele Jugendliche in Reihenhaussiedlungen empfinden. Was wieder auf das Problem der Anerkennung verweist. Das aber ist mit Begriffen wie „abweichendes Verhalten“, „Ungehorsam“ und erst recht „kulturelle Desintegration“ nicht zu erfassen, die im Gegenteil dazu beitragen, das Problem zu ignorieren.

Nun bringen kluge Köpfe neuerdings gern die „Unvereinbarkeit der Lebensweisen“ und das Phänomen der „Dekulturation“ ins Spiel, das angeblich aus der Verpflanzung besonders junger Menschen resultiere. Doch hier sei daran erinnert, dass die Freiheit, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Afrika zugebilligt wird, und die Ermunterung, sich mit Gleichaltrigen in Mädchen- oder Jungenbanden zusammenzuschließen, kein Zeichen für einen Zerfall der Familienstruktur ist. Vielmehr ermöglicht diese Freiheit das frühe Erproben eines Lebens außerhalb des familiären Kokons8 .

Dass es Anpassungsschwierigkeiten gibt, wenn an die Stelle der anheimelnden dörflichen Kontrolle das kalte Netz der gesellschaftlichen Überwachung im europäischen Großraum tritt, steht außer Frage. Aber im nächsten Gedankenschritt müsste uns die Anomie und die Einsamkeit, die unser eigenes, angeblich überlegenes System mit sich bringt, eigentlich stutzig machen.

Nicht selten werden die Banlieues wortreich als eine wahre Hölle beschrieben, in der man nichts als geistige und seelische Zerrüttung erfahren könne. Doch dies ist nur ein Ausschnitt der Realität, und mit der Selbstwahrnehmung der Leute hat es noch weniger zu tun.

Viele dieser Beschreibungen sind abwertende Behauptungen, mit denen die wohlhabenden, bildungsbürgerlichen Klassen sich die einfache Bevölkerung und ihre Behausungen möglichst vom Leibe halten. Das Leben in den Vorstädten erscheint aus diesem Blickwinkel nicht nur als hart, sondern mehr noch als bedrückend, niederschmetternd, in grauenvollen Verhältnissen erstarrt, ja vom Terror der Nachbarn bestimmt. Dabei ist doch der Stadtteil oft das Einzige, was dessen junge Bewohner ungeteilt besitzen, um über ihn zu klagen und zu lachen, um ihn zu verteidigen oder ein wenig Handel zu treiben. Natürlich träumen die jungen Leute davon, von hier wegzukommen. Die Rap-Romantik erzählt von diesem oft enttäuschten Traum, doch sie bringt auch die in diesem Milieu entstandene Solidarität zum Ausdruck. Die Hoffnung, die Banlieues für immer hinter sich zu verlassen, verträgt sich durchaus mit dem „Stolz auf den Beton“.

Unbändige Vitalität empört die Spießer

Obwohl die ethnische Segregation in den USA viel ausgeprägter ist als in Frankreich, sei hier doch darauf hingewiesen, dass sie häufig auch übertrieben dargestellt wird. Heute kann man in Watts, einem Viertel von Los Angeles, in dem man angeblich bei jedem Spaziergang riskiert, ermordet zu werden, ziemlich normal leben und seine Kinder zur Schule schicken.

Die Verachtung, mit der über die Banlieues geredet wird, hat die Solidarität unter den Jugendlichen auf den Zusammenhalt der Banden reduziert und sie letzten Endes zersetzt. Die Zügellosigkeit, mit der die Banden ihr Unwesen treiben, mag unerträglich sein. Aber wir sollten alltägliche Rebellion und die schlichte explosive Energie der jungen Generation besser auseinanderhalten. Die Lebensfreude der jungen Leute mag sich relativ lautstark äußern, aber in manchem Bürgerhaushalt in den „Versailler Banlieues“, wo sieben oder acht Kinder um eine erschöpfte katholische „Bonne“ herumtollen, wird es heutzutage kaum leiser zugehen.

Auch darf es als durchaus normal gelten, dass die Jungen anders als die Erwachsenen nicht über ihre Arbeit nachdenken, die im Übrigen auch mit der Frage des „Respekts“ und der Aufnahme in der Gesellschaft zusammenhängt. Manchmal provoziert jedoch schon diese Lebensfreude (polizeipsychologisch: „Hypertonie“ oder „Hemmungslosigkeit“) die institutionelle Repression und die Empörung der Spießer – und setzt somit unausweichlich den Mechanismus des Hasses in Gang.9

Im Grunde regen sich bestimmte Intellektuelle freilich nur darüber auf, dass aus dieser unbändigen und manchmal tödlichen Vitalität eine starke Kultur hervorgegangen ist, die offenbar ansteckender wirkt als ihre eigene, vermeintliche Hochkultur. Sie bedauern weniger die mangelnde Integration oder die Orientierungslosigkeit als vielmehr die Tatsache, dass begeisterte Jugendliche und irgendwelche Medienleute dem in den Banlieues entstandenen Hiphop zu einem dauerhaften Phänomen und zu einem integrierenden Element gemacht haben.

Natürlich gibt es, wie bei jeder anderen Musikrichtung, guten und schlechten Rap. Unbestritten ist jedoch auch, dass einige Rapsongs sowohl in ihrer politisch-philosophischen Analyse als auch in ihrer poetischen Kraft die fade gewordene Hochkultur längst in den Schatten stellen.

Dass Vorortjugendliche nicht das gepflegte Französisch sprechen wie die Studiogäste von „France Culture“, ist keine Nachricht wert. Kultur ist kein unumstößlicher Kodex, sie kann in bestimmten Situationen wieder frisch erblühen oder auch ganz neu entstehen. In der Geschichte des Sklavenhandels waren es vor allem die Kinder, die nach der Ankunft auf den Antillen die kreolische Sprache und ihre Kultur geschaffen haben, und zwar aus Bruchstücken und aufgenötigten Vermischungen, aus von den Weißen aufgeschnappten Wörtern.10 Dabei hatten die Weißen sie mehr angebellt, als je mit ihnen geredet, und ihnen zugleich verboten, die Sprache ihrer Eltern zu sprechen.

Von einer solchen Situation kann in Frankreich wahrlich keine Rede sein: Die republikanische Schule ist nach wie vor unangefochten, die Medien lullen alle Franzosen gleichermaßen ein, und technologisch sind die Jugendlichen aus den Banlieues immerhin so weit, dass Polizisten, die kampfbereite Gruppen aufspüren sollten, zuweilen ganz schön ins Hintertreffen gerieten.

Rebellion als Teil einer dynamischen Kultur

Wir sollten also weder Erwachsene noch Kinder und Jugendliche verachten, die – aus ihrer Situation heraus und manchmal gegen innere Widerstände – einen dynamischen Teil der französischen Kultur hervorbringen. Dann werden wir in den rebellischen Jugendlichen vom Herbst 2005 die Protagonisten einer „Integrationskrise“ sehen, die junge Franzosen aus einfachen Verhältnissen nun einmal durchlaufen. Einer Krise im Sinne einer Adoleszenzkrise, eines initiatorischen Augenblicks. Was uns wie „die französische Ausnahme“ und wie eine große Krise im Verhältnis zu den Jugendlichen erscheint, wird uns dann wie die Krise eines Avantgarde-Laboratoriums vorkommen, die einen Ausweg hervorbringen kann, der zu einer neuen gesellschaftlichen Solidarität führt.

Eine echte Integrationspolitik – das einzig wirksame Mittel, um schnellen, nachhaltigen Eindruck auf die Pariser Straßenjungs zu machen, die mit Polizisten und Feuerwehrleuten Robin Hood spielen – wird nur erfolgreich sein, wenn sie zwei Voraussetzungen erfüllt. Erstens muss sie jede Form von Paternalismus oder hirnloser Herablassung oder Verachtung vermeiden und anerkennen, dass der andere einen Anspruch darauf hat, sich in einer zunehmend uniformen Welt seinen Platz zu suchen. Genau das erwarten wir schließlich auch, wenn wir in Scharen auswandern, um in Marokko oder Tunesien oder in der Türkei zu leben, damit wir mehr von unserer Rente haben.

Die zweite Voraussetzung ist viel allgemeiner: Man kann nicht verlangen, dass die republikanische Schule allseits anerkannt und hoch geschätzt wird, dabei aber gleichzeitig miserable Löhne und Gehälter zahlen und allenthalben Arbeitsbedingungen schaffen, wie sie in den „Sweatshops der Welt“ herrschen. Denn dorthin hat sich die auf Sklavenarbeit angewiesene Ausbeutung bereits weitgehend verlagert.

Einer unserer klugen alten Männer hat es so ausgedrückt: „Man muss die jungen Leute beschäftigen. Man muss ihnen Jobs geben, die was einbringen. Und eines Tages werden sie nett und sympathisch sein!“11

Fußnoten: 1 Den Mechanismus, der von der militärisch-politischen Provokation zum Massaker führen kann, analysiert der irische Film „Bloody Sunday“ von Paul Greengrass. 2 Eine Erhebung des Pew Research Center in Washington ergab, dass 65 Prozent der Franzosen eine positive Meinung über Muslime haben, von den Deutschen sind es nur 36 Prozent; http://pewglo bal.org/pdf/252.pdf. 3 Siehe die Arbeiten von Loic Wacquant, insbesondere die vergleichende Studie über ein Getto von Chicago (Woodlawn) und La Courneuve, in: „Urban Outcasts, Color, Class and Place in two advanced societies“ (1994). Siehe auch ders.: „Parias urbains, Ghettos, Banlieues, Etat“, Paris 2006. 4 Julia Nevarez, „Vivre aux confins de Central Park et de Harlem à New York“, Annales de la Recherche Urbaine, Nr. 83–94, 1999, S. 148–154. 5 Cyntia Ghorra-Gobin, „South Central = Watts? De la rivalité entre anciennes minorités et nouveaux immigrés“, Hérodote, Nr. 85, 1997, S. 143–159. 6 Klaus Frantz, „Gated Communities in the USA: A New Trend in Urban Development“, Espaces, populations, sociétés, Nr. 1, 2000, S. 101–113. 7 Observatoire des inégalités, „Chômage: le diplôme protège moins dans les quartiers sensibles“, 16. März 2005 (Insee, enquête emploi 2003). 8 Siehe insbesondere den Beitrag von Régis Airault über die „Bangas“ auf Mayotte und den Komoren, in: Catherine Bergeret-Amselek (Hg.), „De l’âge de la raison à l’adolescence: quelles turbulences à découvrir?“, Paris (Erès) 2005. 9 Zur entsprechenden Situation in den USA siehe: Daniel Romer, „Blame discourse“, Political Communication, Bd. 14, 1997, S. 273–291. 10 Siehe Kapitel XIII, „Les langues créole“, in: Jean Marie Hombert (Hg.), „Aux origines des langues et du langage“, Paris 2005. 11 Roland de la Poype (prominentes Mitglied der Flugzeugstaffel Normandie-Niemen) in einem Interview mit Libération, 3. Juli 2006. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer Denis Duclos ist Soziologe, Forschungsleiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Paris, und Autor unter anderem von „La Fascination de la violence dans la culture américaine“, Paris (La Découverte) 2005 (Neuauflage mit neuem Nachwort). Le Monde diplomatique beteiligt sich am internationalen Zeitschriftenprojekt der Documenta 12: www.documenta12.de.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2006, von Denis Duclos